Normen
62006CJ0242 T. Sahin VORAB;
ARB1/80 Art13;
FrG 1997 §16 Abs1b;
NAG 2005 §10 Abs3 Z4;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs3;
62006CJ0242 T. Sahin VORAB;
ARB1/80 Art13;
FrG 1997 §16 Abs1b;
NAG 2005 §10 Abs3 Z4;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs3;
Spruch:
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 2.572,80 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit den beiden angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheiden je vom 12. November 2007 wies die belangte Behörde die Beschwerdeführer, ein türkisches Ehepaar und seine vier minderjährigen Kinder, gemäß §§ 31, 53 und 66 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich aus.
Die belangte Behörde begründete diese Bescheide im Wesentlichen gleich lautend damit, dass den Eltern und der 1993 geborenen Tochter (erst- bis drittbeschwerdeführende Parteien) 1995 unbefristete Aufenthaltsbewilligungen erteilt worden seien. Diese nunmehr nach der Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung - NAG-DV als Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-EG" zu wertenden Bewilligungen seien gemäß § 10 Abs. 3 Z 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG gegenstandslos geworden, weil die Familie im Juli 1997 aus familiären Gründen Österreich verlassen und ihre Niederlassung im Bundesgebiet über mehr als sechs Jahre hindurch aufgegeben habe. Der Erstbeschwerdeführer halte sich erst seit 11. Mai 2004 wieder in Österreich auf, die Zweitbeschwerdeführerin und die Drittbeschwerdeführerin "zumindest seit dem 9.8.2004". Die - in der Türkei geborenen - viert- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien seien "zumindest seit dem 3.1.2006" in Österreich und seien zum Zeitpunkt ihrer Einreise ins Bundesgebiet im Besitz von jeweils am 31. Dezember 2005 ausgestellten und bis 30. Jänner 2006 gültigen Touristenvisa gewesen. Alle Beschwerdeführer befänden sich demzufolge nunmehr rechtswidrig im Bundesgebiet, bezüglich der erst- bis drittbeschwerdeführenden Parteien sei im Hinblick darauf, dass ihr bisheriger Aufenthaltstitel ex lege erloschen sei, bereits die Einreise nicht rechtmäßig erfolgt.
In Anbetracht der Tatsache, dass die erst- bis drittbeschwerdeführenden Parteien langjährig in Österreich aufhältig gewesen seien, dass der Erstbeschwerdeführer nunmehr berufstätig sei und dass die Kinder in die Schule gingen, sei den Beschwerdeführern eine diesen Umständen entsprechende Integration zuzubilligen. Angesichts des seit der Einreise bzw. seit Ablauf der Gültigkeit der Touristenvisa rechtswidrigen Aufenthalts, der nicht legitimiert werden könne, sei diese Integration jedoch in erheblichem Ausmaß gemindert. Soweit die Beschwerdeführer in ihrer Berufung gegen die erstinstanzlichen Ausweisungsbescheide vorgebracht hätten, ihre seinerzeitige Ausreise in die Türkei sei wegen der schweren Erkrankung eines Kindes erfolgt und nach dessen Tod seien sie nach Österreich zurückgekehrt, werde ihnen entgegnet, dass das Kind bereits am 10. November 2002 - somit ca. eineinhalb Jahre vor der Wiedereinreise des Erstbeschwerdeführers nach Österreich - verstorben sei.
Den für die Einreise und den Aufenthalt von Fremden getroffenen Regelungen und deren Beachtung durch die Normadressaten komme - so die belangte Behörde weiter - aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein sehr hoher Stellenwert zu. Bereits ein mehrmonatiger unrechtmäßiger Aufenthalt gefährde die öffentliche Ordnung in hohem Maße, die Ausweisung der Beschwerdeführer sei demnach gemäß § 66 Abs. 1 FPG zur Wahrung der öffentlichen Ordnung dringend geboten. Auch im Hinblick auf das der Behörde eingeräumte Ermessen könne von der Ausweisung der Beschwerdeführer nicht abgesehen werden.
Über die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage erwogen:
Den erst- bis drittbeschwerdeführenden Parteien waren 1995 unbefristete Aufenthaltsbewilligungen erteilt worden. Die belangte Behörde hat ihren Ausweisungsbescheiden zugrunde gelegt, dass diese Berechtigungen gemäß § 10 Abs. 3 Z 4 NAG gegenstandslos geworden und damit ex lege erloschen seien, weshalb sich die genannten Beschwerdeführer nunmehr unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten.
