VwGH 2010/08/0058

VwGH2010/08/00582.5.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer und Dr. Lehofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Farcas, über die Beschwerde der SB in B, vertreten durch Dr. Gert Weiler, Rechtsanwalt in 8330 Feldbach, Ungarstraße 8, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Steiermark vom 2. Dezember 2009, Zl. LGS600/SfA/0566/2009-Dr.Si/S, betreffend Notstandshilfe, zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §38;
AlVG 1977 §7;
AlVG 1977 §8;
AlVG 1977 §9;
AVG §37;
AVG §45 Abs3;
AlVG 1977 §38;
AlVG 1977 §7;
AlVG 1977 §8;
AlVG 1977 §9;
AVG §37;
AVG §45 Abs3;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit Bescheid vom 29. September 2009 hat die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice F (AMS) ausgesprochen, dass die Beschwerdeführerin den Anspruch auf Notstandshilfe vom 11. September bis zum 5. November 2009 gemäß § 10 iVm § 38 AlVG verloren habe. Sie sei nicht bereit gewesen, die über den Verein G. zugewiesene zumutbare Beschäftigung bei der Gemeinde B. aufzunehmen. Berücksichtigungswürdige Gründe für eine Nachsicht lägen nicht vor.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Berufung "wegen gesundheitlicher Unzumutbarkeit und Gesundheitsgefährdung" und brachte u.a. vor, sie leide an einer Wirbelsäulenerkrankung (Bandscheibenvorfall) und - infolge permanenter Ohrenprobleme - an Gleichgewichtsstörungen.

Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid hat die belangte Behörde der Berufung nicht stattgegeben. Der Beschwerdeführerin sei am 8. September 2009 eine Beschäftigung als Gemeindemitarbeiterin "beim Dienstgeber Gemeinde B. über den Verein G." zugewiesen worden. Möglicher Arbeitsantritt wäre der 11. September 2009 gewesen. Der Dienstgeber habe dem AMS bekannt gegeben, dass sich die Beschwerdeführerin telefonisch beworben, jedoch die Tätigkeit mit der Bemerkung "da stellt's mir die Hoar auf" abgelehnt habe, nachdem sie erfahren hätte, dass es sich um Grünraumpflege handle. Dem AMS habe die Beschwerdeführerin erklärt, für eine Arbeitsaufnahme nicht bereit zu sein, weil sie nicht Laub rechen könne und unter Schwindelanfällen leide. Seit ihrem letzten Dienstverhältnis, das nach zweimonatiger Dauer im Juli 2006 geendet habe, sei es zu keiner Beschäftigungsaufnahme gekommen. Davor habe sie zehn Jahre lang Notstandshilfe bezogen. Sie hätte am 11. September 2009 die Möglichkeit gehabt, eine auf zwei Monate befristete, halbtägige Arbeitsstelle in ihrer Heimatgemeinde B. aufzunehmen. Der Tätigkeitsbereich hätte Gartenarbeiten (Laub rechen, Stiegen kehren, Müll mit einem Müllzwicker aufheben, Zwiebeln reinigen im Sitzen) im Kurpark B. umfasst. Bei Schlechtwetter wären keine Arbeiten im Freien zu erledigen gewesen.

Um festzustellen, ob auf Grund eines länger zurückliegenden Bandscheibenvorfalls noch Tätigkeiten in der Grünraumpflege verrichtet werden könnten, sei die Beschwerdeführerin amtsärztlich untersucht worden. Diese Untersuchung habe ergeben, dass mittelschwere muskuläre Beanspruchung "um 75 %" und schwere "um 100 %" zu vermeiden sei. Bücken sei "um 75 %" zu vermeiden. Es bestünden eine depressive Symptomatik mit ausgeprägter Somatisierung, ein rezidivierendes Lumbalsyndrom, ein degenerativer Bandscheibenschaden der Lendenwirbelsäule und (Dreh)Schwindel. Die Schwindelattacken stünden mit der Erschöpfung im Zusammenhang. Körperliche Beschwerden seien nicht vorrangig. Die Beschwerdeführerin hätte bei diesem Projektarbeitsplatz die Möglichkeit gehabt, Einzelgesprächstermine wahrzunehmen. Diese hätten der Stabilisierung der psychischen Situation gedient. Gleichzeitig hätte sie sich durch Verrichtung einer stundenweisen Beschäftigung wieder langsam an einen Arbeitsalltag gewöhnen können. Daher habe die belangte Behörde "entschieden, dass es auch nicht zu der von Ihnen eingewendeten 'Gesundheitsgefährdung' gekommen wäre, denn bei einem Projektarbeitsplatz hätte man mehr als bei einer Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt auf Ihre Beschwerden Rücksicht nehmen können". Sonstige Nachsichtsgründe, wie insbesondere die Aufnahme einer Beschäftigung bei einem anderen Dienstgeber, lägen nicht vor.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Gemäß § 7 Abs. 1 Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 (AlVG) hat Anspruch auf Arbeitslosengeld, wer (unter anderem) der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht (Z. 1). Nach § 7 Abs. 2 AlVG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf (Abs. 3) und arbeitsfähig (§ 8), arbeitswillig (§ 9) und arbeitslos (§ 12) ist.

