VwGH 2010/21/0238

VwGH2010/21/02385.7.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des H, zuletzt in W, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 5. Juli 2010, Zl. Senat-FR-10-1027, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs2a Z5;
FrPolG 2005 §76 Abs2a;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §76 Abs2a Z5;
FrPolG 2005 §76 Abs2a;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der gemäß seinen Angaben unmittelbar davor nach Österreich eingereiste Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Algerien, stellte am 14. Oktober 2009 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit - unbekämpft gebliebenem - Bescheid des Bundesasylamtes vom 21. Oktober 2009 abgewiesen; außerdem wurde der Beschwerdeführer nach Algerien ausgewiesen.

Am 14. Juni 2010 stellte der Beschwerdeführer neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 28. Juni 2010 wurde er daraufhin in der Erstaufnahmestelle-Ost festgenommen und der Bezirkshauptmannschaft Baden (BH) vorgeführt. Die Niederschrift über die dann dort erfolgte Einvernahme hat - auszugsweise - folgenden Inhalt:

"Frage: Wo haben Sie während ihres bisherigen Aufenthaltes in Österreich gewohnt?

Antwort: Ich wohnte bei verschiedenen Freunden … und in der

letzten Zeit bei meiner Freundin.

Frage: Wie lautet ihre aktuelle Adresse?

Antwort: Ich weiß es nicht - es ist im 15. Bezirk in der Nähe von

Schönbrunn.

Frage: Warum können sie die Adresse nicht sagen?

Antwort: Die Sprache ist schwer für mich.

Frage: Wie heißt ihre Freundin?

Antwort: Sie heißt Sandra D.

Frage: Wann ist sie geboren?

Antwort: Das weiß ich nicht.

Frage: Was macht sie beruflich?

Antwort: Sie arbeitet am Reumannplatz in einer Buchhandlung.

Frage: Sie können den Reumannplatz benennen und die

Wohnadresse nicht?

Antwort: Ich habe einen Deutschkurs besucht und daher kann ich die

Adresse dort benennen.

Frage: Sie besuchen einen Deutschkurs und können trotzdem

ihre Wohnadresse nicht benennen?

Antwort: Ich kann sie nicht benennen,

Frage: Welche Hausnummer haben sie, welche Türnummer haben sie?

Antwort: Wohnung Nr. 11 aber die Hausnummer kenne ich auch nicht."

In der Folge verhängte die BH mit Bescheid vom 28. Juni 2010

Schubhaft, um das Verfahren zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 und um die Abschiebung des Beschwerdeführers zu sichern. Dabei stützte sie sich insbesondere auf § 76 Abs. 2a Z 5 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG. Dazu stellte die BH fest, dass das Bundesasylamt gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 den faktischen Abschiebeschutz aufgehoben habe. Es sei beabsichtigt, den Beschwerdeführer sofort abzuschieben. Dieser sei in Österreich "in keinster Weise" sozial integriert; er habe keine Wohnung und auch kein Einkommen in Österreich, ebenso wenig nahe Familienangehörige. Erschwerend komme hinzu, dass er mehrfach falsche Angaben gemacht habe. Abgesehen davon, dass er nicht in der Lage gewesen sei, seine Adresse in Wien zu nennen, gehe die BH auch davon aus, dass der Beschwerdeführer tatsächlich nicht an seiner Meldeadresse lebe. Er sei dort unbekannt und habe auch von der Polizei nicht gefunden werden können; auf Vorladungen der Polizei habe er nicht reagiert. Außerdem habe er sich geweigert, der Behörde seinen Pass zu übergeben und laufend widersprüchliche Angaben gemacht, wo sich sein Pass befinde. Der Beschwerdeführer tue das, um nicht abgeschoben zu werden. Zusammenfassend sei davon auszugehen, dass seine Meldeadresse in Wien eine Scheinmeldung darstelle und dass er seinen Pass verberge, um nicht abgeschoben werden zu können.

Am 29. Juni 2010 erhob der Beschwerdeführer Schubhaftbeschwerde. Darin brachte er u.a. vor:

"a) … Um nicht nach Algerien rückkehren zu müssen, habe ich am 14.6.2010 einen Asyl-Folgeantrag gestellt.

b) Mit Ladungsbescheid vom 18.6.2010 hat mich das Bundesasylamt für den 28.6.2010 vorgeladen. Dieser Bescheid wurde in Folge durch die Polizei an meiner Wohnung in 1150 Wien, J.gasse 31/11 zuzustellen versucht. Am Donnerstag, den 24.10.2010 (gemeint wohl: 24.6.2010), hinterließen die Polizisten einen Verständigungszettel, mit welchem der Wohnungsinhaber eingeladen wurde bei der Polizeiinspektion vorzusprechen. Meine Lebensgefährtin, Frau Sandra D., geb. …, telefonierte daraufhin am 25.10.2010 (gemeint wohl: 25.6.2010) mit der Polizeiinspektion Sechshauser Straße und suchte sie am Sonntag, 27.6.2010, die genannte Polizeiinspektion auf, weil ihr telefonisch nicht Auskunft gegeben wurde. Anlässlich der Vorsprache wurde ihr mitgeteilt, dass an mich eine Ladung des Bundesasylamtes für den 28.6.2010 zuzustellen ist. Da die Lebensgefährtin aber wusste, dass ich ohnehin bereits von meinem Vertreter über den Ladungstermin informiert worden war und auch, dass ich vor hatte, am 28.6.2010 früh morgens nach Traiskirchen zu fahren, schloss sie daraus, dass ich nicht mehr in der Polizeiinspektion vorsprechen müsse. Meine Lebensgefährtin teilte der Polizei aber auch noch mit, dass ich tatsächlich mit ihr an der obgenannten Anschrift wohne.

c) Am 28.6.2010 kam ich dann pünktlich dem Ladungstermin am Bundesasylamt nach. Anlässlich meiner Einvernahme dort wurde ich (zu Unrecht) mit einem Bericht der Polizei konfrontiert, wonach ich an o.a. Anschrift nicht wohnhaft wäre: 'Weiters wurde dem BAA durch die Polizeiinspektion Sechshauser Straße ein Bericht übermittelt, demzufolge Sie an der von Ihnen angegebenen Adresse (J.gasse 31/11) nicht angetroffen wurden und Sie dort auch nicht bekannt seien!'. Auch deshalb (bzw auch mit dieser Begründung) hat das Bundesasylamt nach der Einvernahme den faktischen Abschiebeschutz aberkannt."

Der Beschwerdeführer führte weiter aus, es treffe nicht zu, dass er über keine sozialen Kontakte in Österreich verfüge. Der Fremdenpolizeibehörde "sollte auch bekannt sein", dass eine Heirat mit seiner Lebensgefährtin beabsichtigt sei. Schon jetzt werde er von dieser versorgt und sei daher nicht mittellos. Die Eheschließung sei am 15. Juni 2010 am Standesamt-Hietzing angemeldet worden und es werde (nur) noch das Einlangen des Ehefähigkeitszeugnisses betreffend die Lebensgefährtin aus Deutschland abgewartet. Diese Lebensgefährtin besitze die deutsche Staatsangehörigkeit und sei seit Jahren in Österreich niedergelassen, sodass er (Beschwerdeführer) mit der Eheschließung in Österreich ein Niederlassungsrecht und auch ein Recht zur Arbeitsaufnahme erwerben werde.

Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 5. Juli 2010 gab der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (die belangte Behörde) der Administrativbeschwerde gemäß § 67c Abs. 3 AVG iVm § 83 FPG keine Folge. "Gemäß § 83 Abs. 1 FPG i.V.m. Abs. 2 leg. cit." werde festgestellt, "dass die für die Verhängung der Schubhaft gesetzlichen Voraussetzungen" bezüglich des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der bescheidmäßigen Anordnung der Schubhaft am 28. Juni 2010 vorgelegen hätten und weiterhin vorliegen würden.

