VwGH 2008/19/0809

VwGH2008/19/080910.12.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl und die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. N. Bachler, die Hofrätin Mag. Rehak und den Hofrat Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde der beschwerdeführenden Parteien 1. D, 2. A, 3. R, und

4. M, alle in Wien und vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates vom 1.) 5. Mai 2008, Zl. 318.980- 1/2E-VII/43/08, 2.) 5. Mai 2008, Zl. 318.983-1/2E-VII/43/08,

3.) 5. Mai 2008, Zl. 318.984-1/2E-VII/43/08, 4.) 5. Mai 2008, Zl. 318.982-1/2E-VII/43/08, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

32003R0343 Dublin-II Art16 Abs1 litc;
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §10 Abs4;
AsylG 2005 §5 Abs1;
AsylG 2005 §5;
AVG §52;
EMRK Art3;
32003R0343 Dublin-II Art16 Abs1 litc;
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §10 Abs4;
AsylG 2005 §5 Abs1;
AsylG 2005 §5;
AVG §52;
EMRK Art3;

 

Spruch:

Der drittangefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die erst-, zweit- und viertangefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der zweit- bis viertbeschwerdeführenden Parteien; alle sind Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit.

Die beschwerdeführenden Parteien reisten im Oktober 2007 über die weißrussisch/polnische Grenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und beantragten zunächst in Polen Asyl. Ohne den Ausgang des dortigen Asylverfahrens abzuwarten, gelangten sie im März 2008 in das Bundesgebiet und beantragten (neuerlich) internationalen Schutz.

Mit den angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheiden wies die belangte Behörde diese Anträge gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, sprach aus, dass für die Prüfung der Anträge gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung Polen zuständig sei, wies die beschwerdeführenden Parteien gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 dorthin aus und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 für zulässig.

Dagegen wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

1. Die Beschwerde bestreitet die Zuständigkeit der Republik Polen für die Prüfung der gegenständlichen Anträge nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin-Verordnung nicht. Sie strebt aber die Ausübung des Selbsteintrittsrechts der österreichischen Asylbehörden gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung an und bezieht sich dabei vor allem auf die gesundheitlichen Probleme der Erst- und der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin. Die belangte Behörde habe es - so die Beschwerde - verabsäumt sich damit auseinander zu setzen, dass eine Abschiebung der Familie, insbesondere der Erst- und Drittbeschwerdeführerinnen, zu einer Retraumatisierung und möglicherweise sogar zu lebensbedrohenden psychischen Zuständen mit Chronifizierung führen würde.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde zumindest im Ergebnis und in Bezug auf die Drittbeschwerdeführerin einen relevanten Verfahrensmangel auf.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts macht eine grundrechtskonforme Interpretation des Asylgesetzes eine Bedachtnahme auf die - in Österreich in Verfassungsrang stehenden- Bestimmungen der EMRK notwendig. Dementsprechend müssen die Asylbehörden bei Entscheidungen nach § 5 AsylG 2005 auch Art. 3 EMRK berücksichtigen und bei einer drohenden Verletzung dieser Vorschrift das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung ausüben (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2007, 2006/01/0949, mwN).

Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 6. März 2008, B 2400/07, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte dargelegt, unter welchen Voraussetzungen im Lichte des Art. 3 EMRK eine Krankheit zur Unzulässigkeit einer Überstellung des Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union führen kann. Zusammenfassend ergibt sich daraus, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland (einer Abschiebung oder Überstellung) nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaats gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben.

Nach diesen Kriterien hat auch der Verwaltungsgerichtshof bereits beurteilt, ob die Abschiebung eines Kranken zulässig ist (vgl. dazu etwa aus jüngerer Zeit das hg. Erkenntnis vom 23. September 2009, 2007/01/0515).

