VwGH 2011/01/0028

VwGH2011/01/002828.4.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek und Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerde des A M in E, geboren am 1981, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 1. Juni 2007, Zl. 302.822-C1/7E-V/13/06, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AVG §45 Abs2;
AsylG 1997 §7;
AVG §45 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, stellte am 18. Februar 2005 einen Asylantrag.

Seine Flucht begründete er im Wesentlichen damit, im September 2003 und im Juli 2004 von russischen Soldaten in Tschetschenien festgenommen, verhört und misshandelt worden zu sein. Man habe ihn nach Widerstandskämpfern befragt und ihn beschuldigt, gemeinsam mit einem Bekannten an verschiedenen Explosionen zwischen Schali und Atagi beteiligt gewesen zu sein; gegen Bezahlung von Lösegeld sei er freigelassen worden. Als dieser Bekannte im September 2004 von "Einheiten" erschossen worden sei, sei der Beschwerdeführer aus Angst, dass nun er an der Reihe sei, geflüchtet.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung den Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 Asylgesetz 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 (AsylG) ab. Gleichzeitig erklärte sie seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung "nach der Russischen Föderation" gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für nicht zulässig und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 3 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

Zur Begründung der negativen Asylentscheidung führte die belangte Behörde zusammengefasst im Wesentlichen aus, dass die vom Beschwerdeführer angesprochenen Festnahmen 2003 und 2004 und die damit einhergehenden Misshandlungen nicht festgestellt werden könnten. Der Beschwerdeführer habe zur Zeitdauer der Anhaltungen vor beiden Instanzen unterschiedliche Angaben gemacht. Weiters habe er offensichtlich beide "Sachverhaltskreise" miteinander vermengt bzw. sei er nicht in der Lage gewesen, die einzelnen Vorfälle "örtlich argumentativ" zu trennen. Näher führte die belangte Behörde dazu aus, dass der Beschwerdeführer vor dem Bundesasylamt als Grund für die erste Verhaftung (im September 2003) Explosionen im Zuge durchgeführter Terroranschläge angegeben habe, was er auch in der Berufung bestätigt habe; demgegenüber habe er im Zuge der Berufungsverhandlung diese Gründe als Motiv für die zweite Festnahme im Juli 2004 angegeben. Hinsichtlich des "Sachverhaltskreises" seiner zweiten Festnahme habe er vor der Erstbehörde "ausdrücklich angegeben, dass ein gewisser Mithäftling namens A. U. vor seinen Augen durch einen gezielten Schuss getötet worden sei" (Hervorhebung im Original); demnach habe er den A. U. eindeutig seiner Festnahme im Jahr 2004 zugeordnet. In der Berufungsverhandlung habe er jedoch erklärt, "bei der Erschießung nicht höchstpersönlich anwesend gewesen" zu sein (Hervorhebung im Original). Der Beschwerdeführer sei darüber hinaus nicht in der Lage gewesen, nähere Details zu den erfolgten Verhören bzw. Misshandlungen zu erwähnen, weshalb ihm die Glaubhaftigkeit hinsichtlich seiner Fluchtgeschichte zu versagen sei.

Gegen die negative Asylentscheidung dieses Bescheides richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Die behördliche Beweiswürdigung ist der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof zwar nur dahin unterworfen, ob der maßgebliche Sachverhalt ausreichend ermittelt wurde und ob die dabei angestellten Erwägungen schlüssig sind, was dann der Fall ist, wenn sie den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut nicht widersprechen, ohne dass es dem Gerichtshof zukäme, die vorgenommene Beweiswürdigung der belangten Behörde darüber hinaus auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Eine Beweiswürdigung ist aber nur dann schlüssig, wenn (unter anderem) alle zum Beweis strittiger Tatsachen nach der Aktenlage objektiv geeigneten Umstände berücksichtigt wurden (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 2. September 2010, Zl. 2008/19/0403, mwN).

Ausgehend von diesen Grundsätzen erweist sich die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides aus folgenden Erwägungen als nicht schlüssig:

1.) Der belangten Behörde lag eine psychologische Stellungnahme vom 15. Juni 2006 vor, in der hinsichtlich des Beschwerdeführers Symptome einer hohen posttraumatischen Stressbelastung festgestellt wurden, die in ihrer Gesamtheit als schwere psychische Beeinträchtigung zu interpretieren seien.

Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass psychische Erkrankungen im Hinblick auf konstatierte Unstimmigkeiten im Aussageverhalten zu berücksichtigen sind (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 15. März 2010, Zl. 2006/01/0355, mwN). Demgegenüber lässt die Begründung des angefochtenen Bescheides nicht erkennen, dass die belangte Behörde die erwähnte psychologische Stellungnahme in ihre Beweiswürdigung - insbesondere hinsichtlich der divergierenden Aussagen des Beschwerdeführers zu den Zeiträumen seiner Anhaltungen bzw. hinsichtlich des Vorwurfs der Detailarmut des Geschilderten - einbezogen hat. Schon von daher erweist sich die Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid als unzureichend.

2.) Im Übrigen stützt die belangte Behörde ihre Beweiswürdigung zentral auf das Argument, der Beschwerdeführer habe vor dem Bundesasylamt angegeben, dass sein Mithäftling A. U.

- welchen der Beschwerdeführer eindeutig seiner Festnahme im Juli 2004 zugeordnet habe - im Zuge dieser zweiten Festnahme vor seinen Augen erschossen worden sei. Diese Annahme erweist sich jedoch insofern als aktenwidrig, als der Beschwerdeführer laut Niederschrift vor dem Bundesasylamt am 27. Mai 2005 angegeben hat, (bereits) bei seiner ersten Festnahme im Jahr 2003 gemeinsam mit einem "Burschen" (gemeint: A. U.) festgehalten worden zu sein. Im September 2004 hätten russische Einheiten versucht, diesen Burschen festzunehmen und dabei auf ihn geschossen; als er am Boden gelegen sei, habe es einen Kontrollschuss gegeben. Dieser Aussage des Beschwerdeführers ist demnach einerseits zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer den A. U. - entgegen der Auffassung der belangten Behörde - bereits im Zusammenhang mit seiner ersten Verhaftung im September 2003 erwähnt hat. Zum anderen kann diesen Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt nicht entnommen werden, dass er dabei "ausdrücklich angegeben" habe, dass er Augenzeuge der Tötung des A. U. geworden sei.

3.) Ebenso aktenwidrig sind die Ausführungen der belangten Behörde, wonach der Beschwerdeführer vor dem Bundesasylamt die Beteiligung an Explosionen bereits als Grund für seine erste Verhaftung (im September 2003) - und nicht wie bei der mündlichen Berufungsverhandlung angegeben: erst für seine zweite Festnahme (im Juli 2004) - angeführt habe. Aus der erwähnten Niederschrift des Bundesasylamtes vom 27. Mai 2005 ergibt sich nämlich, dass der Beschwerdeführer bei dieser Einvernahme angegeben hat, dass er (erst) im Zuge der zweiten Festnahme zu einem Stützpunkt des (Inlandsgeheimdienstes) FSB in Schali gebracht worden und ihm vom FSB - demnach im Juli 2004 - vorgehalten worden sei, an verschiedenen Explosionen beteiligt gewesen zu sein.

4.) Da infolge der aufgezeigten Mängel die Beweiswürdigung das von der belangten Behörde angenommene Unglaubwürdigkeitskalkül auch nach dem Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofs nicht trägt, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. a, b und c VwGG aufzuheben.

5.) Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 28. April 2011

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