VwGH 2008/19/0195

VwGH2008/19/019519.11.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke, den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Rehak, sowie die Hofräte Dr. Fasching und Mag. Feiel als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des H, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/2/23, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 10. Jänner 2008, Zl. 316.067-1/4E-XI/33/07, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

32003R0343 Dublin-II;
AsylG 2005 §5 Abs3;
32003R0343 Dublin-II;
AsylG 2005 §5 Abs3;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im Sommer 2007 über die türkisch-griechische Grenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und gelangte in der Folge - ohne zuvor einen Asylantrag gestellt zu haben - in das Bundesgebiet, wo er am 19. September 2007 um internationalen Schutz ansuchte.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück. Für seine Prüfung erklärte sie gemäß Art. 10 Abs. 1 iVm Art. 18 Abs. 7 Dublin-Verordnung Griechenland für zuständig und sie wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 dorthin aus. Demzufolge sei die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Griechenland gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig.

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass Griechenland für die Prüfung des gegenständlichen Asylantrages nach den Kriterien der Dublin-Verordnung zuständig sei. Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung lägen nicht vor. Es existierten keine von Amts wegen aufzugreifenden Anhaltspunkte dafür, dass Griechenland etwa rechtliche Sonderpositionen vertrete, nach denen für den Beschwerdeführer auch bei Zugrundelegung der Behauptung einer Verfolgung im Herkunftsstaat eine Schutzverweigerung zu erwarten wäre. Das diesbezügliche Vorbringen des Beschwerdeführers sei unsubstanziiert und stelle eine bloße (unplausible) Behauptung dar. Nach den "Länderfeststellungen" habe der Beschwerdeführer vollen Zugang zum Asylverfahren; den "Länderfeststellungen" könne nicht entnommen werden, dass es in Griechenland kein Aufnahmezentrum für Asylanten gebe und der Umgang der Polizei mit Asylanten generell Art. 3 EMRK verletze. Das Vorbringen des Beschwerdeführers betreffend die Misshandlung von ihm bekannten Personen in Griechenland durch die Sicherheitsbehörden sei - aus näher umschriebenen Gründen - nicht glaubhaft. Dem pauschalen Vorbringen, dass die Feststellungen über die Situation der Asylwerber in Griechenland veraltet, falsch oder im Widerspruch zu zahlreichen Berichten von Menschenrechtsorganisationen stünden, könne mangels konkreter Ausführungen nicht entsprechend begegnet werden.

Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde mit dem Antrag, ihn "gem. § 42 Abs. 2 VwGG" aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und beantragte, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Die Beschwerde macht - zusammengefasst - geltend, dass dem Beschwerdeführer bei Überstellung nach Griechenland eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohe. In diesem Zusammenhang habe der Beschwerdeführer in seiner Berufung auch auf entsprechendes Berichtsmaterial Bezug genommen. Die Feststellung der belangten Behörde, dass er kein Vorbringen erstattet habe, aufgrund dessen anzunehmen wäre, dass er durch die Verbringung nach Griechenland in seinen Rechten nach Art. 3 EMRK verletzt würde, sei mit dem Akteninhalt nicht in Einklang zu bringen.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde einen relevanten Verfahrensmangel auf.

2. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 (in der im vorliegenden Fall noch maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 100/2005) ist ein nicht gemäß § 4 erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Asylantrags oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist.

Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist gemäß § 5 Abs. 3 AsylG 2005 davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.

3. Im vorliegenden Fall ist fraglich, ob die Überstellung des Beschwerdeführers nach Griechenland seine durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte verletzten würde und Österreich deshalb von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch hätte machen müssen.

Eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte könnte einem Asylwerber dadurch drohen, dass er bei Überstellung nach Griechenland trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt wäre (Kettenabschiebung; vgl. etwa Punkt 2.2. der Entscheidungsgründe des hg. Erkenntnisses vom 25. April 2006, Zl. 2006/19/0673, mwN), dass er dort (schutzlos) körperlichen Misshandlungen insbesondere durch Sicherheitskräfte ausgesetzt wäre (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 8. Juli 2006, Zl. 2005/01/0317) oder dass ihm Unterkunft und Versorgung nicht (rechtzeitig) zur Verfügung gestellt würde und er deshalb keine Lebensgrundlage vorfindet (vgl. dazu allgemein etwa das hg. Erkenntnis vom 6. November 2009, Zl. 2008/19/0174, und im Besonderen zur Lage in Griechenland jüngst das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 7. Oktober 2010, U 694/10).

4. Die belangte Behörde bezog sich in ihrer Entscheidung auf "Länderfeststellungen" zu Griechenland, ohne solche selbst getroffen zu haben. Bei den erwähnten "Länderfeststellungen" konnte es sich daher nur um jene handeln, die vom Bundesasylamt im erstinstanzlichen Bescheid getroffen wurden.

