Normen
FrPolG 2005 §86 Abs1;
StGB §83 ;
StGB §84;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
StGB §83 ;
StGB §84;
VwGG §42 Abs2 Z1;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
I.
1. Mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien (der belangten Behörde) vom 1. August 2006 wurde der Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 7. März 2005, mit dem gegen die Mitbeteiligte gemäß §§ 49 Abs. 1 und 48 Abs. 1 Fremdengesetz - FrG, BGBl. I Nr. 75/1997, ein auf fünf Jahre befristetes Aufenthaltsverbot verhängt worden war, gemäß § 66 Abs. 4 AVG aufgehoben.
Die Mitbeteiligte, eine polnische Staatsangehörige, sei seit dem Jahr 2000 wiederholt in Österreich aufhältig gewesen. Sie sei mit einem polnischen Staatsangehörigen verheiratet und Mutter von drei Kindern, die in Polen lebten. Zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides habe sie keine Meldeadresse in Österreich gehabt, ihr Aufenthaltsort sei unbekannt gewesen.
Am 4. März 2005 sei die Mitbeteiligte vom Landesgericht für Strafsachen Wien gemäß §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 und Abs. 2 Z. 1 StGB wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung zu einer bedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt worden. Die Körperverletzung habe die Mitbeteiligte an ihrem Ehegatten begangen. Dieser Straftat seien wiederholte Streitigkeiten zwischen den Eheleuten vorangegangen. Beispielsweise sei am 2. Februar 2004 eine Anzeige wegen (gegenseitiger) Körperverletzung beider Eheleute erstattet worden. Eine Strafverfolgung sei gemäß § 42 StGB unterblieben. Bereits am 2. August 2003 sei der Ehemann der Mitbeteiligten wegen gefährlicher Drohung und schwerer Körperverletzung an seiner Frau angezeigt worden. Mit Bescheid vom 6. August 2003 sei gegen ihn ein Waffenverbot verhängt worden.
Anlässlich des Strafverfahrens sei die Mitbeteiligte fachärztlich untersucht worden. Dabei sei festgestellt worden, dass bei der Mitbeteiligten zum Tatzeitpunkt eine leichte bis mittlere Berauschung vorgelegen sei. Infolge der enthemmenden Wirkung des Alkohols, der vorstehenden Konfliktsituation und der hohen Affektlabilität der Mitbeteiligten sei psychiatrisch eine tatzeitwirksame Minderung der Hemmfähigkeit anzunehmen.
Weitere strafrechtliche Verurteilungen oder verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen seien nicht bekannt.
Beweiswürdigend führte die belangte Behörde unter Hinweis auf die relevanten Bestimmungen des Fremdengesetzes 1997 und des Fremdenpolizeigesetzes 2005 im Wesentlichen aus, dass der unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung zuständig sei, da die Mitbeteiligte polnische Staatsbürgerin und somit EWR-Bürgerin sei. Ein Aufenthaltsverbot dürfe nur unter den Voraussetzungen des § 86 Abs. 1 FPG erlassen werden, wenn ihr persönliches Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Im konkreten Fall habe die Mitbeteiligte am 29. November 2004 in der gemeinsamen Wohnung ihren Ehegatten mit einem Messer schwer verletzt und sei dafür zu einer achtmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, die gemäß § 43 Abs. 1 StGB bedingt nachgesehen worden sei. Diesem Vergehen sei eine lange konfliktgeladene Ehegemeinschaft vorangegangen. Das psychiatrische Gutachten habe zum Tatzeitpunkt eine leichte bis mittlere Berauschung diagnostiziert. Infolge der enthemmenden Wirkung des Alkohols, der bestehenden Konfliktsituation und der hohen Affektlabilität der Mitbeteiligten sei psychiatrisch eine tatzeitwirksame Minderung der Hemmfähigkeit anzunehmen. Die Aktenlage zeige, dass schon wiederholt gegenseitige Tätlichkeiten zwischen den Ehegatten vorgefallen seien. Ausgangspunkt des konkreten und zur schweren Körperverletzung am Ehemann führenden Streits sei die tiefe persönliche Frustration der Mitbeteiligten über die Ehesituation, in welcher sie die gesamte finanzielle Last zu tragen habe, gewesen. Sämtliche aktenkundigen Handlungen hätten zwischen den Eheleuten stattgefunden. Das Vergehen der schweren Körperverletzung sei daher nach Ansicht der belangten Behörde Auswirkung einer spezifischen Konfliktsituation innerhalb einer Ehegemeinschaft. Schon das Landesgericht für Strafsachen Wien habe mit einer lediglich achtmonatigen Freiheitsstrafe unter Anwendung des § 43 Abs. 1 StGB angenommen, dass die bloße Androhung der Vollziehung der verhängten Freiheitsstrafe allein genügen werde, um die Mitbeteiligte von weiteren strafbaren Handlungen abzuhalten. Die belangte Behörde schließe sich angesichts der dargestellten besonderen Umstände der Tat dieser Ansicht an. Die vom § 86 Abs. 1 zweiter Satz FPG geforderte gegenwärtige Gefahr liege daher zum Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Bescheides nicht vor. Ein Sicherungsbedürfnis, die Mitbeteiligte auf bestimmte oder unbestimmte Zeit außer Landes zu schaffen, d.h. ein Aufenthaltsverbot gegen sie zu erlassen, bestehe daher nicht.
Da alle in dieser Norm angeführten Voraussetzungen (tatsächlich, gegenwärtig, erheblich) kumulativ vorliegen müssten, bedürfe es keiner weiteren Prüfung, ob durch das Verhalten des Fremden eine tatsächliche und erhebliche Gefahr bestehe (was im Übrigen nicht ersichtlich sei). Aber auch der dritte Satz des § 86 Abs. 1 FPG spreche gegen die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen die Mitbeteiligte.
Da die in § 86 Abs. 1 FPG statuierten Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen eine EWR-Bürgerin nicht vorlägen, sei der erstinstanzliche Bescheid gemäß § 66 Abs. 4 AVG zu beheben gewesen.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
3. Die belangte Behörde legte (weitere) Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Gegen die Mitbeteiligte als freizügigkeitsberechtigte EWR-Bürgerin ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß § 86 Abs. 1 FPG nur zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Frage, ob gegen eine freizügigkeitsberechtigte EWR-Bürgerin ein Aufenthaltsverbot erlassen werden darf, ist § 60 Abs. 2 FPG von Bedeutung, auf dessen Katalog als "Orientierungsmaßstab" zurückgegriffen werden kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. November 2006, Zl. 2006/18/0275).
Für die Beantwortung der Frage, ob die in § 86 Abs. 1 umschriebene Annahme gerechtfertigt sei, ist zu prüfen, ob sich aus dem gesamten Fehlverhalten des Fremden ableiten lässt, dass sein weiterer Aufenthalt die öffentliche Ruhe und Sicherheit gefährdet. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen.
2. Die belangte Behörde hat sich bei der Beurteilung des Gesamtfehlverhaltens der Mitbeteiligten und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes ausschließlich auf die der Verurteilung vom 4. März 2005 zu Grunde liegenden Umstände gestützt und unter Hinweis auf das in diesem Zusammenhang erstellte psychiatrische Gutachten, wonach die Mitbeteiligte zum Tatzeitpunkt auf Grund einer leichten bis mittleren Berauschung sowie der bestehenden Konfliktsituation und der hohen Affektlabilität enthemmt gewesen sei, und auf ihre tiefe persönliche Frustration mit der Ehesituation, in der sie die gesamte finanzielle Last zu tragen habe, das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr zum Zeitpunkt der Verkündung des Berufungsbescheides verneint. Auch das Landesgericht für Strafsachen Wien habe durch die relativ kurze und nur bedingt verhängte Freiheitsstrafe die spezielle Konfliktsituation innerhalb der Ehegemeinschaft berücksichtigt.
Dem hält die Amtsbeschwerde entgegen, dass die Fremdenbehörde das Erfordernis des Aufenthaltsverbotes eigenständig und ausschließlich unter dem Blickwinkel des Fremdenpolizeigesetzes zu prüfen habe. Die Mitbeteiligte sei nach wie vor mit ihrem Ehemann verheiratet, auch wenn sie - eigenen Angaben zufolge - derzeit keinen Kontakt zu ihm habe. Das psychiatrische Gutachten diagnostiziere eine hohe Affektlabilität der Mitbeteiligten. Schon aus diesem Grund könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie neuerlich straffällig werde.
Die Verhinderung von (vorsätzlichen und fahrlässigen) Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit von Personen stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. November 2006, Zl. 2006/18/0339). Im vorliegenden Fall ist einerseits zu berücksichtigen, dass es sich bei dem der strafrechtlichen Verurteilung zu Grunde liegenden Sachverhalt nicht - wie der angefochtene Bescheid selbst feststellt - um einen einmaligen Vorfall handelt, wenn auch die Schwere und Intensität der der Anzeige vom 2. Februar 2004 zu Grunde liegenden gegenseitigen Körperverletzungen des Ehepaares keinesfalls vergleichbar sind. Andererseits geht aus dem psychiatrischen Gutachten vom 25. Dezember 2004 auch hervor, dass sich bei der Mitbeteiligten Hinweise auf eine Persönlichkeitsstörung mit unangemessenen und unflexiblen Reaktionen auf Lebensaufgaben und insbesondere auf -belastungen fänden. Die Störung der Impulskontrolle erfolge durch die hochgradig labile Affektivität, wodurch die rationale Steuerung - zusätzlich durch eine alkoholische Enthemmung - erheblich beeinträchtigt werde. Dem psychiatrischen Gutachten ist nicht zu entnehmen, dass die Mitbeteiligte bei Belastungen und allenfalls alkoholischer Enthemmung nicht auch gegenüber anderen Personen - also nicht nur dem Ehemann gegenüber - unangemessen reagieren könnte. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes ist dieses Gutachten daher nicht geeignet, die bei Begehung von Straftaten gemäß §§ 83 und 84 Abs. 1 und Abs. 2 Z. 1 StGB grundsätzlich gerechtfertigte Gefährdungsprognose, die zu Lasten der Mitbeteiligten ausfällt, dahin gehend zu entkräften, dass eine von ihr ausgehende gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit verneint werden könnte.
3. Da die belangte Behörde dies verkannt hat, hat sie sich mit der Zulässigkeit des Aufenthaltsverbots im Grund des § 60 Abs. 6 iVm § 66 FPG nicht auseinander gesetzt. Daher war auf das weitere Beschwerdevorbringen, die Mitbeteiligte habe nicht nur gegen strafrechtliche Bestimmungen, sondern auch gegen fremdenrechtliche Normen verstoßen, indem sie trotz bestehenden Aufenthaltsverbotes neuerlich illegal eingereist sei und sich offenbar jahrelang ohne Aufenthaltstitel in Österreich aufgehalten habe, nicht weiter einzugehen.
4. Der angefochtene Bescheid war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
5. Eine Kostenentscheidung findet gemäß § 47 Abs. 4 VwGG nicht statt.
Wien, am 9. November 2009
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