VwGH 2010/21/0232

VwGH2010/21/023214.4.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des H, vertreten durch Dr. Josef Strasser und Dr. Maria Weidlinger, Rechtsanwälte in 4910 Ried im Innkreis, Roßmarkt 1, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 25. November 2009, Zl. VwSen- 720260/2/Gf/Mu, betreffend Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

32004L0038 Unionsbürger-RL Art31 Abs3;
ARB1/80 Art7;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §60;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art31 Abs3;
ARB1/80 Art7;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §60;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der 1989 geborene Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste gemeinsam mit seiner Mutter im Rahmen der Familienzusammenführung im Sommer 1992 zu seinem Vater nach Österreich. Seither ist er gemeinsam mit seinen Eltern und zwei Geschwistern rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen. Zuletzt war ihm - nach einer Rückstufung gemäß § 28 Abs. 1 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Ried im Innkreis vom 28. September 2006 - ein bis 1. Oktober 2008 gültiger Aufenthaltstitel "Niederlassungsbewilligung - unbeschränkt" erteilt worden; ein Verlängerungsantrag vom 22. September 2008 blieb zunächst unerledigt.

Im Hinblick auf mehrere strafgerichtliche Verurteilungen des Beschwerdeführers, von denen drei nach Erlassung des oben angeführten Rückstufungsbescheides ergingen, verhängte die genannte Bezirkshauptmannschaft mit Bescheid vom 20. Oktober 2009 gegen den Beschwerdeführer gemäß § 86 Abs. 1 iVm § 60 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 Z 1 sowie §§ 63 und 66 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot. Die dagegen erhobene Berufung wies der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (die belangte Behörde) mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 25. November 2009 als unbegründet ab.

Der Beschwerdeführer habe - so die Feststellungen der belangten Behörde über den eingangs dargestellten Sachverhalt hinaus - in Österreich die Pflichtschule besucht und im Anschluss daran, ohne einen Beruf erlernt zu haben, bei mehreren Unternehmen als Hilfsarbeiter gearbeitet. Bereits aus der Begründung des angefochtenen Bescheides der Bezirkshauptmannschaft gehe ausführlich hervor, dass er wegen mehrerer Übertretungen rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt worden sei. In der Folge führte die belangte Behörde acht strafgerichtliche Schuldsprüche an, wobei sie jeweils Datum und Geschäftszahl des Gerichtsurteils, das bzw. die verwirklichten Delikt(e) sowie die verhängte Strafe wiedergab. Demgemäß hielt die belangte Behörde im Rahmen dieser Aufzählung zuletzt fest, dass der Beschwerdeführer mit Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis vom 7. Jänner 2009, Zl. …, wegen des Verbrechens des teils versuchten, teils vollendeten schweren gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt worden sei und dass das Oberlandesgericht Linz mit Berufungsurteil vom 21. April 2009, Zl. …, die verhängte Freiheitsstrafe auf drei Jahre herabgesetzt und vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht - betreffend Vorverurteilungen - abgesehen habe.

Nach dem Hinweis auf einen Waffenverbotsbescheid und zwei Strafbescheide der Bezirkshauptmannschaft gab die belangte Behörde den wesentlichen Inhalt des erstinstanzlichen Aufenthaltsverbotsbescheides und der dagegen erhobenen Berufung wieder. Nach auszugsweiser Darstellung der §§ 60, 63 und 66 FPG sowie von § 55 Abs. 4, § 61 Z 4 und § 65 Abs. 1 FPG schloss sie schließlich wie folgt:

"3.2. Im gegenständlichen Fall liegen - auch vom Beschwerdeführer unbestritten - mehrere rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von insgesamt 31/2 Jahren und damit eine bestimmte Tatsache i.S.d. § 60 Abs. 2 Z. 1 FPG vor (s.o., 1.2.), die die Fremdenpolizeibehörde nach § 63 Abs. 1 FPG grundsätzlich dazu ermächtigen, ein unbefristetes Aufenthaltsverbot zu verhängen.

Angesichts des gerichtlich festgestellten gravierenden Fehlverhaltens bedeutet ein weiterer Aufenthalt des Rechtsmittelwerbers im Bundesgebiet daher auch eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit i.S.d. § 86 Abs. 1 FPG, die das Grundinteresse der Gesellschaft an der Verhinderung schwerer Eigentums- und Gewaltkriminalität berührt. Zudem ist der seit dem Ende des Fehlverhaltens (13. September 2008) verstrichene Zeitraum jedenfalls noch viel zu kurz, um die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefahr der Begehung gleichartiger Delikte bereits als weggefallen oder auch nur entscheidend gemindert ansehen zu können. Denn der Rechtsmittelwerber befindet sich seither und auch gegenwärtig noch in Strafhaft, sodass derzeit keinerlei Erfahrungen über seinen tatsächlichen zwischenmenschlichen Umgang in normaler Gesellschaft und Umgebung bestehen; sohin ist eine dementsprechende Günstigkeitsprognose derzeit überhaupt unmöglich.

Selbst wenn durch die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes tatsächlich i.S.d. § 60 Abs. 6 i.V.m. § 66 FPG insofern in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers eingegriffen wird, als er vorbringt, dass er seit 1992 mit seinen Eltern im Bundesgebiet lebt, in der Justizanstalt Gerasdorf seine fehlende Berufsausbildung nachholen kann und daher nach seiner Haftentlastung am Arbeitsmarkt Fuß fassen könnte, ist unter den konkreten Umständen des vorliegenden Falles die Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes aus den genannten spezialpräventiven Gründen, aber auch aus generalpräventiven Gründen, nämlich zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele, insbesondere zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Wege der Hintanhaltung von schwerer Eigentums- und Gewaltkriminalität, unverzichtbar.

