VwGH 2010/21/0094

VwGH2010/21/00942.10.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 5. Februar 2010 (irrtümlich datiert mit 5. Februar 2009), Zl. VwSen- 401046/5/Gf/Mu, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: S in W; weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §83 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §83 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Nigeria, reiste im Juni 2003 nach Österreich ein und beantragte in der Folge die Gewährung von Asyl. Mit Bescheid vom 25. April 2005 wurde dieser Antrag abgewiesen; unter einem wurde der Mitbeteiligte aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 8. Juni 2009 ab.

Mittlerweile war gegen den Mitbeteiligten ein unbefristetes Rückkehrverbot erlassen worden. Dem lagen insgesamt vier strafgerichtliche Verurteilungen, jeweils (insbesondere) wegen Suchtgiftdelikten, zugrunde. Die letzte Verurteilung - zu einer zwölfmonatigen, zur Gänze verbüßten Freiheitsstrafe - datiert vom 29. Jänner 2009.

Der Mitbeteiligte befand sich dann bis 8. Jänner 2010 in Strafhaft. Noch vor seiner Entlassung, am 29. Dezember 2009, stellte er einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz. Diesbezüglich erging am 4. Jänner 2010 an den Mitbeteiligten die Mitteilung nach § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005, wonach beabsichtigt sei, diesen Antrag wegen entschiedener Sache gemäß § 68 AVG zurückzuweisen.

Mit Bescheid vom 8. Jänner 2010 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Ried im Innkreis (BH) mit Beendigung der Strafhaft gegen den Mitbeteiligten gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG Schubhaft, um seine Ausweisung nach § 10 AsylG 2005 und um seine Abschiebung zu sichern. Die BH stellte fest, dass der Mitbeteiligte vor seiner Inhaftierung im Jänner 2009 wenige Wochen (nach Verbüßung der vorangegangenen Strafhaft) an einer Wiener Adresse gemeldet und wohnhaft gewesen sei. Er sei bisher keiner Beschäftigung nachgegangen, sei ledig und habe keine Sorgepflichten. Er besitze keinen Reisepass oder sonstige Identitätsnachweise und verfüge "derzeit" über rund EUR 400,--. Einerseits sei der Tatbestand des § 76 Abs. 2 Z 2 FPG im Hinblick auf die Mitteilung nach § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 erfüllt, andererseits bestehe aber auch ein konkreter Sicherungsbedarf, weil "nach Würdigung aller maßgeblichen Sachverhaltselemente" die Annahme gerechtfertigt sei, dass der Mitbeteiligte "in die Anonymität untertauchen" und sich einer asylrechtlichen Ausweisung und der Abschiebung entziehen werde. Ein allfälliger Anspruch auf Grundversorgung im Rahmen des anhängigen zweiten Asylverfahrens und eine mögliche Rückkehr an die frühere Wiener Adresse vermöchten die evidente Fluchtgefahr nicht zu entkräften, weil der Mitbeteiligte absolut rückkehrunwillig sei. Er habe sich mehrfach unmissverständlich gegen seine Abschiebung nach Nigeria ausgesprochen und danach getrachtet, die Feststellung seiner Identität bzw. die Erlangung eines Heimreisezertifikates möglichst zu erschweren. In diesem Sinn wies die BH darauf hin, dass sich der Mitbeteiligte geweigert habe, an der polizeilichen Erstbefragung aus Anlass seines wiederholten Antrages auf internationalen Schutz mitzuwirken und Fingerabdrücke abzugeben. Hinzu komme, dass der Asylfolgeantrag - nach Verhängung eines Rückkehrverbotes und Ausweisung - am 29. Dezember 2009, also wenige Tage vor Strafende, aus der Strafhaft heraus gestellt worden sei, offensichtlich in der Absicht, anstehende fremdenpolizeiliche Maßnahmen zu vereiteln. Die bereits erlassenen asylrechtlichen und fremdenpolizeilichen Bescheide, der rechtswidrige Aufenthalt des Mitbeteiligten und die beabsichtigte Zurückweisung seines Asylfolgeantrages bildeten insgesamt einen erheblichen Fluchtanreiz, weil er zeitnah mit einer Abschiebung rechnen müsse. Im Übrigen sei die Fluchtgefahr auch wegen mangelnder beruflicher, sozialer und familiärer Verankerung "schlüssig". Eine mögliche Rückkehr an die frühere Adresse in Wien biete keine hinreichende Gewähr, dass der Mitbeteiligte dort jederzeit greifbar wäre. Vielmehr müsse angenommen werden, dass der Mitbeteiligte versuchen werde, sich abzusetzen; im konkreten Fall könne "speziell auch das Suchtgiftmilieu" ein Untertauchen erleichtern. Außerdem sei miteinzubeziehen, dass der Mitbeteiligte wiederholt Asyl beantragt habe; allein daraus sei eine entsprechende Vereitelungsabsicht in Bezug auf fremdenpolizeiliche Maßnahmen abzuleiten. Auch seien die ungeklärte Identität und das Fehlen von Anknüpfungspunkten in Österreich zu berücksichtigen. Schließlich sei noch zu erwähnen, dass die erhebliche Delinquenz des Mitbeteiligten die öffentlichen Interessen an einer effizienten Außerlandesschaffung maßgeblich verstärke. Auch das gebiete - anstelle der Anwendung eines gelinderen Mittels - die Verhängung von Schubhaft.