Die belangte Behörde führte insbesondere (sprachliche Fehler im Original) aus:

"Das erstmalige Vorbringen der bevorstehenden Heirat ist unter Bedachtnahme auf die auch im Verfahren geltenden Beweisgrundsätze als Rechtfertigung insoweit zu verwerfen, da es klar auf der Hand liegt, dass dieses erstmalige Behaupten, eine Ehe eingehen zu wollen, offenbar ausschließlich von der Intention getragen wird, um einer Abschiebung nach Algerien zu entgehen bzw. seinen bisher illegalen Aufenthalt in Österreich durch das Eingehen einer offenbaren Scheinehe legalisieren zu wollen.

Dem UVS NÖ ist bewusst, dass diese Annahme möglicherweise von Manchen als überzogen gewertet werden könnte, wird dazu im Näheren hinsichtlich der Schlussfolgerungen ausgeführt wie folgt:

(Beschwerdeführer) hat im gesamten Verfahren vor der BH Baden, insbesondere in der Niederschrift vom 28.06.2010, in keinster Weise auch nur irgendeine Andeutung gemacht, seine deutsche Freundin heiraten zu wollen.

Die Anmeldung bei seiner angeblichen zukünftigen Ehegattin erfolgte erst zu einem Zeitpunkt, als er einen neuen Asylantrag stellen wollte, offenbar am 09.06.2010. (Beschwerdeführer) weiß weder die genaue Wohnadresse seiner Freundin, noch weiß er ihren korrekten Nachnamen, ist dieser Umstand auffällig, weil auch phonetisch der richtige Name 'D.' nicht mit der Angabe des Nachnamens 'D.' (Anmerkung: Abweichung bei zwei Vokalen und Anfügung eines zusätzlichen Buchstabens) erklärbar ist und offenbar auch hier weder ein Betonungsfehler noch eine unrichtige Übersetzung erfolgt sein kann. Er kann auch nicht das Geburtsdatum seiner angeblich zukünftigen Frau angeben. Nachbarn ist er an der angeblich von ihm benützten Wohnadresse unbekannt, gibt (Beschwerdeführer) auf diesbezüglichen Vorhalt keine inhaltlich erklärende Antwort, sondern sagt aus: 'Ich sage dazu gar nichts.'

(siehe Seite 3 vierter Absatz der Niederschrift vor der BH Baden am 28.06.2010.

Auffällig und nicht als reiner Zufall kann gesehen werden, dass die beabsichtigte Eheschließung am 15.06.2010 beim Standesamt - laut Beschwerdevorbringen - angemeldet worden ist, sohin am Folgetag des 14.06.2010, des Datums, an dem gemäß § 2 Abs. 1 Z 23 AsylG ein Folgeantrag gestellt worden ist."

"Unter Wertung und Würdigung des gesamten Akteninhaltes" - so die belangte Behörde weiter - stehe fest, dass der Beschwerdeführer "in provokanter, unverhüllter Weise" im Rahmen der Niederschrift noch am 28. Juni 2010 versucht habe, "die Rechtsstaatlichkeit der Verfahrens betreffend seine Abschiebung auszureizen". Er habe

