VwGH 2009/22/0053

VwGH2009/22/005319.10.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Farcas, über die Beschwerde des S in W, vertreten durch Dr. Farid Rifaat, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 28. April 2008, Zl. 151.364/2- III/4/08, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §50;
EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §50;
EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 28. April 2008 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines tunesischen Staatsangehörigen, vom 17. Dezember 2003 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Rahmen der Familienzusammenführung mit seiner österreichischen Ehefrau gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass sich der Beschwerdeführer seit mindestens 20. Oktober 2003 illegal im Bundesgebiet aufhalte, weil er am selben Tag hier eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet habe.

Gemäß § 21 Abs. 1 NAG seien Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung sei im Ausland abzuwarten. Da sich der Beschwerdeführer nicht rechtmäßig in Österreich aufgehalten habe, stehe § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung des gegenständlichen Antrages entgegen. Die Ehe mit einer österreichischen Staatsangehörigen "stellt keinesfalls ein Aufenthaltsrecht nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht dar". Die öffentliche Ordnung werde schwerwiegend beeinträchtigt, wenn sich einwanderungswillige Fremde unerlaubt in Österreich aufhielten und damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen stellten.

Gemäß § 74 NAG könne die Behörde von Amts wegen die Inlandsantragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder die Heilung von sonstigen Verfahrensmängeln zulassen, wenn die Voraussetzungen des § 72 NAG erfüllt würden.

Gemäß § 72 NAG könne die Behörde im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen von Amts wegen eine Aufenthaltsbewilligung erteilen. Besonders berücksichtigungswürdige Gründe lägen insbesondere vor, wenn der Drittstaatsangehörige einer Gefahr gemäß § 50 FPG ausgesetzt sei. Humanitäre Gründe hätten trotz diesbezüglicher Prüfung seitens der belangten Behörde nicht festgestellt werden können. Auch die Ehe mit einer Österreicherin stelle keinen besonders berücksichtigungswürdigen Grund im Sinn des § 72 NAG dar. Es handle sich offensichtlich um eine sogenannte Aufenthaltsehe; das Berufungsverfahren über ein Aufenthaltsverbot sei noch anhängig.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, den gegenständlichen Antrag, der als Erstantrag anzusehen war, im Inland gestellt und entgegen § 21 Abs. 1 NAG die Entscheidung im Inland abgewartet zu haben. Das Recht, die Entscheidung über den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland abzuwarten, kommt im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 NAG (in der Stammfassung) in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG (ebenfalls in der Stammfassung) vor, ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei die Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch (etwa auf Familiennachzug) besteht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 2010, 2008/22/0287).

Aus der Begründung des angefochtenen Bescheides ist abzuleiten, dass die belangte Behörde Gründe für eine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK zu Gunsten des Beschwerdeführers zur Gänze verneint hat. In rechtsirriger Weise sprach sie einer Ehe mit einer Österreicherin von vornherein diesbezüglich die Relevanz ab. Eine Prüfung im Sinn des § 72 NAG (in der Stammfassung) nahm sie lediglich in Bezug auf Gründe nach § 50 FPG (idF vor dem FrÄG 2011) vor.

Zufolge dieses Rechtsirrtums unterließ sie Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers, so zu seiner bereits im Antrag behaupteten Berufstätigkeit. Sie unterließ auch Feststellungen zur angesprochenen Aufenthaltsehe, sondern verwies nur auf das anhängige fremdenpolizeiliche Verfahren.

Dieser Rechtsirrtum ist relevant. Angesichts des über viereinhalbjährigen inländischen Aufenthalts des Beschwerdeführers bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides und seiner ebenso langen Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin sowie seiner behaupteten Berufstätigkeit ist nicht auszuschließen, dass der Beschwerdeführer einen aus Art. 8 EMRK ableitbaren Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung geltend machen könne. Damit aber läge ein besonders berücksichtigungswürdiger Fall im Sinn des § 72 Abs. 1 NAG vor, weshalb die Inlandsantragstellung gemäß § 74 NAG von Amts wegen zuzulassen gewesen wäre (vgl. auch dazu das hg. Erkenntnis 2008/22/0287).

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Bei diesem Ergebnis musste auf die im hg. Beschluss vom 5. Mai 2011, EU 2011/0004 bis 0008, aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen nicht Bedacht genommen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 19. Oktober 2011

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