Davon abgesehen bleibt es dem Rechtsmittelwerber ohnehin unbenommen, nach § 65 Abs. 1 FPG jederzeit dann einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes zu stellen, wenn (er der Meinung ist, dass) die Gründe, die zu dessen Erlassung geführt haben, weggefallen sind.

3.4. Daher war die gegenständliche Berufung gemäß § 66 Abs. 4 AVG abzuweisen und der angefochtene Bescheid zu bestätigen."

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 18. Juni 2010, B 28/10- 6, ab und trat sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. Dieser hat über die ergänzte Beschwerde nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde erwogen:

Der Beschwerdeführer erfüllt unstrittig die Voraussetzungen nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation. Von daher kommt die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen ihn nur nach Maßgabe des § 86 Abs. 1 FPG in Betracht. Diese Bestimmung - in der hier maßgeblichen Fassung nach dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2009 - lautet wie folgt:

"Sonderbestimmungen für den Entzug der Aufenthaltsberechtigung und für verfahrensfreie Maßnahmen

§ 86. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes ihren Aufenthalt ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist."

Die belangte Behörde hat zwar bei ihrer einleitenden Darstellung der Rechtsgrundlagen als in Frage kommende Aufenthaltsverbotsnorm nur § 60 FPG angeführt. In der Folge hat sie aber auch auf den zweiten Satz des § 86 Abs. 1 FPG Bezug genommen (siehe die obige wörtliche Wiedergabe) und die - von ihr bejahte - Zulässigkeit des gegenständlichen Aufenthaltsverbotes offenkundig daran gemessen. Dabei hat sie aber zunächst nicht beachtet, dass fallbezogen - der Beschwerdeführer hat seit 1992 seinen Hauptwohnsitz in Österreich - die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes nur unter den Voraussetzungen des fünften Satzes des § 86 Abs. 1 FPG in Betracht kommt. Dazu kann etwa auf das hg. Erkenntnis vom 26. September 2007, Zl. 2007/21/0215, verwiesen werden.

Wie im eben genannten Erkenntnis zum Ausdruck gebracht, legt § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG bezüglich der für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes erforderlichen (negativen) Zukunftsprognose einen gegenüber den ersten Sätzen der genannten Bestimmung deutlich strengeren Maßstab an (vgl. grundlegend zu den im FPG vorgesehenen Gefährdungsprognosen und deren "Rangordnung" das hg. Erkenntnis vom 20. November 2008, Zl. 2008/21/0603; siehe auch das zu Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG , dessen Umsetzung § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG dient, in der Rechtssache C- 145/09 "Tsakouridis" ergangene Erkenntnis des EuGH vom 23. November 2010). Bei der gebotenen Prognosebeurteilung kommt es aber in Bezug auf strafgerichtliche Verurteilungen letztlich immer auf das zugrunde liegende Verhalten an. Es ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. nochmals das eben erwähnte Erkenntnis vom 20. November 2008).

Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde das strafrechtliche Fehlverhalten des Beschwerdeführers nicht näher dargestellt. Die vor Auflistung der Verurteilungen des Beschwerdeführers erfolgte Bezugnahme auf die Begründung des erstinstanzlichen Bescheides der Bezirkshauptmannschaft Ried im Innkreis lässt sich aber noch so deuten, dass auf die dort im Einzelnen erfolgte Darstellung des strafrechtlichen Fehlverhaltens des Beschwerdeführers verwiesen werde. Das kann zwar genügen, dann ist aber eine argumentative Auseinandersetzung zumindest mit den Eckpunkten des strafrechtsrelevanten Verhaltens, aus dem die maßgebliche Gefährdung abgeleitet wird, unverzichtbar. Das ergibt sich schon aus unionsrechtlichen Gesichtspunkten (vgl. insbesondere Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG ). Eine derartige Auseinandersetzung lässt der bekämpfte Bescheid völlig vermissen. Er verweist im Zusammenhang mit der Prognosebeurteilung einerseits nur formelhaft auf "das gerichtlich festgestellte gravierende Fehlverhalten" des Beschwerdeführers und führt andererseits lediglich das Grundinteresse der Gesellschaft an der Verhinderung schwerer Eigentums- und Gewaltkriminalität ins Treffen. Dass dem Beschwerdeführer nach der Aktenlage keine Gewaltverbrechen anzulasten sind, sei nur mehr der Vollständigkeit halber erwähnt. Ebenso nur mehr ergänzend anzumerken ist, dass die belangte Behörde bei Darstellung der strafgerichtlichen Verurteilungen die verhängten Strafen zum Teil aktenwidrig wiedergegeben hat.

Was die behördliche Beurteilung nach § 66 FPG anlangt, so kann kein Zweifel bestehen, dass die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes jedenfalls in das Privatleben des Beschwerdeführers eingreift. Im Übrigen sind (auch) in diesem Zusammenhang die von der belangten Behörde angesprochenen generalpräventiven Erwägungen fehl am Platz (vgl. § 86 Abs. 1 vierter Satz FPG).

Aus den dargestellten Gründen ist der bekämpfte Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 14. April 2011

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte