VwGH 2008/19/0012

VwGH2008/19/00126.11.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl und die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. N. Bachler, die Hofrätin Mag. Rehak und den Hofrat Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des A, vertreten durch Maga. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Kirchengasse 19, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 19. November 2007, Zl. 255.532/0/5E-X/47/04, betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, reiste am 4. Dezember 2003 in das Bundesgebiet ein und beantrage am Folgetag Asyl.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Asylantrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig. Die erstinstanzlich ausgesprochene Ausweisung des Beschwerdeführers wurde hingegen ersatzlos behoben.

Begründend stellte die belangte Behörde fest, die Eltern des Beschwerdeführers seien verstorben, als er vier Jahre alt gewesen sei. Danach hätte sich ein Onkel mütterlicherseits um ihn gekümmert, mit dem er auch nach Österreich gereist und dem mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 30. Juli 2007 Asyl gewährt worden sei. Ein Onkel väterlicherseits sei als Kämpfer im ersten Tschetschenienkrieg aktiv gewesen und von "den Russen" getötet worden; ein anderer Onkel sei verschleppt worden. In Bezug auf den Beschwerdeführer gebe es keine Hinweise auf Verfolgungshandlungen, die bereits stattgefunden hätten oder noch drohen würden.

Der Beschwerdeführer mache einen geistig zurückgebliebenen Eindruck. Es bestehe ein inniges Verhältnis zum Onkel mütterlicherseits und dessen Familienangehörigen. Dieser Onkel habe ihn nicht adoptiert, weil dies nach tschetschenischem Brauch nicht zulässig gewesen sei, da der Beschwerdeführer einem anderen Tejp (Clan) als der Onkel angehöre.

Diese Feststellungen stützte die belangte Behörde auf die "glaubwürdigen Angaben" des Beschwerdeführers. Rechtlich folgerte sie, der Beschwerdeführer habe keine Fluchtgründe behauptet. Die Furcht (vor Verfolgung), von der er gesprochen habe, habe er nicht weiter begründen können. Er selbst habe eingeräumt, dass es nicht zu Verfolgungshandlungen gekommen sei; es habe auch keine Anzeichen gegeben, dass man seiner habhaft werden wolle. Seine Furcht, von den Kadyrowzi festgenommen und getötet zu werden, beruhe auf seiner Vorstellung, dass diese Leute junge Männer verschleppten, um zu Geld (oder zu einem Auto) zu kommen. Aus den Länderfeststellungen ergebe sich, dass eine derartige allgemeine Unsicherheit nicht bestehe. Auch gebe es in Tschetschenien keine Gruppenverfolgung aller Tschetschenen. Obwohl die Sicherheitslage noch immer zu wünschen übrig lasse, habe sie sich doch soweit entspannt, dass nicht mehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer solchen Gefährdung auszugehen sei. Eine solche Wahrscheinlichkeit bestehe nur für bestimmte Gruppen von Einwohnern; etwa für Personen, denen ein Naheverhältnis zu tschetschenischen Separatisten unterstellt werde. Dass der Beschwerdeführer zu diesen Personen gehöre, habe er nicht glaubhaft machen können.

Dem Beschwerdeführer sei daher weder Asyl noch subsidiärer Schutz zu gewähren. Zwischen dem Beschwerdeführer und der Familie des asylberechtigten Onkels mütterlicherseits bestehe aber eine besonders enge persönliche Bindung. Der Beschwerdeführer lebe bei dieser Familie seit seiner frühesten Kindheit und habe vor allem zu seinem Onkel eine Beziehung, die einer familiären Bindung gleich komme, vor allem wenn man bedenke, dass eine Adoption nur deshalb unterblieben sei, weil sie gegen die tschetschenische Sitte verstoßen hätte. Der Beschwerdeführer sei beim Grenzübertritt 19 Jahre alt gewesen. Er sei inzwischen zwar 23 Jahre alt geworden, angesichts seiner offenkundig verzögerten Entwicklung komme die Berufungsbehörde aber zum Ergebnis, dass eine Ausweisung des Beschwerdeführers sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK verletzten würde.

Gegen die Nichtzuerkennung von Asyl und subsidiärem Schutz wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die Beschwerde macht zum Einen geltend, die belangte Behörde sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung behauptet habe. Sie verweist darauf, dass der Beschwerdeführer in seiner erstinstanzlichen Einvernahme angegeben hatte, seine Tanten (väterlicherseits) seien nach der Verschleppung und Ermordung zweier Onkel nach weiteren männlichen Mitgliedern der Familie gefragt worden, weshalb auch der Beschwerdeführer befürchte, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden. Angesichts der sich aus den Länderfeststellungen ergebenden Lage in Tschetschenien sei dies sehr wohl als Geltendmachung asylrelevanter Verfolgung zu qualifizieren.