"durch offenbar unwahre Angaben versucht, den wahren Sachverhalt zu verschleiern bzw. nicht nur nicht an der Feststellung des verfahrensrelevanten Sachverhaltes - so wie geboten - mit(ge)wirkt, sondern alles versucht, um eine behördliche Entscheidung durch vorsätzliche Falschangaben bzw. Nichtangaben zu erklären bzw. unmöglich zu machen. Dies widerspiegelt ein deutliches Bild der Charaktereigenschaft des (Beschwerdeführers), bei vorliegendem Asylantrag es sich um einen Folgeantrag handelt, dem keine verfahrensrelevanten Neuerungen zugrunde liegen, er für den weiteren Aufenthalt im österreichischen Bundesgebiet über keine ausreichende Barmittel verfügt, bei seinen Angaben, dass er von seiner sogenannten zukünftigen 'Gattin' erhalten werde, es sich um eine Scheinangabe handelt, genauso wie die lediglich rudimentär angegebene Wohnadresse eine offenbare Scheinanmeldung bildet, und - wie aus obigen Ausführungen erhellt - es sich bei dem erstmaligen Vorbringen in der Beschwerde, dass er seine Freundin heiraten würde, ganz offensichtlich um eine geplante Scheinehe handelt, die dem Wesensinhalt der angezogenen Bestimmung des Art. 12 EMRK Hohn spricht."

Im vorliegenden Fall sei - so die belangte Behörde der Sache nach - der Schubhafttatbestand nach § 76 Abs. 2a Z 5 FPG erfüllt. Es lägen überdies in der Person des Beschwerdeführers keine relevanten Umstände vor, die einer Verhängung der Schubhaft entgegenstehen würden. Mit einem gelinderen Mittel schließlich könne nicht das Auslangen gefunden werden, weshalb - so die belangte Behörde zusammenfassend - "die Verhängung der Schubhaft zum Zweck der Maßnahme in einem angemessenen Verhältnis steht und die Aufrechterhaltung dieser im Interesse des öffentlichen Wohls dringend erforderlich und geboten ist".

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde erwogen:

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26. August 2010, Zl. 2010/21/0234, ausgesprochen hat, bedarf es auch bei Verwirklichung eines Schubhafttatbestandes nach § 76 Abs. 2a FPG - hier der Z 5 - eines konkreten Sicherungsbedarfs. Diesen hat die belangte Behörde im vorliegenden Fall im Wesentlichen darin erblickt, dass es sich bei der Meldeadresse des Beschwerdeführers um eine "offenbare Scheinanmeldung" handle und dass er mit seiner deutschen Freundin den Abschluss einer Scheinehe plane. Diese Sachverhaltsannahmen können sich jedoch nicht auf ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren stützen.

Zunächst ist unklar, ob die belangte Behörde dem Vorbringen des Beschwerdeführers folgte, bei der deutschen Staatsangehörigen Sandra D. handle es sich um seine Lebensgefährtin. Wäre dies der Fall - und in diese Richtung deutet der Umstand, dass Sandra D. im bekämpften Bescheid mehrfach als die (deutsche) "Freundin" des Beschwerdeführers bezeichnet wird -, so erwiese sich die Annahme einer Scheinehe schon deshalb als unschlüssig. Es wäre dann nämlich nicht nachvollziehbar, dass die Eheschließung ausschließlich zu dem Zweck erfolgen sollte, aufenthaltsrechtliche Begünstigungen in Anspruch nehmen zu können. Dann wäre aber auch die Vermutung, es liege eine "offenbare Scheinanmeldung" (an der Adresse von Sandra D.) vor, einer wesentlichen Grundlage beraubt. Davon abgesehen hätte die belangte Behörde das Vorbringen in der Administrativbeschwerde des Beschwerdeführers aber nicht ohne weitere Ermittlungen für unrichtig erachten dürfen. Insbesondere wäre sie, wie in der gegenständlichen Beschwerde im Ergebnis mit Recht geltend gemacht, verpflichtet gewesen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und dabei den Beschwerdeführer und seine (angebliche) Lebensgefährtin einzuvernehmen.

Warum die belangte Behörde von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat, wird im bekämpften Bescheid nicht dargelegt. Dass im Sinn des § 83 Abs. 2 Z 1 FPG nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgegangen werden konnte, sodass deshalb eine mündliche Verhandlung unterbleiben durfte, ergibt sich aber schon aus dem Vorgesagten.

Im Hinblick auf die dargestellte Verletzung von Verfahrensvorschriften, der Relevanz nicht abgesprochen werden kann, war der bekämpfte Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am 5. Juli 2012

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