3. Ausgehend davon erweist sich die Beschwerde in Bezug auf die behauptete Erkrankung der Erstbeschwerdeführerin als unberechtigt. Die Beschwerde verweist insoweit auf eine "schwere psychische Störung", ohne diese näher zu präzisieren. Im Übrigen bezieht sie sich erkennbar auf eine hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin im Zulassungsverfahren eingeholte "gutachterliche Stellungnahme" vom 1. April 2008, in der "Gedächtnisstörungen ..., aber keine Suizidgedanken" angeführt worden seien. Abgesehen davon, dass die Beschwerde den Inhalt dieser ärztlichen Stellungnahme nur auszugsweise und damit verfälscht wiedergibt (abschließend kam die untersuchende Ärztin nämlich zu dem Schluss, dass sich keine Symptome einer belastungsabhängigen psychischen Störung fänden), sind die angesprochenen "Gedächtnisstörungen" schon ihrer Art nach nicht mit jenen lebensbedrohlichen Erkrankungen vergleichbar, deren Nichtbehandlung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zur Folge haben könnte.

4. Eine andere Beurteilung erscheint hingegen in Bezug auf die Erkrankung der Drittbeschwerdeführerin möglich.

4.1. Die belangte Behörde führte dazu im drittangefochtenen Bescheid wörtlich Folgendes aus:

"Am 02.04.2008 wurde die (Drittbeschwerdeführerin) im Rahmen des Zulassungsverfahrens von Dr. med. I. H. untersucht. Diese kam zu dem Schluss, dass aus aktueller Sicht keine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vorliege. Die (Drittbeschwerdeführerin) leide aber an einer Anpassungsstörung sowie dem Hyperventilationssyndrom. Diese diagnostizierten Störungen könnten jedoch in jedem Land der EU behandelt werden. Es könne kein Hindernis für die Überstellungsfähigkeit gefunden werden.

...

Mit Schreiben vom 21.03.2008 wurde von der gesetzlichen Vertreterin der (Drittbeschwerdeführerin) ein Patientenkurzbrief des Landesklinikums Mödling vorgelegt.

...

Zu den Berufungsgründen wird ausgeführt:

Die (Drittbeschwerdeführerin) machte in der Berufung ein Hyperventilationssyndrom bei posttraumatischer Belastungsstörung geltend. Es wird auf einen Patientenkurzbrief des Landesklinikums Mödling vom 21.03.2008 verwiesen. Darin wird von der behandelnden Ärztin Dr. H.-U. angeführt, dass eine psychologische bzw. psychotherapeutische Betreuung dringend indiziert sei. Dazu ist auszuführen, dass dieses Schreiben elementare Grundanforderungen an ein Gutachten gänzlich vermissen läßt. Der Stellungnahme der behandelnden Ärztin vom 21.03.2008 ist lediglich zu entnehmen, dass die (Drittbeschwerdeführerin) an einem Hyperventilationssyndrom bei posttraumatischer Belastungsstörung leide und dass eine psychologische bzw. psychotherapeutische Betreuung dringend indiziert sei. Aus dem Schreiben ist jedoch keinerlei Begründung für die Annahme einer Traumatisierung zu entnehmen, auch fehlt eine Beschreibung der vorliegenden Symptome, noch wird auf konkrete Erlebnisberichte der (Drittbeschwerdeführerin) in Tschetschenien bzw. Polen verwiesen. Auch ist keine konkrete Beschreibung der Folgen einer Überstellung der (Drittbeschwerdeführerin) nach Polen ersichtlich.

...

Dem vorgelegten Patientenkurzbrief ... fehlt ... somit im

Gegensatz zu der gutachterlichen Stellungnahme der Ärztin für psychiatrische Medizin, Dr. I. H., wonach zur Zeit der Begutachtung am 02.04.2008 bei der (Drittbeschwerdeführerin) zwar eine belastungsabhängige psychische Störung diagnostizierbar gewesen sei, eine Überstellung jedoch keine unzumutbare

Verschlechterung verursachen würde, die ... Voraussetzungen für

ein Gutachten zur Gänze. Die gutachterliche Stellungnahme von Frau Dr. H., die nicht nur über eine Ausbildung als Psychotherapeutin sondern auch über eine langjährige Erfahrung verfügt, konnte damit jedenfalls nicht in Zweifel gezogen werden.