Die mit dem eben dargestellten Bescheid angeordnete Schubhaft wurde in der Folge ab 8. Jänner 2010 vollzogen. Mit 2. Februar 2010 erhob der Mitbeteiligte dann Schubhaftbeschwerde, in der er im Wesentlichen geltend machte, dass er im Fall seiner Entlassung "jederzeit wieder im Grundversorgungsquartier" in Wien leben könne.

Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 5. Februar 2010 gab der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (die belangte Behörde) dieser Schubhaftbeschwerde Folge und stellte gemäß § 83 FPG iVm § 67c Abs. 3 AVG und § 83 Abs. 4 FPG die Anhaltung des Mitbeteiligten als rechtswidrig fest.

Dagegen richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die belangte Behörde traf keine ausdrücklichen Feststellungen. Sie scheint aber einerseits von dem eingangs wiedergegebenen unstrittigen Sachverhalt und andererseits von den ergänzenden sachverhaltsbezogenen Ausführungen im Schubhaftbescheid der BH ausgegangen zu sein. Außerdem legte sie erkennbar das in der Administrativbeschwerde erstattete Vorbringen, wonach der Mitbeteiligte stets korrekt gemeldet gewesen sei, sich bislang nie einer fremdenpolizeilichen Maßnahme entzogen habe und im Fall einer Haftentlassung an seine "alte" Adresse zurückkehren könne, zugrunde. Schließlich ging sie wohl auch davon aus, dass - wie aus der Aktenlage ersichtlich - der neuerliche Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 11. Jänner 2010 gemäß § 68 Abs. 1 AVG, in Verbindung mit einer Ausweisung des Mitbeteiligten nach Nigeria, zurückgewiesen und dass die dagegen erhobene Beschwerde vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 4. Februar 2010 abgewiesen worden war.

Dass es sich beim Mitbeteiligten - so die belangte Behörde dann ausdrücklich - nicht um einen politisch Verfolgten, sondern in erster Linie um einen sogenannten "Wirtschaftsflüchtling" handle, der sich seinen Unterhalt u.a. auch durch gelegentliche Suchtgiftkriminalität finanziere, sei "zumindest nicht völlig abwegig". Eine Anhaltung in Schubhaft dürfe sich (aber dessen ungeachtet) nicht als unverhältnismäßig erweisen und nur im Sinne einer ultima-ratio-Maßnahme zum Einsatz gebracht werden. Zunächst sei, so die Erwägungen der belangten Behörde zusammengefasst, der konkret erforderliche Sicherungsbedarf zu prüfen. Dieser sei umso größer, je weiter fortgeschritten das Verfahren (hier gemeint: das Asylverfahren) bereits sei und dabei einem negativen Ausgang zustrebe. Umgekehrt sei aber ein derartiges Sicherungsbedürfnis im Rahmen eines Asylverfahrens nach Maßgabe des § 76 Abs. 2 FPG nicht allein schon deshalb gegeben, weil ein solches Verfahren "bereits formell eingeleitet" worden sei.