§ 8 AlVG lautet:

"Arbeitsfähigkeit

§ 8. (1) Arbeitsfähig ist, wer nicht invalid beziehungsweise nicht berufsunfähig im Sinne der für ihn in Betracht kommenden Vorschriften der §§ 255, 273 beziehungsweise 280 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes ist.

(2) Der Arbeitslose ist, wenn sich Zweifel über die Arbeitsfähigkeit ergeben, verpflichtet, sich auf Anordnung der regionalen Geschäftsstelle ärztlich untersuchen zu lassen. Weigert er sich, dieser Anordnung Folge zu leisten, so erhält er für die Dauer der Weigerung kein Arbeitslosengeld.

(3) Die ärztlichen Gutachten der regionalen Geschäftsstellen einerseits und der Sozialversicherungsträger andererseits sind, soweit es sich um die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit handelt, gegenseitig anzuerkennen. Die erforderlichen Maßnahmen trifft der Bundesminister für soziale Verwaltung nach Anhören des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger."

Erklärt sich eine arbeitslose Person bei der regionalen Geschäftsstelle mit oder ohne Bezugnahme auf eine konkrete, ihr namhaft gemachte Arbeitsgelegenheit für arbeitsunfähig, so hat die regionale Geschäftsstelle dazu zunächst ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat die Behörde nach der solcherart erfolgten Erforschung des maßgeblichen Sachverhaltes den Antragsteller unter Vorhalt des ihr zur Verfügung stehenden Gutachtens zur Äußerung aufzufordern, ob er - insbesondere auch im Hinblick auf die ihm zu erteilende ausführliche Rechtsbelehrung - bereit sei, eine dem Gutachten entsprechende und ihm nach § 9 AlVG zumutbare Beschäftigung anzunehmen. Erst im Fall einer ablehnenden Stellungnahme trotz der genannten Vorhalte wäre die Behörde berechtigt, Arbeitsunwilligkeit anzunehmen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 2010, Zl. 2009/08/0051).

Die belangte Behörde hat zumindest nachträglich ein medizinisches Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben, die oben genannten Arbeiten bei der Gemeinde B. dargelegt und (dem im Verwaltungsakt erliegenden Antrag auf ärztliche Untersuchung vom 5. November 2009 zu Folge) an den medizinischen Sachverständigen die konkrete Frage gerichtet, ob diese Tätigkeiten auf Grund der vorliegenden Beschwerden durchgeführt werden können.

In ihrem Gutachten vom 10. November 2009 legte die medizinische Sachverständige Dr. F. dar, welche Belastungen die Beschwerdeführerin zu vermeiden hat (diese Einschränkungen wurden im angefochtenen Bescheid wiedergegeben). In einem handschriftlichen Zusatz führte Dr. F. sodann aus:

"Im Vordergrund steht derzeit der ausgeprägte Erschöpfungszustand. Die körperlichen Beschwerden (LWS, BS) sind nicht vorrangig. Die Schwindelattacken sind im Zusammenhang mit der Erschöpfung.

Nach Stabilisierung d. psychischen Situation ist eine Gartenarbeit (Wochenarbeitszeit 20 h) sicherlich möglich. Jegliche medikamentöse Therapie wird derzeit von (der Beschwerdeführerin) abgelehnt (kommt aus einer 'Süchtler'-Familie). Die Gesprächstherapie wurde erst begonnen.

Derzeit ist die Arbeitsfähigkeit nicht gegeben."

Die Beschwerdeführerin, die sich nach dem von ihr geltend gemachten Beschwerdepunkt "in ihrem Recht auf Ablehnung einer für sie gesundheitsgefährdenden Arbeit verletzt" erachtet (zur Reichweite verwaltungsgerichtlicher Kognition bei Beschränkung des Beschwerdepunktes auf Vorfragen vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. Jänner 1988, Zl. 87/01/0157), rügt zu Recht, dass sich die belangte Behörde über dieses Gutachten - zu dem sie nach der Aktenlage der Beschwerdeführerin im Übrigen auch kein Parteiengehör gewährt hat - hinweggesetzt habe. Die von einer Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin ausgehenden Feststellungen des angefochtenen Bescheides beruhen auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung.

Der angefochtene Bescheid war gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Die beantragte Umsatzsteuer war nicht zuzusprechen, weil diese in den Sätzen der genannten Verordnung bereits enthalten ist. Wien, am 2. Mai 2012

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