Unabhängig davon ist auf die Feststellungen des Bundesasylamts im bekämpften Bescheid zur medizinischen Behandlung von Asylwerbern inklusive Trauma zu verweisen, wonach im Wesentlichen in Polen eine umfassende kostenlose medizinische Versorgung von Asylwerbern gewährleistet ist und auch Behandlungsmöglichkeiten für traumatisierte Asylwerber bestehen ...".

4.2. Der von der belangten Behörde angesprochene "Patientenkurzbrief" der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde des Landesklinikums Thermenregion Mödling vom 21. März 2008 enthält neben den Patientendaten folgenden Inhalt:

"Vorstellungsgrund: Hyperventilation

Diagnosen: Hyperventilationssyndrom

bei Posttraumatischer

Belastungsstörung

Relevante Befunde: ...

Verlauf:

Die Stationäre Aufnahme der Patientin erfolgte wegen Hyperventilation. Hierorts kam es zur raschen Besserung der Symptomatik. Anamnestisch liegt bei der Patientin ein Schockerlebnis durch gewaltsamen Verlust des Vaters vor, kurz darauf traten ‚Krampfanfälle' mit minutenlangen Bewusstlosigkeitsereignissen auf.

Entlassungsempfehlung:

Psychologische bzw. psychotherapeutische Betreuung dringend

indiziert.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. H-U. eh."

4.3. Dieser "Patientenkurzbrief" lag der "Ärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapeutische Medizin" Dr. med. Ilse H. bereits vor, als sie am 2. April 2008 im Auftrag der erstinstanzlichen Asylbehörde eine Untersuchung der Drittbeschwerdeführerin (in Gegenwart ihrer Geschwister) vornahm und daran anschließend folgende "Gutachterliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren" abgab:

"...Eigenanamnese

...

(Die Drittbeschwerdeführerin( beteiligt sich am Gespräch anfangs nicht. Es gehe ihr, nachgefragt, gut. Nachts würden sich jedoch die Hände verkrampfen. In Polen hätten die Kinder von den Nachbarn gestritten. Sie habe Angst. Der Vater sei mitgenommen und getötet worden.

Interaktions- und Verhaltensbeobachtung:

...

(Die Drittbeschwerdeführerin( ist still, ernst und zurückhaltend. Sie spielt still mit den Sachen aus der Kisten. Sie hört aufmerksam zu, was die Geschwister sprechen, beteiligt sich nicht aktiv am Gespräch, es ist keine wesentliche emotionale Beteiligung bemerkbar (Affekt eher flach).

Im Weiteren wird mit (ihr( allein gesprochen ... Die

Kommunikation ist gut, der Kontakt kann gut hergestellt werden. Es wird versucht, orientierend und zum kindgerechten Einstieg ins Gespräch, ein projektives Testverfahren anzuwenden. Es werden mehrdeutige Bildtafeln aus dem CAT (children apperzeption test nach Bellak und Bellak) gezeigt. Das Kind soll Geschichten erzählen. Die Bildtafel mit den Küken (Oralität, Fürsorge) wird vom Kind lediglich knapp kommentiert, es kann dazu keine Geschichte finden. Besser dürfte das Kind mit der Tafel mit den Affen (Familiensituation) zurechtkommen. Es finden sich aus der Interpretation der mehrdeutigen Bildtafel Hinweise auf Konflikte im Familienleben. Es wird dazu aber auch lebendiger erzählt als bei Tafel 1. Die Bildtafel mit dem Tiger (Aggression) führt zu einer guten Erzählung, hier ist das Kind in beiden Skalenbereichen gut affizierbar, engagiert und es findet auch einen für das Kind

guten Ausgang der Geschichte ... Tröstende hilfreiche Gestalten

tauchen in keinem Bild auf.