Darin hielt das Bundesasylamt - zusammengefasst - fest, Griechenland gewähre Flüchtlingen Konventionsstatus und humanitären Status bzw. respektiere in der Praxis den Schutz vor Refoulement. Seitens vieler NGOS werde den griechischen Behörden allerdings gelegentlich unterstellt, diese Refoulementbestimmungen bei potentiell neuen Asylwerbern nicht immer zur vollen Anwendung zu bringen. Während des Asylverfahrens habe jeder Asylwerber Zugang zu "öffentlichen medizinischer und gesundheitlicher Versorgung", dürfe legal einer Arbeit nachgehen und habe das Recht, in Aufnahmezentren Unterkunft zu erhalten. An anderer Stelle der Feststellungen führte das Bundesasylamt allerdings auch aus, dass unzureichend ausgestattete Aufnahmelager und das mangelhaft entwickelte System der Flüchtlingsversorgung und Wohlfahrt kritisiert würden.

5. In seiner Berufung gegen die erstinstanzliche Entscheidung führte der Beschwerdeführer unter anderem aus, die Feststellungen im erstinstanzlichen Bescheid über Griechenland gäben nicht die tatsächliche Situation von Asylwerbern in diesem Land wieder. Sie beruhten teilweise auf veralteten Quellen und Absichtserklärungen, seien teilweise schlichtweg falsch und stünden im Widerspruch zu zahleichen übereinstimmenden Berichten von Menschenrechts- und internationalen Organisationen. Wenn die Erstbehörde davon ausgehe, dass der Beschwerdeführer in Griechenland adäquat versorgt wäre und daher keiner Gefahr einer Art. 3 EMRK Verletzung vorläge, sei festzuhalten, dass die Erstbehörde selbst feststelle, Aufnahmelager seien unzureichend ausgestattet und die Flüchtlingsversorgung mangelhaft. Dass sich diese Situation geändert habe, könne nicht erkannt werden. Die Erstbehörde übersehe, dass die angeführten sozialen Leistungen von Unterbringung bis zur medizinischen Versorgung in der notwendigen Qualität und Quantität nur in der Theorie bestünden. In der Praxis gebe es in Griechenland nur etwa 700 Unterbringungsplätze für Asylwerber und dementsprechend oft seien Asylwerber obdachlos. Einschlägige Richtlinien der Europäischen Union seien in Griechenland rechtlich noch nicht umgesetzt und es werde Griechenland bereits seit Jahren dafür kritisiert. In - näher präzisierten - Berichten werde auch darauf hingewiesen, dass Asylwerber in Griechenland wiederholt Opfer von Misshandlungen (durch die Sicherheitsbehörden) würden.

6. Ausgehend von diesem durch Hinweise auf die zu Grunde liegenden Berichte auch substantiierten Berufungsvorbringen ist es nicht nachvollziehbar, wenn die belangte Behörde in ihrer Bescheidbegründung argumentiert, es könne ihm "mangels konkreter Ausführungen nicht entsprechend begegnet werden".

§ 5 Abs. 3 AsylG 2005 enthält zwar eine Beweisregel, die es - im Hinblick auf die vom Rat der Europäischen Union vorgenommenen normative Vergewisserung - grundsätzlich nicht notwendig macht, die Sicherheit des Asylwerbers vor "Verfolgung" in dem nach der Dublin-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat (insbesondere gemeint im Sinne der Achtung der Grundsätze des Non-Refoulement durch diesen Staat) von Amts wegen in Zweifel zu ziehen. Die damit aufgestellte Sicherheitsvermutung ist jedoch widerlegt, wenn besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung in diesem Mitgliedstaat sprechen (vgl. dazu grundlegend bereits das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2007, Zl. 2006/01/0949, und zu Griechenland im Besonderen etwa das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2008/19/0593, mwN).

Im vorliegenden Fall hat sich die belangte Behörde nicht darauf zurückgezogen, die Lage in Griechenland im Hinblick auf § 5 Abs. 3 AsylG 2005 keiner Überprüfung unterziehen zu müssen. Eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Berufungsvorbringen hat sie jedoch - wie oben dargelegt - unterlassen und sich insbesondere mit den Ungereimtheiten in den Länderfeststellungen der ersten Instanz betreffend die Versorgungslage von Asylwerbern, die in der Berufung ausdrücklich angesprochen wurde, nicht auseinandergesetzt.

Es kann daher auch noch nicht abschließend beurteilt werden, ob es die Versorgungslage in Griechenland oder andere Umstände tatsächlich erforderlich machen, zur Vermeidung einer Verletzung von Art. 3 EMRK vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 19. November 2010

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