VwGH 2007/18/0241

VwGH2007/18/024112.4.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pallitsch und den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl sowie die Hofräte Mag. Haunold und Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerden 1. der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien und 2. des CN in W, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 7. März 2007, Zl. UVS-FRG/51/4403/2006- 24, betreffend Erlassung eines befristeten Rückkehrverbotes (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

32004L0038 Unionsbürger-RL Art3 Abs1;
62007CO0551 Sahin VORAB;
62008CJ0127 Metock VORAB;
EURallg;
FrPolG 2005 §2 Abs4 Z10;
FrPolG 2005 §2 Abs4 Z11;
FrPolG 2005 §2 Abs4 Z15;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art3 Abs1;
62007CO0551 Sahin VORAB;
62008CJ0127 Metock VORAB;
EURallg;
FrPolG 2005 §2 Abs4 Z10;
FrPolG 2005 §2 Abs4 Z11;
FrPolG 2005 §2 Abs4 Z15;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Zweitbeschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangten Behörde gegen den Zweitbeschwerdeführer, einen nigerianischen Staatsangehörigen, gemäß § 62 Abs. 1 und 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Rückkehrverbot.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Zweitbeschwerdeführer sei im Dezember 2003 in Österreich eingereist und habe am 19. Dezember 2003 einen Asylantrag gestellt. Diesem Antrag sei mit Bescheid vom 29. Dezember 2003 in erster Instanz keine Folge gegeben worden. Das diesbezügliche Berufungsverfahren sei immer noch anhängig.

Mit Urteil vom 18. Februar 2004 sei der Zweitbeschwerdeführer wegen der Vergehen nach den §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB und nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 Z 4 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten rechtskräftig verurteilt worden. Dem sei zugrunde gelegen, dass der Zweitbeschwerdeführer einen Polizeibeamten mit Gewalt an der Feststellung der Identität des Zweitbeschwerdeführers bzw. seiner Festnahme zu hindern versucht habe, indem er mit Tritten dessen Genitalbereich zu treffen versucht und ihn in den Ringfinger der rechten Hand gebissen habe, wobei der Polizeibeamte durch den Biss in Vollziehung seiner Aufgaben vorsätzlich am Körper verletzt worden sei.

Weiters sei der Zweitbeschwerdeführer mit Urteil des Bezirksgerichts Josefstadt wegen des Vergehens nach § 27 Abs. 1 SMG rechtskräftig zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt worden. Vom Widerruf der seine erste Verurteilung betreffenden bedingten Strafnachsicht sei abgesehen worden. Dem Urteil vom 24. November 2005 sei zugrunde gelegen, dass der Zweitbeschwerdeführer am 5. Juli 2005 in einer näher genannten U-Bahn-Station in Wien 0,4 g Heroin an einen anderen verkauft habe.

Der Zweitbeschwerdeführer sei seit 20. Dezember 2005 mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet. Dieser Ehe entstamme die am 18. Februar 2006 geborene gemeinsame Tochter. Der Zweitbeschwerdeführer habe seine Ehefrau Mitte Oktober 2004 kennen gelernt. Sie habe in W gearbeitet. Infolge der Geburt der Tochter befinde sie sich "noch in Karenz". Sie habe aber "wieder einen Arbeitsplatz in Aussicht". Der Zweitbeschwerdeführer lebe mit seiner Ehefrau und seiner Tochter - sowie der Tochter seiner Ehefrau aus einer früheren Beziehung - im gemeinsamen Haushalt. Seit Juli 2006 arbeite er "vollbeschäftigt als Abwäscher" in einem Hotel. Seit den zuletzt ergangenen Verurteilungen habe der Zweitbeschwerdeführer keine weiteren Straftaten begangen.

In ihren rechtlichen Erwägungen führte die belangte Behörde zunächst zu ihrer Zuständigkeit aus, der Zweitbeschwerdeführer sei nicht als begünstigter Drittstaatsangehöriger im Sinne des FPG anzusehen, weil er seine deutsche Ehefrau weder nach Österreich begleitet habe noch ihr nach Österreich nachgezogen sei. Er könne daher aus der Richtlinie 2004/38/EG keine Rechte in Anspruch nehmen. Allerdings ergebe sich aus der mittlerweile aufgehobenen Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 , dass für Fallkonstellationen, wie sie hier vorliegen, es gemeinschaftsrechtlich geboten sei, den Rechtszug zu einem Tribunal einzuräumen. Da der Verfassungsgesetzgeber mit der Bestimmung des § 9 Abs. 1 Z 1 FPG diese gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben habe umsetzen wollen, bestehe die Zuständigkeit des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien zur Entscheidung über die gegenständliche Berufung.