Das Kind gibt an, dass sie gerne fernsähe, am liebsten aber einkaufen ginge. Dabei würde sie sich gel. etwas kaufen dürfen. Am liebsten habe es Puppen. Es gehe auch gel. in den Kindergarten um fern zu sehen. Dabei sei die Serie mit den Prinzessinnen die am meisten gemochte Serie. In die Schule sei sie erst ein Jahr lang gegangen.

Medizinische Vorgeschichte

Es liegt ein Befund des Mädchens ..., datiert mit 21.3.2008, vom KH Mödling, Abteilung f. Kinder- und Jugendheilkunde, vor.

Es dürfte aufgrund einer Hyperventilation ins KH gekommen sein. Es wird in diesem Befund auch eine PTSD suspiziert.

Derzeitige subjektive Beschwerden

Die einzigen Beschwerden seien die Krämpfe in den Händen. Sie habe Angst in der Nacht. Der Vater sei mitgenommen und schließlich getötet worden.

Frage 1: Stehen der Überstellung nach Polen schwere psychische Störungen entgegen, die bei einer Überstellung eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes aus ärztlicher Sicht bewirken würden? Nein.

Sonstige Bemerkungen:

...

Es kann davon ausgegangen werden, dass die heute diagnostizierten Störungen (der Drittbeschwerdeführerin( (Anpassungsstörung sowie Hyperventilationssyndrom) in jedem Land der EU behandelt werden kann. Die Prüfung obliegt den Behörden.

...

Insgesamt dürften derzeit noch genügend Ressourcen bei dem Mädchen vorliegen. Es bestehen sowohl eine realistische als auch eine zuversichtliche Haltung bei doch deutlichen Anzeichen von ängstlicher/trauriger Grundstimmung. Anzuraten wäre ein dauerhafter Wohnsitz mit dem Ziel der Stabilisierung. Eine Betreuung durch eine Psychologin oder Psychotherapeutin wird angeraten. Für eine PTSD kann heute keine ausreichende Symptomatik gefunden werden, es wird jedoch zur Vermeidung einer Re-Traumatisierung nicht ins Detail gefragt, sondern über die Verhaltensbeobachtung auf den Zustand des Kindes geschlossen. Dieser Zustand in Verbindung mit der Anamnese ergibt eine krankheitswertige psychische Störung, jedoch kann kein Hindernis für die Überstellungsfähigkeit gefunden werden (es kann gesagt werden, dass jegliche Entwurzelung mit Verlassen der Heimat zu einer Belastung und jede weitere ‚Reise' zu einer Destabilisierung eines Kindes führt, es liegt jedoch derzeit noch keine Gefahr einer unzumutbaren Verschlechterung vor)."

4.4. Es ist nicht nachvollziehbar, wenn die belangte Behörde die Qualität des oben angesprochenen "Patientenbriefs" anzweifelt. Dieses Dokument nimmt für sich weder in Anspruch, ein Gutachten zu sein, noch zu der Frage der Überstellungsfähigkeit der Drittbeschwerdeführerin Aussagen zu treffen. Es handelt sich vielmehr um einen ärztlichen Bericht über die Gründe und den Verlauf des Krankenhausaufenthalts des Kindes. Die Richtigkeit des in diesem Befund diagnostizierten Hyperventilationssyndroms wurde erkennbar auch von der im Auftrag der Asylbehörde tätigen Ärztin Dr. Ilse H. angenommen (vgl. oben Punkt 4.3. "Sonstige Bemerkungen").