Zum Anderen führt die Beschwerde aus, die belangte Behörde habe dargelegt, dass eine Gefährdung für Personen bestehe, denen eine Naheverhältnis zu tschetschenischen Separatisten unterstellt werde. Die belangte Behörde gehe - zu Unrecht - davon aus, dass der Beschwerdeführer nicht glaubhaft habe machen können, der Gruppe dieser Personen anzugehören. Richtig sei vielmehr, dass dem Beschwerdeführer ein Naheverhältnis zu tschetschenischen Separatisten nicht nur höchstwahrscheinlich unterstellt würde, sondern dass tatsächlich ein inniges Naheverhältnis zu Personen bestehe, welche durch russische bzw. pro-russische tschetschenische Verbände verschleppt und getötet wurden bzw. aktuell gesucht werden. Dass der Onkel des Beschwerdeführers mütterlicherseits, welcher für den Beschwerdeführer de facto die Vaterrolle ausfülle, im Falle einer Rückkehr mit asylrelevanter Verfolgung zu rechnen habe, sei von der belangten Behörde (durch die Zuerkennung von Asyl) bestätigt worden. Zusammenfassend lasse sich daher festhalten, dass die belangte Behörde den Angaben des Beschwerdeführers Glauben schenke und daher davon ausgehe, dass sein (die Vaterrolle ausfüllender) Onkel mütterlicherseits asylrelevante Verfolgung zu befürchten habe; dass zwei weitere Onkel väterlicherseits von russischen Kräften ermordet bzw. verschleppt worden seien; dass Kadyrowzi die Tanten nach weiteren männlichen Familienmitgliedern befragt hätten, wozu auch der Beschwerdeführer gehöre, weshalb auch der Beschwerdeführer Verfolgung befürchten müsse; dass Personen, welchen ein Naheverhältnis zu tschetschenischen Separatisten unterstellt werde, mit Verfolgung rechnen müssten; dass weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien stattfänden und es keinen ausreichenden Rechtschutz gebe; sowie, dass für ethnische Tschetschenen in der Regel keine innerstaatliche Fluchtalternative bestünde. Hätte die belangte Behörde diesen Sachverhalt richtig subsumiert, so wäre dem Beschwerdeführer Asyl zu gewähren gewesen.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde eine relevante Mangelhaftigkeit der Bescheidbegründung auf:

Die belangte Behörde geht in ihrer rechtlichen Beurteilung davon aus, dass dem Beschwerdeführer bei Rückkehr nach Tschetschenien keine Verfolgung drohen würde. Sie stützt sich dabei auf die subjektive Einschätzung des Beschwerdeführers, von den Kadyrowzi verfolgt zu werden, um Geld oder ein Auto zu erpressen, und erachtet diese Befürchtung in ihrer Allgemeinheit durch die Länderfeststellungen als widerlegt. Diese Einschätzung greift schon deshalb zu kurz, weil die asylrechtlich relevante "wohlbegründete Furcht" vor Verfolgung im Sinne des § 7 AsylG iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention lediglich voraussetzt, dass die Furcht im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt hingegen nicht darauf an, dass sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet oder die Lage im Herkunftsstaat subjektiv richtig einschätzt (Letzteres ist fallbezogen auch nicht zu erwarten, geht die belangte Behörde an anderer Stelle ihrer Bescheidbegründung doch von einer geistigen Retardierung des Beschwerdeführers aus). Entscheidend ist vielmehr, ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 14. Oktober 1998, 98/01/0262, und aus jüngerer Zeit das hg. Erkenntnis vom 17. März 2009, 2007/19/0459).

Ausgehend davon hat es die belangte Behörde aber unterlassen näher darzulegen, warum sie die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Suche der Sicherheitskräfte nach männlichen Mitgliedern seiner Familie (väterlicherseits) als ungeeignet ansah, eine Gefährdung des Beschwerdeführers glaubhaft zu machen. Auch hat sie nicht ausreichend begründet, weshalb der Beschwerdeführer trotz seiner Verwandtschaft zu in Tschetschenien verfolgten Familienmitgliedern (sowohl väter- als auch mütterlicherseits) nicht zu jener Gruppe von gefährdeten Personen zählen soll, denen ein Naheverhältnis zu tschetschenischen Separatisten unterstellt wird und die deshalb bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat in das Blickfeld der Sicherheitsbehörden geraten würden.

Der angefochtene Bescheid war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 6. November 2009

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte