VwGH 2009/22/0213

VwGH2009/22/021322.9.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl sowie die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des M, vertreten durch die Rechtsanwälte Summer, Schertler, Stieger und Droop in 6900 Bregenz, Kirchstraße 4, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Vorarlberg vom 25. Juni 2009, Zl. UVS-410a-012/E10-2009, betreffend Aufenthaltsverbot, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2 idF 2009/I/029;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
EMRK Art8;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2 idF 2009/I/029;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
EMRK Art8;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.211,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem zitierten, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß den §§ 60 Abs. 1 und Abs. 2 Z 1 iVm (u.a.) § 86 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot.

Dieser Maßnahme legte die belangte Behörde die Feststellungen zu Grunde, dass der Beschwerdeführer im Jahr 1971 in der Türkei geboren worden und im Alter von sechs Jahren nach Österreich gekommen sei. Er sei im Besitz eines unbefristeten Aufenthaltstitels. Seine Mutter würde in Österreich leben, ebenso fünf seiner Geschwister, wovon zwei österreichische Staatsbürger seien. Ein Bruder lebe in der Türkei. Der Beschwerdeführer sei ledig und habe keine Sorgepflichten. Er wohne seit über zwei Jahren in einer Lebensgemeinschaft mit einer österreichischen Staatsbürgerin und sei ab dem Jahr 2001 lediglich insgesamt ein Jahr einer ordentlichen Beschäftigung nachgegangen.

In der Folge listete die belangte Behörde die rechtskräftigen Verurteilungen des Beschwerdeführers auf, beginnend mit jener vom 8. November 1994 wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe sowie vom 23. Jänner 1996 wegen §§ 105 Abs. 1 und 83 Abs. 1 StGB, vom 18. März 1997 nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB und vom 22. März 1999 nach § 89 (§ 81 Abs. 2) StGB jeweils zu einer Geldstrafe. Am 21. Februar 2006 sei der Beschwerdeführer wegen des Vergehens nach § 27 Abs. 1 Suchtmittelgesetz (SMG) und § 50 Abs. 1 Z 2 Waffengesetz zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Mit Urteil vom 24. März 2009 sei er letztlich wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 zweiter und dritter Fall, Abs. 2 Z 3 und Abs. 3 SMG sowie § 28a Abs. 1 fünfter Fall und Abs. 3 SMG und § 27 Abs. 1 Z 1 erster, zweiter und achter Fall und Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren verurteilt worden. Dazu stellte die belangte Behörde die strafbaren Handlungen dar, die im Wesentlichen aus Suchtgiftschmuggel von der Schweiz nach Österreich bestanden hätten.

Bereits im Jahr 1996 sei dem Beschwerdeführer die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes angedroht worden.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, dass dem Beschwerdeführer die Rechtsstellung nach Artikel 6 oder

Artikel 7 ARB zukomme und die den gerichtlichen Verurteilungen zu Grunde liegenden Taten deutlich dokumentieren würden, dass der Beschwerdeführer eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre (§ 86 Abs. 1 zweiter Satz FPG). Dazu verwies die belangte Behörde vor allem auf die Gefährlichkeit der Suchtgiftkriminalität wegen der dabei gegebenen hohen Wiederholungsgefahr. Da die betreffenden Straftaten noch nicht lange zurücklägen und ein Gesinnungswandel beim Beschwerdeführer nicht erkennbar sei, könne eine günstige Zukunftsprognose nicht gestellt werden. Daran ändere nichts, dass die über ihn verhängte unbedingte Freiheitsstrafe gemäß § 39 Abs. 1 SMG zur Durchführung einer Therapie aufgeschoben worden sei und sich der Beschwerdeführer dieser Therapie unterziehe.

Weiters bejahte die belangte Behörde einen mit dem Aufenthaltsverbot verbundenen relevanten Eingriff in das Familien- und Privatleben des Beschwerdeführers und erachtete diesen als zulässig. In diesem Zusammenhang verwies sie auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer auf Grund seiner Volljährigkeit auf das Zusammenleben mit Eltern und Geschwistern nicht angewiesen und außerdem beruflich nicht integriert sei. "Wenn der Berufungswerber vorbringt, dass er zur Türkei kaum mehr soziale Bindungen habe, ist ihm entgegenzuhalten, dass mit dem Aufenthaltsverbot nicht darüber abgesprochen wird, dass er in ein bestimmtes Land auszureisen habe".

Wegen der Verurteilung zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe liege der Aufenthaltsverbots-Verbotsgrund des § 61 Z 3 FPG nicht vor; § 61 Z 4 FPG komme nicht zur Anwendung, weil der Beschwerdeführer nicht von klein auf im Inland aufgewachsen sei.

Auf Grund des schweren Gesamtfehlverhaltens, insbesondere der Rückfälligkeit im Suchtgiftbereich, sei es erforderlich, über den Beschwerdeführer ein unbefristetes Aufenthaltsverbot zu verhängen, um den erwähnten Schutzinteressen entsprechen zu können.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Aktenvorlage samt Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Gegen den Beschwerdeführer als unbestritten assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß § 86 Abs. 1 FPG nur zulässig, wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne Weiteres diese Maßnahme begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Für die Beantwortung der Frage, ob diese Annahme gerechtfertigt ist, ist demnach zu prüfen, ob sich aus dem gesamten Fehlverhalten des Fremden ableiten lässt, dass sein weiterer Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der dieser zugrunde liegenden Straftat und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 19. Februar 2009, 2007/18/0470).

Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers kann ausgehend von der beträchtlichen Suchtmitteldelinquenz des Beschwerdeführers die Ansicht der belangten Behörde nicht als rechtswidrig erkannt werden, dass auch die qualifizierte Gefährdungsprognose nach § 86 Abs. 1 FPG zu Lasten des Beschwerdeführers zu treffen sei.

Gemäß § 66 Abs. 1 iVm § 60 Abs. 6 FPG ist, würde durch ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, diese Maßnahme nur zulässig, wenn sie zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

§ 66 Abs. 2 lautet in der hier maßgeblichen Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009:

"Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;

  1. 2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
  2. 3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
  3. 4. der Grad der Integration;
  4. 5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;
  5. 6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
  6. 7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

    8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren."

    Die Beurteilung nach § 66 Abs. 1 leg. cit., ob ein Aufenthaltsverbot zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist, verlangt eine abwägende Gegenüberstellung der persönlichen Interessen des Fremden am Verbleib in Österreich mit den öffentlichen Interessen an der Erlassung der fremdenpolizeilichen Maßnahme.

    Mit dem Hinweis auf Art. 8 EMRK zeigt die Beschwerde einen dem angefochtenen Bescheid anhaftenden (sekundären) Verfahrensmangel auf. Es kann zwar kein Zweifel daran bestehen, dass das öffentliche Interesse an der Erlassung des Aufenthaltsverbotes zwecks Verhinderung strafbarer Handlungen im Bereich der Suchtmittelkriminalität als sehr schwerwiegend zu werten ist. Dem steht aber das persönliche Interesse des Beschwerdeführers gegenüber, der bereits seit dem Jahr 1977, somit seit seinem sechsten Lebensjahr, in Österreich lebt. Er hat auch in einer Stellungnahme vom 2. April 2009 vorgebracht, dass lediglich ein Bruder von ihm in der Türkei lebe, zu welchem allerdings kaum Kontakt bestehe. Sein Heimatland, welches er im Alter von sechs Jahren für immer verlassen habe, sei ihm fremd. Zu diesem, die fehlenden Bindungen des Beschwerdeführers zur Türkei enthaltenden Vorbringen antwortete die belangte Behörde in der Bescheidbegründung lediglich mit dem Hinweis, dass - wie oben zitiert - mit dem Aufenthaltsverbot nicht darüber abgesprochen werde, dass der Beschwerdeführer in ein bestimmtes Land auszureisen habe.

    Dies ist zwar richtig, greift aber zu kurz. Jedenfalls mit der novellierten Fassung des § 66 Abs. 2 FPG ist auch nach nationalem Recht klargestellt, dass die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden bei der Beurteilung seines Privat- und Familienlebens zu berücksichtigen sind. Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass ein Fremder im Regelfall nur in seinen Heimatstaat abgeschoben werden kann. Auch im vorliegenden Fall ergeben sich keine Hinweise, dass eine Abschiebung in ein anderes Land möglich wäre und der Beschwerdeführer überdies zu diesem dritten Land besondere Bindungen hätte.

    Wenn ein Fremder wie der Beschwerdeführer bereits 32 Jahre in Österreich gelebt hat, stellt es einen maßgeblichen Gesichtspunkt bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 EMRK dar, ob (noch) Bindungen zum Heimatstaat bestehen, wobei auch der Kenntnis der Muttersprache Bedeutung zukommt. Ausgehend von ihrer Ansicht, die Bindungen zum Heimatstaat nicht prüfen zu müssen, hat die belangte Behörde diesbezügliche Feststellungen unterlassen. Diesem Verfahrensmangel kann die Relevanz nicht abgesprochen werden, weil das fehlende Vertrautsein mit Kultur und Sprache des Ziellandes ein solches Gewicht haben könnte, dass selbst in Fällen eines - wie hier - beträchtlichen öffentlichen Interesses an der Erlassung des Aufenthaltsverbotes ein solches unverhältnismäßig im Sinn des Art. 8 EMRK sein könnte.

    Dem angefochtenen Bescheid haftet aber auch hinsichtlich der Dauer des Aufenthaltsverbotes eine Rechtswidrigkeit an. Gemäß § 63 Abs. 1 FPG kann zwar ein Aufenthaltsverbot in Fällen wie dem vorliegenden auch unbefristet erlassen werden. Bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer ist aber auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen. Der Verwaltungsgerichtshof hat etwa im Erkenntnis vom 30. Jänner 2007, 2006/18/0449, bereits ausgesprochen, dass als maßgebliche Umstände gemäß § 63 Abs. 2 FPG, abgesehen vom gesetzten Fehlverhalten und der daraus resultierenden Gefährdung öffentlicher Interessen, auch die privaten und familiären Interessen des Fremden im Sinn des § 66 FPG in Betracht kommen. Vor diesem Hintergrund erweist sich angesichts des über 30-jährigen inländischen Aufenthalts des Beschwerdeführers und des Zusammenlebens mit einer österreichischen Lebensgefährtin die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes auf unbefristete Dauer als unverhältnismäßig; dies auch unter Bedachtnahme auf die Möglichkeit der Aufhebung des Aufenthaltsverbotes nach § 65 FPG.

    Wegen des dargestellten zweifachen Rechtsirrtums, der dem angefochtenen Bescheid anhaftet, war dieser gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

    Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG Abstand genommen werden.

    Die Kostenentscheidung beruht - im angesprochenen Ausmaß - auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

    Wien, am 22. September 2009

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