VwGH 2008/18/0615

VwGH2008/18/061525.11.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok, den Hofrat Dr. Enzenhofer, die Hofrätin Mag. Merl und die Hofräte Dr. Lukasser und Mag. Haunold als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des A I in H, geboren 1978, vertreten durch Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kärntner Ring 6, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 13. Mai 2008, Zl. E1/405.596/2007, betreffend Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (der belangten Behörde) vom 13. Mai 2008 wurde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 60 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 1 Fremdenpolizeigesetz - FPG, BGBl. I Nr. 100, ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

Der Beschwerdeführer sei in Wien geboren worden und bis 5. September 1985 im Bundesgebiet aufrecht gemeldet gewesen. Danach sei er in die Türkei verzogen und seit 14. März 1994 wiederum im Bundesgebiet mit Hauptwohnsitz gemeldet. Er verfüge über einen Aufenthaltstitel.

Zwischen 2000 und 2006 sei der Beschwerdeführer insgesamt viermal strafgerichtlich verurteilt worden, wobei sowohl die Verurteilungen als auch die diesen zugrunde liegenden Straftaten im angefochtenen Bescheid ausführlich dargelegt wurden.

Aus diesen Verurteilungen zog die belangte Behörde den Schluss, dass der Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z. 1 FPG erfüllt sei.

Die Eltern des Beschwerdeführers seien 1973 nach Österreich gekommen. 1978 sei der Beschwerdeführer, 1979 und 1984 dessen Brüder in Österreich geboren worden. Aus familiären Gründen habe er von 1985 bis 1993 in der Türkei gelebt. Seit 1993 habe er in Wien die Hauptschule besucht und ein "unbefristetes Visum" erhalten. 1997 und 1998 habe er bei seinem Onkel in einem Obst- und Gemüsegeschäft gearbeitet; 1999 sei er bei einer Reinigungsfirma beschäftigt gewesen. 2004 und 2005 habe der Beschwerdeführer in einem Lokal gearbeitet. 1999 habe er in der Türkei geheiratet und am 10. September 2000 Zwillingstöchter bekommen. Die Kernfamilie lebe in der Türkei. Der Beschwerdeführer lebe bei seinem Vater und treffe sich regelmäßig mit Freunden und seinen Onkeln sowie deren Familien in Österreich. Er sei auf Grund seiner Suchtgifterkrankung kriminell geworden, habe jedoch eine Therapie gemacht.

Im Rahmen der Interessenabwägung gemäß § 66 FPG gelangte die belangte Behörde zu dem Ergebnis, dass diese zu Ungunsten des Beschwerdeführers ausfallen müsse.

Von der Erlassung des Aufenthaltsverbotes könne auch nicht im Rahmen des der belangten Behörde zustehenden Ermessens Abstand genommen werden.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde mit dem Begehren, diesen aufzuheben.

3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragt in der Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1.1. Die Beschwerde bringt vor, der Beschwerdeführer sei türkischer Staatsangehöriger und habe zuletzt über einen Befreiungsschein verfügt. Vor seiner Inhaftierung sei er legal im Bundesgebiet unselbständig erwerbstätig gewesen und habe Zugang zum Arbeitsmarkt gehabt. Es handle sich beim Beschwerdeführer um einen nach Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB) berechtigte Person türkischer Staatsangehörigkeit, sodass er im vorliegenden Fall begünstigter Drittstaatsangehöriger im Sinn des § 9 Abs. 1 FPG sei. Da sein Vater türkischer Staatsangehöriger und der Beschwerdeführer im Rahmen der Familienzusammenführung nach Österreich zugewandert sei, wäre er auch von Art. 7 ARB erfasst. Daher wäre gemäß § 9 Abs. 1 Z. 1 FPG der Unabhängige Verwaltungssenat Wien zuständig gewesen, die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien sei im vorliegenden Fall unzuständig gewesen.

1.2. Gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat (erster Spiegelstrich) nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt; (zweiter Spiegelstrich) nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben; (dritter Spiegelstrich) nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis. Für den erstmaligen Erwerb der Rechtsposition im Sinne des ersten Spiegelstrichs des Art. 6 Abs. 1 ARB kommt es unter anderem auf die ununterbrochene Fortdauer der Beschäftigung durch mindestens ein Jahr an (vgl. das hg. Erkenntnis vom 15. September 2010, Zl. 2007/18/0908, mwN).

Die Berechtigung nach Art. 7 Satz 1 erster Spiegelstrich ARB hängt vom Vorliegen der folgenden Voraussetzungen ab:

a) Der Betroffene muss ein Familienangehöriger des türkischen Arbeitnehmers sein,

b) letzterer muss dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates angehören,

c) der Familienangehörige muss die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, und

d) er muss in diesem Mitgliedstaat seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz über drei Jahre haben (vgl. zu diesen Kriterien das bereits zitierte hg. Erkenntnis vom 15. September 2010, mwN).

1.3. Den Feststellungen des angefochtenen Bescheides zufolge wurde der Beschwerdeführer in Wien geboren, hielt sich zwischen 1985 und 1993 in der Türkei auf, kehrte dann nach Österreich zurück, besuchte seit 1993 in Wien die Hauptschule, lebt mit seinem Vater im gemeinsamen Haushalt und verfügt über ein "unbefristetes Visum", laut Verwaltungsakt mit dem Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft mit Fremden"; 1997 und 1998 hat er bei seinem Onkel in einem Obst- und Gemüsegeschäft, 1999 bei einer Reinigungsfirma und 2004 und 2005 in einem Lokal gearbeitet.

Die dargestellten Umstände bieten gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass dem Beschwerdeführer die Rechtsstellung sowohl nach Art. 6 als auch nach Art. 7 ARB zukommen könnte. Zu der Frage der Zuständigkeit der belangten Behörde enthält der angefochtene Bescheid jedoch keine Ausführungen. Es kann daher nicht beurteilt werden, ob der Beschwerdeführer die Rechtsstellung nach Art. 6 oder 7 ARB erworben hat und ob er dieser - etwa durch eine Abwesenheit über einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe - allenfalls wieder verlustig wurde (vgl. nochmals das hg. Erkenntnis vom 15. September 2010, mwN).

1.4. Soweit die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift vorbringt, der Unabhängige Verwaltungssenat Wien sei auf Grund durchgeführter Erhebungen zu dem Schluss gelangt, der Beschwerdeführer habe seinen Status als assoziationsintegrierter türkischer Staatsbürger verloren, weil er zwischen Ende Juli 1999 und 24. März 2000, also während eines Zeitraumes von etwa acht Monaten, nicht im österreichischen Staatsgebiet aufhältig gewesen sei und einem Versicherungsdatenauszug zufolge nach seiner Wiedereinreise im Zeitraum vom 3. April 2000 bis 6. Juni 2005 insgesamt nur wenige Monate erwerbstätig gewesen sei, ist dem entgegenzuhalten, dass eine solche Begründung dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen ist; nach ständiger hg. Judikatur kann der Mangel einer Bescheidbegründung nicht durch entsprechende Ausführungen in der Gegenschrift beseitigt werden (vgl. dazu die in Mayer, B-VG4 (2007) § 36 VwGG I. zitierte Judikatur). Im Übrigen wären auch diese Ausführungen nicht ausreichend für eine abschließende Beurteilung des relevanten Sachverhaltes.

1.5. Käme dem Beschwerdeführer eine Berechtigung nach dem ARB zu, hätte er im Sinn der zitierten hg. Rechtsprechung Anspruch auf ein Verfahren vor einem Tribunal. In diesem Fall wäre zur Entscheidung über die gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobene Berufung nicht die belangte Behörde, sondern der Unabhängige Verwaltungssenat Wien zuständig gewesen.

2. Das Fehlen derartiger Feststellungen stellt einen die Beurteilung der Zuständigkeit der belangten Behörde hindernden und somit relevanten Verfahrensmangel dar. Aus diesem Grund war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

3. Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 25. November 2010

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