VwGH 2010/08/0231

VwGH2010/08/023116.3.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer, Dr. Lehofer, Dr. Doblinger und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde der A GmbH in B, vertreten durch Haslinger/Nagele & Partner Rechtsanwälte GmbH in 4020 Linz, Roseggerstraße 58, gegen den Bescheid der Landeshauptfrau von Salzburg vom 24. September 2010, Zl. 20305-V/14.799/4-2010, betreffend Aussetzung des Verfahrens über einen Beitragszuschlag nach dem ASVG (mitbeteiligte Partei:

Salzburger Gebietskrankenkasse, 5020 Salzburg, Engelbert-Weiß-Weg 10), zu Recht erkannt:

Normen

11997E226 EG Art226;
11997E227 EG Art227;
12010E258 AEUV Art258;
12010E259 AEUV Art259;
31972R0574 WanderarbeitnehmerV DV Art11 Abs1 litA;
61997CJ0202 Fitzwilliam VORAB;
ASVG §1;
EURallg;
11997E226 EG Art226;
11997E227 EG Art227;
12010E258 AEUV Art258;
12010E259 AEUV Art259;
31972R0574 WanderarbeitnehmerV DV Art11 Abs1 litA;
61997CJ0202 Fitzwilliam VORAB;
ASVG §1;
EURallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse hat mit Bescheid vom 23. April 2010 festgestellt, dass die Rechtsvorgängerin der beschwerdeführenden Partei (die FVV GmbH) als Dienstgeberin hinsichtlich der Beschäftigung von insgesamt 39 (namentlich genannten) Personen gegen die sozialversicherungsrechtliche Meldepflicht iSd § 33 Abs. 1 ASVG verstoßen habe. Gemäß § 113 Abs. 1 Z. 1 und Abs. 2 ASVG werde ein Beitragszuschlag in der gesetzlich festgelegten Höhe von insgesamt EUR 20.300,-- vorgeschrieben.

In dem gegen diesen Bescheid erhobenen Einspruch brachte die beschwerdeführende Partei vor, sie habe die im Bescheid genannten Personen nicht beschäftigt und sei nicht deren Dienstgeberin. Die Personen seien nicht von ihr zur Pflichtversicherung zu melden gewesen. Es lägen bindende "E 101-Bescheinigungen" vor, die ungarisches Sozialversicherungsrecht für anwendbar erklärten. Österreichisches Recht bleibe unanwendbar.

Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid hat die belangte Behörde gemäß § 357 Abs. 1 und § 413 Abs. 1 Z. 1 ASVG iVm § 38 AVG das Einspruchsverfahren bis zur rechtskräftigen Abklärung der maßgeblichen Versicherungspflicht der 39 im Erstbescheid genannten Personen durch die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse ausgesetzt. Die "aktuelle Aktenlage" eröffne der Einspruchsbehörde ohne ergänzende Verfahrensschritte nicht die Möglichkeit zur eigenständigen Beurteilung der Versicherungspflicht der genannten 39 Personen. Anwendungsvoraussetzung der § 33 Abs. 1 und 1a sowie § 113 Abs. 1 und 2 ASVG sei die Stellung der 39 Personen als unselbständig Beschäftigte, die der Sozialversicherungspflicht iSd § 4 ASVG unterlägen, und die Stellung der beschwerdeführenden Partei als Dienstgeberin iSd § 35 Abs. 1 ASVG. Der erstinstanzliche Bescheid gründe sich auf eine nicht rechtskräftig festgestellte und ausdrücklich bestrittene Sozialversicherungspflicht. Deren rechtskräftige Klärung als Hauptfrage in einem entsprechenden Verfahren durch die hiefür zuständige Behörde stelle für das Einspruchsverfahren eine Vorfrage dar, deren eigenständige Beurteilung auf Grund der aktuellen Aktenlage insbesondere aus verfahrensökonomischen Gründen nicht zweckmäßig erscheine. Daher werde von der gemäß § 38 AVG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, ein sozialversicherungsrechtliches Verwaltungsverfahren zur Abklärung der angeführten Sozialversicherungspflicht bei der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse anhängig zu machen und bis zu deren rechtskräftiger Entscheidung das einspruchsgegenständliche Verfahren betreffend den Beitragszuschlag auszusetzen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - ebenso wie die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse - eine Gegenschrift erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Es ist zwischen den Parteien nicht strittig, dass für jede der 39 Personen eine Bescheinigung des zuständigen ungarischen Sozialversicherungsträgers (Formular E 101) darüber ausgestellt wurde, dass der Betreffende ein ab einem bestimmten Zeitpunkt in Ungarn beschäftigter und pflichtversicherter Arbeitnehmer der Arbeitgeberin M. KFT mit Sitz in Budapest ist und voraussichtlich für die Zeit vom 21. März 2008 bis zum 20. März 2009 zur beschwerdeführenden Partei (bzw. deren Rechtsvorgängerin (SSV S. GmbH)) entsendet wird. Das Arbeitsentgelt und den Sozialversicherungsbeitrag des entsandten Arbeitnehmers bezahle die ungarische Arbeitgeberin. Der Versicherte unterliege gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchstabe A der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 für die Zeit vom 21. März 2008 bis zum 20. März 2009 weiterhin den Rechtsvorschriften Ungarns.

Wurde in einem Mitgliedstaat gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchstabe A der Verordnung Nr. 574/72 ein Formular E 101 ausgestellt, wonach eine Person den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften dieses Mitgliedstaates unterworfen ist, so ist der zuständige Träger eines anderen Mitgliedstaats an die Angaben in der Bescheinigung gebunden und kann den fraglichen Arbeitnehmer nicht seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellen, so lange die Bescheinigung nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird. Das Formular E 101 ist ein die anderen Mitgliedstaaten bindendes Instrument zur Feststellung der (allenfalls weiterhin bestehenden) Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften jenes Staates, der eine solche Bescheinigung ausgestellt hat, auf Beschäftigungsverhältnisse von Arbeitnehmern (vgl. das Urteil des EuGH vom 10. Februar 2000, Rechtssache C-202/97 - Fitzwilliams FTF, Rz. 49, und das hg. Erkenntnis vom 26. November 2008, Zl. 2006/08/0346, mwN). Der an die Entsendebescheinigung gebundene Mitgliedstaat kann bei Zweifeln über die Richtigkeit der Anwendung der EG-Verordnungen durch den Entsendestaat die "Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer" um Vermittlung anrufen. Führt dies nicht zum Erfolg, kann er schließlich ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 ff EG-V (jetzt: Art. 258 ff AEUV) anstrengen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. September 2006, Zl. 2004/08/0087, mwN)

Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 26. Jänner 2006 in der Rechtssache C-2/05 (Herbosch Kiere NV) zur Vorlagefrage, ob und inwieweit eine Bescheinigung E 101 die innerstaatliche Rechtsordnung des Gaststaates (auch) im Hinblick auf das Bestehen einer arbeitsrechtlichen Bindung zwischen entsendendem Unternehmen und entsandten Arbeitnehmer während der Dauer der Entsendung bindet, ausgeführt, dass es für die Anwendung von Art. 14 Abs. 1 Buchstabe A der Verordnung Nr. 1408/71 erforderlich ist, dass zwischen dem Unternehmen mit einer Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat und den Arbeitnehmern, die dieses Unternehmen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt hat, während der Dauer ihrer Entsendung weiterhin eine arbeitsrechtliche Bindung besteht. Der in der Bescheinigung E 101 enthaltenen Erklärung liege das Bestehen einer solchen Bindung zu Grunde. In dieser Bescheinigung erkläre der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem das Zeitarbeitsunternehmen seine Betriebsstätte habe, dass sein eigenes System der sozialen Sicherheit auf die entsandten Arbeitnehmer während der Dauer der Entsendung anwendbar bleibe. Wegen des Grundsatzes, dass die Arbeitnehmer einem einzigen System der sozialen Sicherheit angeschlossen werden sollten, habe diese Bescheinigung damit notwendig zur Folge, dass das System der sozialen Sicherheit des anderen Mitgliedstaats nicht angewandt werden könne. So lange also eine Bescheinigung E 101 nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt werde, habe der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt sind, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass diese bereits dem Recht der sozialen Sicherheit des Staates unterliegen, in dem das Unternehmen, das sie beschäftigt, seine Betriebsstätte hat. Er könne daher die fraglichen Arbeitnehmer nicht seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellen. Könnte ein zuständiger sozialer Träger des Gaststaates des entsandten Arbeitnehmers eine Bescheinigung E 101 von einem Gericht dieses Staates für ungültig erklären lassen, wäre das auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten gegründete System gefährdet. Ein Gericht des Gaststaates sei daher nicht befugt, die Gültigkeit einer Bescheinigung E 101 im Hinblick auf die Bestätigung der Tatsachen, auf deren Grundlage eine solche Bescheinigung ausgestellt wurde, insbesondere das Bestehen einer arbeitsrechtlichen Bindung zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem entsandten Arbeitnehmer, zu überprüfen (aaO Rz. 32).

§ 1 ASVG knüpft den Geltungsbereich des ASVG an sich bloß an den Beschäftigungsort im Inland an (vgl. zum Territorialitätsprinzip das hg. Erkenntnis vom 4. Juli 1989, VwSlg 12964/A). Die vom zuständigen ungarischen Sozialversicherungsträger für die 39 Personen gültig ausgestellten Bescheinigungen E 101 stellen indes bindend fest, dass in den vorliegenden Fällen österreichisches Sozialversicherungsrecht nicht zur Anwendung kommt. Wegen der durch den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang bewirkten spezifischen Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip fehlt den österreichischen Sozialversicherungsträgern damit ihre internationale Zuständigkeit insoweit, als es um die Beurteilung von Sachverhalten geht, die in dem von der E 101-Bescheinigung umfassten Zeitraum liegen und die das Verhältnis der in der Bescheinigung genannten beschäftigten Personen zu dem in der Bescheinigung genannten österreichischen Unternehmen betreffen. Konsequenterweise hat dies auch für die dem Aussetzungsbeschluss zu Grunde liegende Vorschreibung von Beitragszuschlägen gemäß § 113 Abs. 1 ASVG wegen behaupteter Meldepflichtverletzungen in Bezug auf die genannten Sachverhalte zu gelten.

Im Hinblick auf die vorliegenden Bescheinigungen E 101 für die gegenständlichen Beschäftigungsverhältnisse bestand für die Führung eines Verfahrens über den Beitragszuschlag kein Raum, sodass sich auch die Entscheidung, ein solches Verfahren auszusetzen, als rechtswidrig erweist. Da die belangte Behörde dies verkannt hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Ein Ersatz für Eingabengebühren war wegen der sachlichen Abgabenfreiheit (vgl. § 110 ASVG) nicht zuzusprechen.

Wien, am 16. März 2011

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