Gegenständlich sei gegen den Mitbeteiligten bereits am 25. April 2005 eine Ausweisung erlassen worden. Diese Maßnahme stehe derzeit jedoch keineswegs unmittelbar vor ihrer tatsächlichen Umsetzung, weil sich keine Hinweise dafür ergäben, dass der Mitbeteiligte in naher Zeit tatsächlich in seinen Heimatstaat abgeschoben werden sollte oder könnte; ungeachtet des bekannten Endes der Strafhaft mit 8. Jänner 2010 sei nämlich erst am 28. Dezember 2009 erstmals ein Ersuchen auf Ausstellung eines Heimreisezertifikates im Wege des Bundesministeriums für Inneres an die nigerianische Botschaft in Wien gestellt worden. Damit stelle sich für den Mitbeteiligten die Situation aber nicht so dar, dass er "gegenwärtig praktisch umgehend mit seiner faktischen zwangsweisen Außerlandesschaffung zu rechnen hat".

Die belangte Behörde führte dann weiter aus, dass die BH "weiters" die Illegalität der Einreise und des Aufenthalts des Mitbeteiligten, seine Mittellosigkeit und die fehlende Unterkunftsmöglichkeit als einen Sicherungsbedarf begründende Argumente ins Treffen geführt habe. Insoweit handle es sich "aus ordnungsrechtlicher Sicht" allerdings bloß um Bagatellvergehen. Außerdem sei der Mitbeteiligte "bei seiner Festnahme in seiner bundesbetreuten Unterkunft angetroffen" worden. Ohne konkrete gegenteilige Anhaltspunkte hätte daher nicht vom Fehlen jeglicher Unterkunftsmöglichkeit ausgegangen werden dürfen. Zwar sei der Mitbeteiligte in Österreich weder familiär noch sozial integriert. Er habe allerdings bislang kein Verhalten gesetzt, aus dem "konkret und zugleich mit hoher Wahrscheinlichkeit" zu schließen gewesen wäre, dass er sich umgehend dem behördlichen Zugriff entziehen werde. Insbesondere weise er darauf hin, dass er wieder in seine bundesbetreute Unterkunft zurückkehren könne, in der er "zuvor im Zuge seiner Festnahme" auch tatsächlich angetroffen worden sei. Davon ausgehend ergebe sich aber - so die belangte Behörde im Ergebnis - dass "beim gegenwärtigen Stand des Abschiebungsverfahrens" jedenfalls im Sinne einer Erstmaßnahme, also zumindest vorerst, gelindere Mittel hinreichen würden, um den mit der Schubhaftverhängung beabsichtigten Zweck zu realisieren. Im gegenständlichen Verfahren habe die BH jedoch von Anfang an nicht einmal den Versuch unternommen, gelindere Mittel zum Einsatz zu bringen. Es sei daher die Rechtswidrigkeit der Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft festzustellen gewesen.

Diese - zum Teil auch aktenwidrigen - Ausführungen lassen wesentliche Gesichtspunktes des vorliegenden Falles außer Acht:

Zunächst ist der belangten Behörde vorzuwerfen, dass sie das Fortschreiten des zweiten Asylverfahrens des Mitbeteiligten nicht in ihre Erwägungen miteinbezogen hat. Nach der Aktenlage (siehe oben) erging bereits am 11. Jänner 2010 ein erstinstanzlicher Zurückweisungsbescheid samt Ausweisung. Die Frage, ob bei Abfassung des gegenständlichen Bescheides das die Beschwerde gegen den genannten Zurückweisungsbescheid abweisende Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 4. Februar 2010 bereits zugestellt war, blieb völlig ungeprüft. Unabhängig davon kann aber jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, das (zweite) Asylverfahren des Mitbeteiligten habe sich noch im Anfangsstadium befunden.