In der Sache selbst führte die belangte Behörde aus, § 86 Abs. 1 FPG gelte dem "eindeutigen Wortlaut zufolge nur in Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes". Auch eine systematische Interpretation führe nicht zur Annahme, dass eine analoge Anwendung des Regelungssystems des § 86 FPG auch im Verfahren zur Erlassung eines Rückkehrverbotes geboten sei.

Nach Wiedergabe der §§ 60 und 62 FPG führte die belangte Behörde aus, die bisherigen strafgerichtlichen Verurteilungen würden den in § 60 Abs. 2 Z 1 FPG enthaltenen Tatbestand nicht erfüllen. Dies schließe allerdings nicht aus, dass die Erlassung eines Rückkehrverbotes unzulässig sei. Das Rückkehrverbot könne auch dann erlassen werden, wenn zwar keiner der in § 60 Abs. 2 FPG aufgezählten Tatbestände verwirklicht sei, jedoch auf Grund bestimmter, in dieser Bestimmung nicht aufgezählter Tatsachen die in § 62 Abs. 1 FPG umschriebene Gefährlichkeitsprognose zu treffen sei. Im Weiteren legte die belangte Behörde dar, weshalb die Annahme der in dieser Bestimmung ausgedrückten Gefährdung gerechtfertigt sei.

Angesichts der vom Zweitbeschwerdeführer gesetzten Straftaten sei - so die belangte Behörde abschließend zur Gefährdungsprognose - auch eine Gefährdung im Sinne des § 86 Abs. 1 FPG zu bejahen.

Im Anschluss führte die belangte Behörde aus, weshalb die Erlassung des Rückkehrverbotes auch unter dem Blickwinkel des § 66 FPG (iVm § 62 Abs. 3 FPG) zulässig sei.

II.

Gegen diesen Bescheid erhob die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (die Erstbeschwerdeführerin) Amtsbeschwerde, mit der sie sich gegen die Zuständigkeit der belangten Behörde richtet. Der Zweitbeschwerdeführer bekämpft mit seiner gegen denselben Bescheid gerichteten Beschwerde die Erlassung des Rückkehrverbotes. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die verbundenen Beschwerden nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Die Erstbeschwerdeführerin macht geltend, eine Zuständigkeit der belangten Behörde zur Entscheidung über die Berufung des Zweitbeschwerdeführers sei nicht gegeben, weil er keinerlei gemeinschaftsrechtliche (nunmehr: unionsrechtliche) Begünstigung für sich in Anspruch nehmen könne. Dieses Vorbringen ist nicht berechtigt.

Gemäß der Verfassungsbestimmung des § 9 Abs. 1 FPG entscheiden über Berufungen gegen Entscheidungen nach diesem Bundesgesetz, sofern nichts anderes bestimmt ist, im Fall von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen, die Unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern (Z 1) und in allen anderen Fällen die Sicherheitsdirektionen (Z 2) in letzter Instanz. Zur hier relevanten Frage, ob der Zweitbeschwerdeführer im Sinn des § 9 Abs. 1 Z 1 FPG als begünstigter Drittstaatsangehöriger anzusehen ist, hat der Verwaltungsgerichtshof unter Hinweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 25. Juli 2008, C-147/08 , Rs. Metock ua., festgehalten, dass sich ein Drittstaatsangehöriger, der Ehepartner eines Unionsbürgers, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, ist und diesen Unionsbürger begleitet oder ihm nachzieht, sich auf die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG unabhängig davon berufen kann, wann und wo die Ehe geschlossen wurde oder wie der betreffende Drittstaatsangehörige in den Aufnahmemitgliedstaat gelangt ist. Demzufolge haben Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, eine aus dem Gemeinschaftsrecht (nunmehr: Unionsrecht) erfließende Berechtigung zum Aufenthalt im Bundesgebiet auch dann, wenn sie sich schon vor Begründung der familiären Beziehung im Bundesgebiet aufgehalten haben (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2010, Zl. 2009/21/0379).

Im vorliegenden Fall hat - ausgehend von den unbestritten gebliebenen Feststellungen der belangten Behörde - die zwecks Ausübung einer Erwerbstätigkeit in W lebende Ehefrau des Zweitbeschwerdeführers, die deutsche Staatsangehörige ist, unzweifelhaft das ihr zustehende Recht auf Freizügigkeit ausgeübt.

Vor diesem Hintergrund hat die belangte Behörde nach dem oben Gesagten im Ergebnis ihre Zuständigkeit zu Recht bejaht.

Dennoch ist der angefochtene Bescheid aufzuheben.

Der Zweitbeschwerdeführer wendet sich gegen die Ansicht der belangten Behörde, sie dürfe das Rückkehrverbot ohne Berücksichtigung der in § 86 Abs. 1 FPG enthaltenen Kriterien erlassen und bestreitet das Vorliegen einer danach maßgeblichen Gefährdung.

Nach § 86 Abs. 1 (erster bis vierter Satz) FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen (u.a.) einen begünstigten Drittstaatsangehörigen nur dann zulässig, wenn auf Grund dessen persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne Weiteres diese Maßnahme begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung klargestellt, dass die in § 86 Abs. 1 FPG genannten Kriterien für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes auch bei der Beurteilung, ob ein Rückkehrverbot erlassen werden darf, als maßgeblich anzusehen sind (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 26. August 2010, Zl. 2010/21/0249). Soweit die belangte Behörde davon ausgeht, die Anwendung des in § 86 Abs. 1 FPG ausgedrückten Gefährdungsmaßstabes sei gesetzlich nicht geboten, hat sie somit die Rechtslage verkannt.

Bei der demnach hier zu treffenden Prognosebeurteilung kommt es, wie bei den in Relation zu dieser Bestimmung ein geringeres Maß verlangenden Gefährdungsprognosen nach § 60 Abs. 1 FPG und § 56 Abs. 1 FPG, und ebenso wie bei jener nach § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG, die gegenüber § 86 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG einen noch strengeren Maßstab aufstellt, in Bezug auf strafgerichtliche Verurteilungen letztlich immer auf das zugrunde liegende Verhalten an. Es ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. November 2008, Zl. 2008/21/0603).

Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde zutreffend erkannt, dass die Verurteilungen des Zweitbeschwerdeführers nicht einmal den Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG erfüllen, so dass anhand dessen das Vorliegen einer in § 60 Abs. 1 FPG ausgedrückten Gefährdung nicht als indiziert angesehen werden kann. Zutreffend hat die belangte Behörde darauf hingewiesen, dass dies zwar allein noch nicht die Zulässigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ausschließe (vgl. zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nach § 60 Abs. 1 FPG auch dann, wenn einer der in § 60 Abs. 2 FPG enthaltenen Tatbestände nicht erfüllt ist, etwa das hg. Erkenntnis vom 28. August 2008, Zl. 2008/22/0630). Es kann aber im vorliegenden Fall noch weniger davon ausgegangen werden, es wäre ohne Weiteres die Annahme des Bestehens der gegenüber § 60 Abs. 1 FPG strengere Maßstäbe fordernden Gefährdungen erfüllt. Eine konkrete Begründung, warum dies für den noch strengeren Maßstab des § 86 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG ohne Weiters gesagt werden könnte, bleibt die belangte Behörde schuldig. Der bloße Hinweis, dass die Erlassung des Rückkehrverbotes angesichts der vom Zweitbeschwerdeführer gesetzten Straftaten "auf dem Boden der Bestimmung des § 86 Abs. 1 FPG" zulässig sei, ist vor diesem Hintergrund nicht ausreichend.

Die belangte Behörde gesteht dem Zweitbeschwerdeführer im angefochtenen Bescheid eine tiefgreifende Änderung seiner Lebensumstände zu. Soweit die belangte Behörde darauf abstellt, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Zweitbeschwerdeführer (wieder) eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen könnte, falls sich seine Lebensumstände wieder änderten, wie etwa durch Verlust des Arbeitsplatzes, Abweisung des Asylantrages oder Änderung in der familiären Situation, so stellt sie überhaupt nicht dar, dass dafür eine konkrete sachverhaltsbezogene Grundlage gegeben wäre. Sohin handelt es sich dabei lediglich um von der belangten Behörde in den Raum gestellte Ereignisse, deren Eintritt gänzlich ungewiss ist. Vor diesem Hintergrund kann aber nicht davon ausgegangen werden, die belangte Behörde hätte in gesetzmäßiger Weise dargelegt, inwieweit vom Zweitbeschwerdeführer im Entscheidungszeitpunkt (immer noch) eine tatsächliche, erhebliche und - insbesondere - gegenwärtige Gefahr ausgehe, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre.

Sohin war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 12. April 2011

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