VwGH 2011/23/0176

VwGH2011/23/017629.3.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde des A, vertreten durch die Galanda & Oberkofler Rechtsanwaltskanzlei in 1120 Wien, Arndtstraße 87/12, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 4. September 2009, Zl. E1/341992/2009, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2 Z8;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2 Z8;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein nigerianischer Staatsangehöriger, reiste am 20. November 2002 nach Österreich ein. Sein am darauffolgenden Tag gestellter Asylantrag wurde in zweiter Instanz mit Bescheid vom 2. Juni 2009 rechtskräftig abgewiesen, ebenso wurde die Zulässigkeit seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria festgestellt.

Mit Urteil des Bezirksgerichtes für Strafsachen Graz vom 12. Jänner 2004 wurde der Beschwerdeführer wegen Urkundenunterdrückung und des Gebrauches eines fremden Ausweises nach §§ 229 Abs. 1 und 231 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von zwei Monaten verurteilt. Er hatte eine nicht auf ihn ausgestellte Geburtsurkunde unterdrückt und sich am 16. August 2003 im Zuge einer bei der Grenzkontrollstelle am Flughafen Graz durchgeführten Passkontrolle mit einem nicht für ihn ausgestellten Reisepass ausgewiesen.

Mit Urteil des Bezirksgerichtes Hernals vom 15. November 2005 wurde der Beschwerdeführer wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Urkundenunterdrückung nach §§ 83 Abs. 1, 125 und 229 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Monaten verurteilt. Er hatte am 23. Juli 2004 in einer Wohnung in Wien einer weiblichen Person mit den Scherben einer von ihm zerbrochenen Vase Schnittwunden zugefügt und den Reisepass des Tatopfers zerrissen.

Verwaltungsstrafrechtlich weist der Beschwerdeführer zwei Vormerkungen der Bundespolizeidirektion Wien nach Art. IX Abs. 1 Z 2 EGVG (Verschaffung der Beförderung durch eine dem öffentlichen Verkehr dienende Einrichtung, ohne das dafür festgesetzte Entgelt ordnungsgemäß zu entrichten) aus dem Jahr 2005 und eine Vormerkung nach dem Kraftfahrgesetz 1967 aus dem Jahr 2008 auf.

Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 30. Juni 2009 wurde der Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ausgewiesen.

In seiner dagegen erhobenen Berufung brachte der Beschwerdeführer unter anderem vor, er sei in die österreichische Gesellschaft integriert und lebe hier mit seiner Lebensgefährtin und einem gemeinsamen, am 8. Februar 2006 geborenen Kind in einem Haushalt. Im September 2009 erwarte seine Lebensgefährtin das zweite gemeinsame Kind.

Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 4. September 2009 wurde der Berufung keine Folge gegeben. Begründend führte die belangte Behörde nach Zitierung des § 53 Abs. 1 FPG zunächst aus, dass sich der Beschwerdeführer nach dem rechtskräftigen Abschluss seines Asylverfahrens seit ca. drei Monaten unrechtmäßig in Österreich aufhalte.

Im Rahmen der gemäß § 66 FPG durchzuführenden Interessenabwägung legte die belangte Behörde dar, dass der fast siebenjährige Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet nur auf einer vorläufigen Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz beruht habe und seit drei Monaten unrechtmäßig sei. Es bestehe ein maßgebliches Familienleben des Beschwerdeführers in Österreich, doch sei dieses zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem sich der Beschwerdeführer und seine Lebensgefährtin, eine Asylwerberin, des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst hätten sein müssen. Eine strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers liege nicht vor. Die gerichtlichen Vorstrafen würden sogar die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß § 60 Abs. 1 und 2 Z 1 FPG rechtfertigen. Der Beschwerdeführer weise auch einige Vormerkungen wegen Verwaltungsübertretungen auf. Ferner liege keine berufliche Integration vor. Bindungen zum Heimatstaat dürften insoweit bestehen, als dort nach den im Asylverfahren getätigten Angaben des Beschwerdeführers zwei Söhne und eine Schwester lebten.

Auch unter Berücksichtigung seines in Österreich lebenden dreijährigen Kindes sowie des noch ungeborenen zweiten Kindes falle die vorzunehmende Abwägung zum Nachteil des Beschwerdeführers aus. Die Beeinträchtigung des hoch zu veranschlagenden maßgeblichen öffentlichen Interesses an der Wahrung eines geordneten Fremden- und Aufenthaltswesens sei unter Berücksichtigung aller genannten Umstände von solchem Gewicht, dass die gegenläufigen privaten (vor allem familiären) Interessen jedenfalls nicht höher zu bewerten seien als das Interesse der Allgemeinheit an der Ausreise des Beschwerdeführers aus dem Bundesgebiet.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei um die im September 2009 geltende Fassung des genannten Gesetzes.

Gemäß § 53 Abs. 1 FPG können Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten.

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass sein Asylverfahren rechtskräftig negativ beendet wurde. Da er unstrittig über keinen Aufenthaltstitel verfügt, ist die belangte Behörde zutreffend von der Erfüllung des Ausweisungstatbestandes des § 53 Abs. 1 FPG ausgegangen.

Die Beschwerde bekämpft die von der belangten Behörde gemäß § 66 FPG vorgenommene Interessenabwägung und verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf nachhaltige familiäre Bindungen des Beschwerdeführers, der im Bundesgebiet mit seiner Lebensgefährtin und der gemeinsamen Tochter lebe. In der Zwischenzeit sei auch das zweite gemeinsame Kind auf die Welt gekommen. Mit Ausnahme einer Vormerkung aus dem Jahr 2008 datierten die im angefochtenen Bescheid erwähnten strafgerichtlichen Verurteilungen und rechtskräftigen Vormerkungen der Bundespolizeidirektion Wien aus den Jahren 2004 und 2005. Auf Grund seines seitherigen Wohlverhaltens sei ersichtlich, dass der Beschwerdeführer einen Gesinnungswandel vollzogen habe und sich nunmehr normgetreu verhalte. Er habe sich um seine Integration in Österreich bemüht, wie an Hand eines von ihm absolvierten Deutschkurses ersichtlich sei.

Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 66 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Bei einer Entscheidung über eine Ausweisung ist der Behörde Ermessen eingeräumt (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 30. August 2011, Zl. 2009/21/0197, mwN).

Die belangte Behörde hat zutreffend erkannt, dass der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der geordneten Abwicklung des Fremdenwesens (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zukommt. Gegen diese Normen verstoßen Fremde, die - wie der Beschwerdeführer - nach dem negativen Abschluss ihres Asylverfahrens in Österreich unrechtmäßig verbleiben. Es ist der belangten Behörde allerdings vorzuwerfen, dass sie bei der Bewertung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen und des entgegenstehenden Interesses des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich nicht ausreichend auf seine familiäre Situation Bedacht genommen hat, was in der Beschwerde zutreffend geltend gemacht wird.

Es entspricht zwar der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich in seinem Gewicht gemindert ist, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (vgl. § 66 Abs. 2 Z. 8 FPG). Die genannte Bestimmung hat freilich vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während eines unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte (vgl. das bereits zitierte Erkenntnis, Zl. 2009/21/0197, mwN).

Vor diesem Hintergrund hätte die belangte Behörde nicht unberücksichtigt lassen dürfen, dass das Asylverfahren der ebenfalls aus Nigeria stammenden Lebensgefährtin des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides noch nicht rechtskräftig beendet war. In diesem Stadium war ihr eine Rückreise mit dem gemeinsamen, im Jahr 2006 geborenen Kind und dem erwarteten, in der Zwischenzeit ebenfalls geborenen zweiten gemeinsamen Kind in ihr Herkunftsland nicht zumutbar (vgl. dazu erneut das hg. Erkenntnis, Zl. 2009/21/0197). Auf diesen Umstand geht der angefochtene Bescheid nicht ein. Feststellungen, wonach auch für einen Asylwerber ausnahmsweise die Rückreise in den Herkunftsstaat zumutbar sein könnte, hat die belangte Behörde nicht getroffen. Sie bleibt angesichts der besonderen familiären Situation eine ausreichende Begründung dafür schuldig, weshalb sie die verfügte Ausweisung des Beschwerdeführers und die damit verbundene Trennung des Beschwerdeführers von seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen Kindern unmittelbar nach der Geburt des zweiten Kindes für dringend geboten erachtete und mit der Ausweisung des Beschwerdeführers nicht zuwartete, bis feststeht, dass die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auch gegen seine Lebensgefährtin und die beiden Kinder zulässig und ihnen eine gemeinsame Ausreise zumutbar ist.

Ohne nähere Begründung lässt sich das Erfordernis einer derartigen Trennung auch nicht aus dem Umstand ableiten, dass der Beschwerdeführer zwei strafgerichtliche Verurteilungen zu relativ geringen bedingten Freiheitsstrafen, deren zugrunde liegende Fehlverhalten im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides allerdings bereits mehr als sechs bzw. mehr als fünf Jahre zurücklagen, sowie die erwähnten verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen, die mit Ausnahme einer Vormerkung ebenfalls bereits ca. vier Jahre zurücklagen, aufweist (vgl. dazu auch das hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2011, Zl. 2008/21/0615, mwN).

Da nicht auszuschließen ist, dass die belangte Behörde bei Berücksichtigung der dargelegten Aspekte zu einem anderen Ergebnis ihrer Interessenabwägung gelangt wäre, war der angefochtene Bescheid infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 29. März 2012

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