VwGH 2008/22/0239

VwGH2008/22/023918.6.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl sowie die Hofräte Dr. Robl, Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der N, vertreten durch Dr. Max Pichler, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rathausstraße 21, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 9. Mai 2007, Zl. 315.066/3-III/4/06, betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:

Normen

NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72 Abs1;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72 Abs1;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres (der belangten Behörde) vom 9. Mai 2007 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin vom 15. Juli 2005 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft, § 20 Abs. 1 FrG" gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG abgewiesen.

Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass die Beschwerdeführerin mit einem Visum der Kategorie C, ausgestellt von der Österreichischen Botschaft Pristina und gültig vom 15. November 2003 bis 14. Dezember 2003 in Österreich eingereist sei und - nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Visums - am 30. Mai 2005 in Wien einen türkischen Staatsangehörigen geheiratet habe. Die Beschwerdeführerin sei in weiterer Folge in Österreich geblieben und wohne bei ihrem Ehemann in Wien. Sie habe noch nie über einen Sichtvermerk, eine Aufenthaltsbewilligung oder eine Niederlassungsbewilligung für die Republik Österreich verfügt. Den gegenständlichen Antrag habe die Beschwerdeführerin persönlich bei der Erstbehörde gestellt.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde - unter Wiedergabe der Bestimmungen der §§ 21 Abs. 1 und Abs. 2, 11 Abs. 3 und (auszugsweise) §§ 72 ff NAG in der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009 - im Wesentlichen aus, dass der Antrag der Beschwerdeführerin nach den Bestimmungen des NAG als Erstantrag auf Erteilung einer quotenpflichtigen "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" zu werten sei und die Beschwerdeführerin den Antrag gemäß § 21 Abs. 1 NAG vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einbringen und die Entscheidung darüber im Ausland hätte abwarten müssen.

Eine Überprüfung in Hinblick auf das Vorliegen humanitärer Gründe im Sinn des § 72 Abs. 1 NAG sei durchgeführt worden. Sofern die Beschwerdeführerin in ihrem Antrag ausgeführt habe, dass sie aufgrund ihrer Heirat mit einem türkischen Staatsangehörigen nicht in ihre Heimat - in den Kosovo - zurückkehren könne, weil ihre Familie über diese Heirat erbost sei, sei dies nicht nachvollziehbar und auch unbeachtlich, weil die Beschwerdeführerin "doch ihren gewählten Gatten zu ihrem Schutz" habe. Darüber hinaus wäre es für die Beschwerdeführerin "durchaus zumutbar, auf gesetzeskonforme Weise eine geeignete Aufenthaltsberechtigung zu erlangen", ohne sich "dem Zugriff ihrer angeblich nach Vergeltung trachtenden Familie zu präsentieren".

Die von der Beschwerdeführerin ins Treffen geführte Schwangerschaft stelle keinen besonders berücksichtigungswürdigen Grund im Sinn des § 10 Abs. 4 Fremdengesetz 1997 bzw. § 72 Abs. 1 NAG dar. Ein Nachweis darüber, ob die von der Beschwerdeführerin "angegebene psychotherapeutische Behandlung" nur in Österreich oder auch in ihrer Heimat erfolgen könne, sei nicht erbracht worden.

Es liege daher kein besonders berücksichtigungswürdiger humanitärer Aspekt im Sinn des § 72 Abs. 1 NAG vor, weshalb der Antrag gemäß § 21 Abs. 1 NAG abzuweisen sei.

Gegen diesen Bescheid hat die Beschwerdeführerin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben, der deren Behandlung mit Beschluss vom 26. Februar 2008, B 1016/07, abgelehnt und die Beschwerde über nachträglichen Antrag dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten hat. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die auftragsgemäß ergänzte Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Vorausgeschickt sei, dass die belangte Behörde den vorliegenden, am 15. Juli 2005 gestellten Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung zu Recht gemäß § 81 Abs. 1 NAG nach den Bestimmungen des am 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen NAG beurteilt hat.

Die Beschwerde bestreitet nicht, dass die Beschwerdeführerin noch nie über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt hat, sodass die - unbekämpfte - Auffassung der belangten Behörde, dass es sich bei dem gegenständlichen Antrag um einen Erstantrag im Sinn des § 21 Abs. 1 NAG handle, keinen Bedenken begegnet. Dem in dieser Bestimmung verankerten Prinzip der Auslandsantragstellung folgend hätte die Beschwerdeführerin daher grundsätzlich den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Ausland stellen und die Entscheidung darüber im Ausland abwarten müssen, zumal auch keine Anhaltspunkte für einen der Ausnahmetatbestände des § 21 Abs. 2 NAG vorliegen.

Das Recht, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland zu stellen und die Entscheidung darüber hier abzuwarten, kommt daher im vorliegenden Fall - zum hier relevanten Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides - nur gemäß § 74 NAG (in der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann.

§ 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zukommen zu lassen. Besonders berücksichtigungswürdige Gründe in diesem Sinn liegen insbesondere vor, wenn der Drittstaatsangehörige einer Gefahr gemäß § 50 FPG ausgesetzt ist. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch - etwa auf Familiennachzug - besteht (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2009, 2008/22/0805, unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 27. Juni 2008, G 246/07 u.a.).

In diesem Zusammenhang bringt die Beschwerde unter anderem vor, dass die belangte Behörde das Wesen einer Zwangsehe und die Schwere der damit für eine Betroffene verbundenen Problematik verkenne, weist dazu auf Feststellungen des erstinstanzlichen Bescheides hin und macht in der Verfahrensrüge geltend, dass die belangte Behörde entgegen §§ 37 ff, 66 Abs. 1 AVG die Entscheidungsgrundlage nicht vollständig beachtet habe.

Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.

Bereits die Erstbehörde hatte - unbekämpft - festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ihren nunmehrigen Ehemann schon im Juli 2002 kennengelernt hatte, bevor sie ein Jahr später gegen ihren Willen auf Wunsch ihrer Eltern einen anderen Mann heiraten musste und nach Schweden geschickt wurde; nach zwei Wochen flüchtete die Beschwerdeführerin nach Österreich zu einem Cousin, weil sie über ihre Situation sehr unglücklich war, und ließ sich von ihrem damaligen Ehemann scheiden.

Im Verwaltungsverfahren hatte die Beschwerdeführerin dazu vorgebracht, dass sie als Frau im Kosovo keine Möglichkeit gehabt habe, sich gegen die Zwangsverheiratung durch ihre Eltern im Juli 2003 zu wehren. Nachdem sie ihren früheren Ehemann nach zweiwöchigem Aufenthalt in Schweden verlasse habe - was gegen den Willen ihrer Eltern geschehen sei -, habe ihre Familie sie verstoßen. Sie könne als alleinstehende Mutter mit Kind auch nirgendwo sonst im Kosovo leben. Das Hauptproblem bestehe darin, dass sie gegenwärtig durch ihre eigene Familie bedroht werde und um ihr Leben und das ihres Kindes fürchte, sollte sie in den Kosovo zurückkehren müssen. Ihre Eltern seien sehr erbost über die Heirat der Beschwerdeführerin mit einem Türken; vor allem ihr Vater könne mit dieser Tatsache nicht leben und habe ihr geraten, nie wieder nach Hause zu kommen. Für ihre Eltern sei ihr Verhalten ein Verrat an der Familie, bei dem ein Vergeltungsschlag nicht ausgeschlossen werden könne.

Damit aber hat die Beschwerdeführerin in Hinblick auf das Vorliegen humanitärer Gründe im Sinn des § 72 Abs. 1 NAG ein detailliertes, substantiiertes und nachvollziehbares Vorbringen erstattet (vgl. zu diesem Erfordernis etwa das hg. Erkenntnis vom 31. März 2008, 2005/18/0496), mit dem sich die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid - von den oben wiedergegebenen rudimentären Erwägungen abgesehen - nicht auseinandergesetzt hat, sodass der von der belangten Behörde festgestellte Sachverhalt - nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens in diese Richtung (§ 66 Abs. 1 iVm §§ 56, 37 und 39 AVG) - zu ergänzen sein wird.

Da die belangte Behörde bei der gebotenen Befassung mit dem wiedergegebenen Vorbringen der Beschwerdeführerin und unter Zugrundelegung entsprechender Feststellungen zu einem anderen Bescheid hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 18. Juni 2009

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