VwGH 2010/22/0128

VwGH2010/22/012823.5.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des P, vertreten durch Dr. Reinhard Langner, Rechtsanwalt in 1140 Wien, Hütteldorferstraße 124, gegen die Bundesministerin für Inneres, wegen Verletzung der Entscheidungspflicht in einer Angelegenheit eines Aufenthaltstitels, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §66 Abs4;
B-VG Art132;
EMRK Art8;
NAG 2005 §41a Abs9 idF 2011/I/038;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §47 Abs1;
NAG 2005 §47 Abs2;
NAG 2005 §8 Abs1 Z2 idF 2011/I/038;
NAG 2005 §8 Abs1 Z2;
StGB §223 Abs2;
StGB §293 Abs2;
VwGG §42 Abs4;
AVG §66 Abs4;
B-VG Art132;
EMRK Art8;
NAG 2005 §41a Abs9 idF 2011/I/038;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §47 Abs1;
NAG 2005 §47 Abs2;
NAG 2005 §8 Abs1 Z2 idF 2011/I/038;
NAG 2005 §8 Abs1 Z2;
StGB §223 Abs2;
StGB §293 Abs2;
VwGG §42 Abs4;

 

Spruch:

Der Berufung des Beschwerdeführers vom 10. März 2008 gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 27. Februar 2008, Zl. MA35-9/2751844-01-7, wird Folge gegeben, der angefochtene Bescheid gemäß § 66 Abs. 4 AVG behoben und dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 9 iVm § 8 Abs. 1 Z 2 NAG für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 773,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom 27. Februar 2008 wies der Landeshauptmann von Wien den auf § 49 Abs. 1 Fremdengesetz 1997 gestützten Antrag des Beschwerdeführers, eines liberianischen Staatsangehörigen, vom 13. Dezember 1999 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als begünstigter Drittstaatsangehöriger, der als Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" gewertet wurde, gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) wegen unzulässiger Inlandsantragstellung ab.

Mit Bescheid vom 17. Juli 2008, Zl. 148.812/3-III/4/08, gab die Bundesministerin für Inneres der Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid keine Folge und stellte u.a. fest, dass der Beschwerdeführer seit fünf Jahren einer Beschäftigung nachgehe.

Mit Erkenntnis vom 10. Dezember 2009, B 1548/08, hob der Verfassungsgerichtshof den Bescheid vom 17. Juli 2008 wegen Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander auf.

Einen Ersatzbescheid hat die belangte Behörde nicht erlassen.

Über Aufforderung der Bundesministerin für Inneres vom 17. Dezember 2010 erstattete der Beschwerdeführer eine mit 25. Jänner 2011 datierte und am 27. Jänner 2011 eingelangte Stellungnahme. In dieser führte er aus, es sei richtig, dass inzwischen im Mai 2009 seine Ehe mit der österreichischen Staatsbürgerin P D geschieden worden sei. Weiters bezog sich der Beschwerdeführer auf Gründe nach Art. 8 EMRK und meinte abschließend, dass sich an seinem Anspruch auf Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels durch die "bedauerlicherweise danach inzwischen vollzogene Ehescheidung an meiner familiären Bindung jedenfalls gegenüber meinen Kindern absolut nichts geändert" habe.

In einer weiteren Stellungnahme vom 7. Mai 2012 brachte der Beschwerdeführer ergänzend vor, dass er gegenüber seinen - die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden - Kindern unterhaltspflichtig sei, mittlerweile seit nahezu 16 Jahren in Österreich lebe und ihm zumindest aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht zu erteilen gewesen wäre. "Vorsichtsweise" werde das Begehren auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gestützt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Eingangs ist anzumerken, dass kein Grund ersichtlich ist, der die belangte Behörde gehindert hätte, über die vorliegende Berufung mit Ersatzbescheid zu entscheiden. Demzufolge hat die belangte Behörde die sie treffende Entscheidungspflicht verletzt und es war über die vorliegende Säumnisbeschwerde gemäß § 42 Abs. 4 VwGG durch Erkenntnis in der Sache selbst zu entscheiden. Rechtsgrundlage ist das NAG idF BGBl. I Nr. 38/2011.

Gemäß § 47 Abs. 2 NAG kann ein Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" unter weiteren Voraussetzungen nur denjenigen Drittstaatsangehörigen erteilt werden, die Familienangehörige von Zusammenführenden sind. Zusammenführende sind im Sinn des § 47 Abs. 1 NAG Österreicher oder EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund der Freizügigkeitsabkommen EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben.

Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG war der Beschwerdeführer jedoch nur als Ehepartner seiner österreichischen Ehefrau. Diese Eigenschaft ist mit der Scheidung weggefallen. Aus diesem Grund kommt die Erteilung des Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" nicht in Betracht.

§ 41a NAG lautet im Abs. 9:

"Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen (§ 44a) oder auf begründeten Antrag (§ 44b), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zu erteilen, wenn

1. kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt,

2. dies gemäß § 11 Abs. 3 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

3. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§ 14a) erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine Erwerbstätigkeit ausübt."

Der Beschwerdeführer ist am 11. August 1996 unrechtmäßig eingereist und hat einen Asylantrag gestellt. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesasylamts vom 28. August 1996 rechtskräftig abgewiesen.

Der Beschwerdeführer heiratete am 29. November 1999 eine österreichische Staatsbürgerin. Am 1. Oktober 2000 und 28. September 2002 wurden eheliche Kinder geboren, die die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Die Ehe wurde im Mai 2009 geschieden.

Um seine liberianische Identität nachzuweisen, legte der Beschwerdeführer den österreichischen Behörden Schriftstücke vor, die sich als gefälscht erwiesen. Am 22. November 2000 wurde der Beschwerdeführer wegen Fälschung eines Beweismittels (§ 293 Abs. 2 StGB) und Urkundenfälschung (§ 223 Abs. 2 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Wochen rechtskräftig verurteilt. Diese Verurteilung ist mittlerweile getilgt.

Vor dieser Verurteilung wurde über den Beschwerdeführer mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 27. Juni 2000 ein auf fünf Jahre befristetes Aufenthaltsverbot verhängt. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid der Sicherheitsdirektion Wien vom 4. Mai 2001 keine Folge gegeben. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 15. November 2005, 2005/18/0277, wurde - nach Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens - der dagegen eingebrachten Beschwerde stattgegeben und der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben. Mit in der Folge ergangenem Ersatzbescheid vom 20. Jänner 2006 wurde der Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 27. Juni 2000 behoben und die Angelegenheit an die erste Instanz zurückverwiesen.

Mit zweitinstanzlichem Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 17. November 2008 wurde der Beschwerdeführer (neuerlich) ausgewiesen, nachdem ein erster Ausweisungsbescheid mit 1. Oktober 1996 ergangen ist.

Mit Erkenntnis vom 16. Dezember 2009, B 19/09, hob der Verfassungsgerichtshof den Ausweisungsbescheid vom 17. November 2008 wegen Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK mit der Begründung auf, dass sich die von der Behörde vorgenommene Abwägung iSd Art. 8 EMRK als fehlerhaft erweise.

Diese Feststellungen gründen sich auf den unbestrittenen Akteninhalt und die zitierten Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs.

In rechtlicher Hinsicht schließt sich der Verwaltungsgerichtshof der Auffassung des Verfassungsgerichtshofs im genannten Erkenntnis vom 16. Dezember 2009 an, dass der Umstand, dass die familiären Bindungen zu einem Zeitpunkt entstanden sind, in dem der Beschwerdeführer nicht mit einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet rechnen durfte, insofern an Gewicht verliert, als die inzwischen über zwölfjährige Dauer des Verfahrens zur Erlangung eines Aufenthaltstitels, währenddessen sich die familiären Bindungen verdichteten, nicht dem Beschwerdeführer zur Last zu legen ist.

Angesichts der sehr langen Dauer des inländischen Aufenthaltes des Beschwerdeführers, seiner jahrelangen Beschäftigung und seiner im Inland lebenden österreichischen Kinder, ist der Verwaltungsgerichtshof nach Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK der Ansicht, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens in Österreich geboten ist, auch wenn die Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin nicht mehr aufrecht ist. Daran vermag das sehr lange zurückliegende strafrechtliche Fehlverhalten nichts zu ändern.

Demgemäß war der Berufung Folge zu geben und dem Beschwerdeführer - für ein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG liegen keine Anhaltspunkte vor und die Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung wurde durch die Vorlage eines "A2-Zeugnisses" nachgewiesen - eine "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 9 NAG zu erteilen.

Der Kostenausspruch beruht - im begehrten Umfang - auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 23. Mai 2012

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