Im Übrigen ist anzumerken, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die ärztlichen Befunde im Zulassungsverfahren - entgegen der Auffassung der belangten Behörde - (in der Regel) auch keine Sachverständigengutachten sind, die den Anforderungen des AVG entsprechen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 17. April 2007, 2006/19/0919).

Die belangte Behörde übersieht freilich, dass zwischen dem "Patientenbrief" und dem ärztlichen Befund von Dr. Ilse H. keine Widersprüche bestehen, weil sie sich mit unterschiedlichen Fragen beschäftigen. Letzterer versuchte die Frage der Überstellungsfähigkeit der Drittbeschwerdeführerin nach Polen zu beantworten; ersterer beschäftigte sich mit dieser Frage - wie oben bereits angesprochen - nicht.

4.5. Entscheidend ist daher, ob der vorliegende ärztliche Befund von Dr. Ilse H. ausreicht, um die maßgebliche Rechtsfrage im Zusammenhang mit einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Überstellung der Drittbeschwerdeführerin nach Polen beantworten zu können.

Hiezu lieferte der Befund nur insofern eine Tatsachengrundlage, als die untersuchende Ärztin zu dem Schluss gelangte, bei der Drittbeschwerdeführerin liege zwar eine krankheitswertige psychische Störung vor und jede weitere "Reise" würde zu einer Destabilisierung führen, das Kind verfüge aber derzeit noch über "genügend Ressourcen". Daraus schloss die Ärztin, es bestünde "noch keine Gefahr einer unzumutbaren Verschlechterung".

Diese Einschätzung ist nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes zu unpräzise, um eine abschließende Beurteilung des Falles zu ermöglichen. Ob eine Überstellung unter dem Blickwinkel des Art. 3 EMRK zumutbar ist, ist eine von der belangten Behörde zu beurteilende Rechtsfrage, für die von ärztlicher Seite die entsprechenden Tatsachen erläutert werden müssen. Im gegenständlichen Fall leidet die Drittbeschwerdeführerin offenbar unter einer (psychisch bedingten) Erkrankung, die sich - nach dem "Patientenkurzbrief" des Krankenhauses - bereits so geäußert hat, dass das Kind in "Krampfanfälle mit minutenlangen Bewusstlosigkeitsereignissen" verfallen ist. Ihr Zustand anlässlich der Untersuchung durch die für die Asylbehörden untersuchende Ärztin dürfte hingegen stabilisiert gewesen sein. Wenn die Ärztin zu bedenken gibt, eine Überstellung der Drittbeschwerdeführerin könne zu einer "Destabilisierung" und "Verschlechterung" führen, diese sei aber nicht "unzumutbar", so fehlt das erforderliche Tatsachensubstrat, um diese Überlegungen nachvollziehen zu können. Es bedürfte einer ärztlichen Beurteilung, welche Verschlechterungen im Falle der Überstellung (im für das Kind schlechtesten Fall) zu erwarten sind, mit welcher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist (bloße Möglichkeit oder reales Risiko) und ob diesen medizinischen Problemen allenfalls durch entsprechende (auch medikamentöse) Behandlung entgegen gewirkt werden könnte. Erst anhand solcher Tatsachen ließe sich einschätzen, ob der Drittbeschwerdeführerin im Falle der Überstellung nach Polen eine die Schwelle des Art. 3 EMRK erreichende Erkrankung drohen würde, die den Selbsteintritt der österreichischen Asylbehörden gebietet.

Da der drittangefochtene Bescheid sich dem in dieser Hinsicht unzureichenden medizinischen Befund ohne weitere Überlegungen anschloss und ihn zu Unrecht für ausreichend ansah, um die angesprochenen Rechtsfragen zu beurteilen, kann er keinen Bestand haben.

Der drittangefochtene Bescheid war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren auch auf die übrigen beschwerdeführenden Parteien durch und belastet deren Berufungsbescheide mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit, weshalb die erst-, zweit- und viertangefochtenen Bescheide gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben waren.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 10. Dezember 2009

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