Dabei hat die belangte Behörde aber Folgendes übersehen:
Die Beschwerdeführer sind türkische Staatsangehörige. Es ist daher die Stillhalteklausel nach Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des von dem auf Grund des Abkommens über eine Assoziation zwischen der EWG und der Türkei eingesetzten Assoziationsrates (ARB) zu beachten, derzufolge die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (und die Türkei) für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen dürfen. Diese Klausel entfaltet unmittelbare Wirkung und sie schließt bezüglich türkischer Staatsangehöriger, die sich ordnungsgemäß im Inland niedergelassen haben, die Anwendbarkeit aller danach neu eingeführten rechtlichen Hindernisse für den Zugang zum Arbeitsmarkt aus. Von dieser Rechtsfolge sind alle Regelungen betroffen, die die abstrakte Eignung besitzen, den Zugang zur Beschäftigung zu beschränken (vgl. im Einzelnen Metin Akyürek, Das Assoziationsabkommen EWG-Türkei, Aufenthalt und Beschäftigung von türkischen Staatsangehörigen in Österreich (2005), 162 ff und die dort zitierte Judikatur des EuGH; vgl. zuletzt auch dessen Urteil vom 17. September 2009 in der Rechtssache C-242/06 "T. Sahin").
Die erst- bis drittbeschwerdeführenden Parteien sind unstrittig, nach einem etwa siebenjährigen Aufenthalt in der Türkei, 2004 wieder nach Österreich eingereist. Es kann schon angesichts ihrer Wohnsitznahme in Österreich vor dem Hintergrund des § 2 Abs. 2 NAG kein Zweifel daran bestehen, dass sie seither (wieder) im Inland niedergelassen sind, zumal der Aktenlage zu entnehmen ist, dass jedenfalls der Erstbeschwerdeführer die Ausstellung eines Niederlassungsnachweises beantragte und sich - offenkundig erfolgreich - um die Aufnahme einer Beschäftigung bemühte. Diese Niederlassung war auf Basis der seinerzeit erteilten unbefristeten Aufenthaltsbewilligungen aber auch zum hier maßgeblichen Zeitpunkt, dem Inkrafttreten des NAG und damit auch seines § 10 Abs. 3 Z 4 am 1. Jänner 2006, ordnungsgemäß. Zwar hatte die belangte Behörde mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid vom 27. Dezember 2004 ausgesprochen, dass der dem Erstbeschwerdeführer am 29. Juni 1995 von der Bezirkshauptmannschaft Kirchdorf/Krems erteilte unbefristete Aufenthaltstitel gemäß § 16 Abs. 1b Fremdengesetz 1997 für ungültig erklärt werde. Auf Grund der dagegen erhobenen Beschwerde, der zunächst mit hg. Beschluss vom 14. Februar 2005, Zl. AW 2005/18/0043, die aufschiebende Wirkung zuerkannt worden war, hob der Verwaltungsgerichtshof allerdings den genannten Bescheid mit Erkenntnis vom 13. Juni 2006, Zl. 2005/18/0045, wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde rückwirkend (§ 42 Abs. 3 VwGG) auf, sodass ihm keine die Ordnungsgemäßheit der Niederlassung des Erstbeschwerdeführers beeinträchtigende Wirkung zukommen kann. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 28. April 2008, Zl. 2005/18/0693, ausgesprochen hat, war davon abgesehen § 16 Abs. 1b Fremdengesetz 1997 auf einen Fall wie den vorliegenden - ab Rückkehr des Erstbeschwerdeführers 2004 - aber von vornherein nicht anwendbar, weil die Ungültigerklärung eines Aufenthaltstitels nach dieser Bestimmung nur dann möglich war, wenn der Fremde zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides sowohl seinen Niederlassungswillen aufgegeben hatte als auch seine Niederlassung in Österreich beendet hatte. Das war (siehe oben) hier gerade nicht der Fall, weil sich der Erstbeschwerdeführer bereits wieder in Österreich niedergelassen hatte.
Angesichts dessen und angesichts des Umstandes, dass ein Außerkrafttreten von Gesetzes wegen bei (früherer) Verwirklichung der besagten Umstände (Aufgabe des Niederlassungswillens und Beendigung der Niederlassung in Österreich) im Fremdengesetz 1997 nicht vorgesehen war (vgl. dazu abermals das soeben zitierte hg. Erkenntnis vom 28. April 2008), erweist sich die am 1. Jänner 2006 in Kraft getretene Bestimmung des § 10 Abs. 3 Z 4 NAG aber im Sinn des zuvor Ausgeführten aus der Sicht der erstbis drittbeschwerdeführenden Parteien als neue Beschränkung für den Zugang zum Arbeitsmarkt im Sinn des Art. 13 ARB. Diese Bestimmung darf daher auf sie nicht angewendet werden, was den gegenständlichen Ausweisungen - gegenüber den viert- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien im Grunde des § 66 FPG - den Boden entzieht. Die angefochtenen Bescheide waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am 24. Juni 2010
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