Dem eben genannten Aspekt kommt primär im Rahmen des - von der belangten Behörde nur implizit getroffenen - Ausspruchs nach § 83 Abs. 4 FPG, wonach die Voraussetzungen für eine weitere Anhaltung des Mitbeteiligten nicht vorlägen, Bedeutung zu. Ihre Überlegungen, es existierten keine Hinweise dafür, dass der Mitbeteiligte in naher Zeit tatsächlich in seinen Heimatstaat abgeschoben werden könne, beziehen sich dagegen auch auf den Schubhaftbescheid und die Zeit der Anhaltung bis zur Entscheidung der belangten Behörde. Sie lassen indes außer Acht, dass die Schubhaft nicht nur zur Sicherung der Abschiebung, sondern auch zur Sicherung des asylrechtlichen Ausweisungsverfahrens verhängt wurde. Insoweit war die Frage einer alsbaldigen Abschiebung des Mitbeteiligten (noch) nicht entscheidungswesentlich.

Was die weiteren, auf den Schubhaftbescheid bezugnehmenden Überlegungen der belangten Behörde betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass die BH in ihrem Bescheid vom 8. Jänner 2010 - anders als von der belangten Behörde ausgeführt - nicht primär Illegalität der Einreise und des Aufenthalts des Mitbeteiligten sowie seine Mittellosigkeit ins Treffen führte. Auf fehlende Unterkunftsmöglichkeit hat die BH - insofern ist der bekämpfte Bescheid aktenwidrig - ihre Schubhaftverhängung schließlich gar nicht gestützt; sie argumentierte vielmehr damit, dass eine mögliche Rückkehr an die frühere Wiener Adresse des Mitbeteiligten die von ihr konstatierte Fluchtgefahr nicht entkräften könne. Diesbezüglich stützte sich die BH - von der belangten Behörde nicht berücksichtigt - u.a. auch auf das unkooperative Verhalten des Mitbeteiligten (zuletzt bei der asylrechtlichen Erstbefragung am 29. Dezember 2009), auf die von der belangten Behörde an anderer Stelle eingeräumte missbräuchliche Stellung des zweiten Asylantrages und auf den Umstand, dass die Verankerung des Mitbeteiligten im Suchtgiftmilieu ein Untertauchen erleichtere. Dass diese Gesichtspunkte für das Erfordernis von Schubhaft sprechen, ist nicht von der Hand zu weisen. Es trifft im Sinn der weiteren Überlegungen der BH aber auch zu, dass die strafgerichtliche Vergangenheit des Mitbeteiligten in die Verhältnismäßigkeitsprüfung miteinbezogen werden durfte (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 17. März 2009, Zl. 2007/21/0542, in dem sich der Verwaltungsgerichtshof mit den von der belangten Behörde auch im hier bekämpften Bescheid erwähnten Erkenntnissen vom 22. Juni 2006, Zl. 2006/21/0081, und vom 28. Juni 2007, Zl. 2004/21/0003, abgrenzend auseinander gesetzt hat).

Abschließend bleibt noch darauf hinzuweisen, dass die behördliche Argumentation, der Mitbeteiligte sei bei seiner Festnahme in seiner bundesbetreuten Unterkunft angetroffen worden, in den Verwaltungsakten keine Deckung findet. Darauf kommt es freilich nach dem Vorgesagten nicht mehr entscheidend an. Vielmehr war der bekämpfte Bescheid schon im Hinblick auf die oben aufgezeigte

prävalierende Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 2. Oktober 2012

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