VwGH 2006/19/0442

VwGH2006/19/044217.4.2007

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und die Hofräte Dr. N. Bachler und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des Bundesministers für Inneres gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenats vom 15. November 2005, Zl. 264.149/0- XIV/08/05, betreffend § 32a Abs. 1 Asylgesetz 1997 (mitbeteiligte Partei: B, vertreten durch Mag. Dr. Wolfgang Fromherz, Mag. Dr. Bernhard Glawitsch und Mag. Ulrike Neumüller-Keintzel, Rechtsanwälte in 4020 Linz, Graben 9), zu Recht erkannt:

Normen

32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 1997 §24b Abs1 idF 2003/I/101;
AVG §45 Abs2;
AVG §52;
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 1997 §24b Abs1 idF 2003/I/101;
AVG §45 Abs2;
AVG §52;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Mitbeteiligte, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, reiste ihren Angaben zufolge im April 2004 gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren minderjährigen Kindern in das Gebiet der EU-Mitgliedstaaten ein. Sie stellte am 23. Mai 2005 in Polen einen Asylantrag. Am 13. August 2005 reiste die Mitbeteiligte mit ihrer Familie in das Bundesgebiet ein und brachte noch am selben Tag einen (weiteren) Asylantrag ein.

Im Rahmen einer am 31. August 2005 erfolgten Untersuchung stellte Dr. Ilse Hruby, Ärztin für Psychotherapeutische Medizin, bei der Mitbeteiligten keine "krankheitswerte psychische Störung", allerdings "eine depressive Grundstruktur" fest, "die jedoch mit den fluchtauslösenden Ereignissen nicht direkt im Zusammenhang" stehe.

Mit Bescheid vom 5. September 2005 wies das Bundesasylamt den Asylantrag der Mitbeteiligten - nach Konsultationen mit den zuständigen polnischen Behörden - gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (AsylG) als unzulässig zurück. Es stellte fest, für die Prüfung des Antrages sei gemäß Art. 16 Abs. 1 lit c der "Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" (im Folgenden: Dublin-Verordnung) Polen zuständig, und wies die Mitbeteiligte gemäß § 5a Abs. 1 iVm § 5a Abs. 4 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet "in die Slowakei" aus.

Dagegen erhob die Mitbeteiligte Berufung, in der u.a. die Schlüssigkeit des Untersuchungsberichts von Dr. Ilse Hruby angezweifelt und eine neuerliche Untersuchung beantragt wurde. Mit Schreiben vom 9. November 2005 legte die Mitbeteiligte einen "Psychotherapeutischen Kurzbericht", verfasst am selben Tag von E. K., Psychotherapeut in Wien, vor. Darin wurde über eine am 12. Oktober 2005 stattgefundene Untersuchung der Mitbeteiligten berichtet und von einer "höhergradigen posttraumatischen Belastungsstörung" aufgrund der von der Mitbeteiligten geschilderten Erlebnisse in Tschetschenien ausgegangen. Als Symptome wurden - jeweils mit näherer Beschreibung - Erinnerungsanflutungen, Ein- und Durchschlafstörungen sowie chronischer Schlafmangel, Suizidalität, Somatisierung, Dissoziation und Perspektivverlust in dem Bericht genannt.

Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung gemäß § 32a Abs. 1 AsylG statt, ließ den Asylantrag zu, behob den bekämpften Bescheid und verwies den Antrag zur Durchführung des materiellen Asylverfahrens an das Bundesasylamt zurück. Begründend führte sie nach Zitierung der einschlägigen Rechtsvorschriften aus, es lägen aufgrund des psychotherapeutischen Kurzberichts "nun im Zulassungsverfahren medizinisch jedenfalls belegbare Tatsachen iS des § 24b Abs. 1 AsylG" vor, "die die Annahme rechtfertigen, dass die Asylwerberin durch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein könnte". Ob tatsächlich eine Traumatisierung der Mitbeteiligten vorliege, werde im inhaltlichen Asylverfahren zu klären sein.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde und Erstattung einer Gegenschrift durch die Mitbeteiligte erwogen hat:

1. Die Amtsbeschwerde wendet sich gegen die Annahme der belangten Behörde, die Voraussetzungen für die Zulassung des Verfahrens gemäß § 24b Abs. 1 AsylG (und damit für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung durch Österreich) seien im vorliegenden Fall gegeben. Begründet wird dies mit der Ansicht, "medizinisch belegbare Tatsachen" im Sinne des § 24b Abs. 1 AsylG bedürften einer "Diagnose- und Befunderstellung durch einen Mediziner". Der Abschluss eines Universitätsstudiums der Medizin sei "somit unabdingbar vorausgesetzt", um einen Befund oder ein Gutachten erstellen zu können, in dem bescheinigt wird, dass der Asylwerber Opfer von Folter oder durch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein könnte. Der von der Mitbeteiligten vorgelegte psychotherapeutische Kurzbericht vermöge "keinesfalls den gesetzlichen Anforderungen zu entsprechen, da die 'Untersuchung' nicht von einem Mediziner vorgenommen" worden sei. Eine andere Auslegung des Gesetzes verbiete sich auch im Hinblick auf den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz des "effet utile".

2. § 24b Abs. 1 AsylG (in der hier maßgeblichen Fassung der AsylG-Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101) lautet:

"Ergeben sich in der Ersteinvernahme oder einer weiteren Einvernahme im Zulassungsverfahren (§ 24a) medizinisch belegbare Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass der Asylwerber Opfer von Folter oder durch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein könnte, ist das Verfahren zuzulassen und der Asylwerber kann einer Betreuungseinrichtung zugewiesen werden. In dieser und im weiteren Verlauf des Asylverfahrens ist auf die besonderen Bedürfnisse des Asylwerbers Bedacht zu nehmen."

Dazu wurde in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (120 BlgNR 22. GP 17) Folgendes festgehalten:

"Da Folteropfer und Traumatisierte eine besonders schützenswerte Gruppe von Asylwerbern sind, ist es erforderlich, für diese Menschen im Verfahren besondere Sicherheitsmechanismen einzubauen (§24b). Daher wird in diesem Kontext vorgesehen, dass die Verfahren solcher Menschen zuzulassen sind, wenn im Zulassungsverfahren in der Ersteinvernahme oder in einer weiteren Einvernahme medizinisch belegbare Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Opfer von Traumatisierung oder Folteropfer sein könnten. Wesentlich ist hiebei, dass es sich um Geschehnisse handelt, die im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis vorgefallen sind und der Asylwerber durch diese traumatisiert wurde. Zur Belegbarkeit der Traumatisierung können Sachverständige aus allen notwendigen Fachrichtungen beigezogen werden. ..."

Der Verwaltungsgerichtshof hat in mehreren Erkenntnissen vom heutigen Tag, auf deren Begründungen gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, zur Auslegung des § 24b Abs. 1 AsylG Stellung genommen (vgl. dazu etwa die Erkenntnisse zu den hg. Zlen. 2006/19/0919, 2006/19/0675, 2006/19/0163 bis 0166, 2006/19/0851 bis 0854).

Insbesondere wurde in dem erstzitierten Erkenntnis klargestellt, dass § 24b Abs. 1 AsylG eine Begutachtung des Asylwerbers im Zulassungsverfahren nicht vorschreibt, sondern lediglich vorsieht, dass sein Asylverfahren zuzulassen ist, wenn "medizinisch belegbare Tatsachen" die Annahme rechtfertigen, er "könnte" Opfer von Folter oder durch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein. Daraus folgt, dass zum Zweck der Zulassung des Verfahrens die (durch die fluchtauslösenden Ereignisse bedingte) Traumatisierung nicht feststehen, sondern eine solche nur möglich sein muss. Eine Klärung, ob der Asylwerber tatsächlich traumatisiert ist, hat daher unter dem Blickwinkel des § 24b Abs. 1 AsylG nicht stattzufinden. Allerdings reicht - wie der Gesetzeswortlaut erkennen lässt - die bloße Behauptung einer Traumatisierung durch den Asylwerber nicht aus, sondern es bedarf für die Zulassung des Verfahrens der Feststellung von Tatsachen, die für eine Traumatisierung des Asylwerbers sprechen könnten, und die sich medizinisch belegen lassen.

3. Im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Fall ist zu beurteilen, ob der Gesetzgeber der AsylG-Novelle 2003 in § 24b Abs. 1 AsylG eine Zulassung des Verfahrens durch die Asylbehörden nur dann vorsehen wollte, wenn für die Tatsachen, die für die Annahme einer Traumatisierung sprechen könnten, ein ärztlicher Beleg vorliegt.

Gegen diese - in der Amtsbeschwerde vertretene - Auffassung spricht jedoch vor allem die Entstehungsgeschichte des § 24b Abs. 1 AsylG.

So war in den Erläuterungen zum Ministerialentwurf, der mit Schreiben des Bundesministers für Inneres vom 30. April 2003, GZ: 76.201/773-III/1/c/03/TM, ausgesandt wurde (55/ME XXII. GP), insbesondere der letzte Satz der oben zitierten Passage aus den Erläuterungen zur Regierungsvorlage noch nicht enthalten. In den Reaktionen auf den Ministerialentwurf äußerten sich einerseits der Österreichische Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP) in seiner Stellungnahme und andererseits die Organisationen ASPIS (Forschungs- und Beratungszentrum für Opfer von Gewalt, Klagenfurt), Hemayat (Verein zur Behandlung von Folter und Kriegsüberlebenden, Wien), OMEGA (Gesundheitsstelle, Graz), Volkshilfe Oberösterreich (Projekt Oasis, Linz) und ZEBRA (Zentrum zur sozialmedizinischen, rechtlichen und kulturellen Betreuung von Ausländern und Ausländerinnen in Österreich, Graz) im Rahmen der von der "asylkoordination österreich" abgegebenen Stellungnahme sinngemäß dahingehend, dass eine Beschränkung der Beurteilung einer "medizinischen Belegbarkeit" auf den Kreis von Ärzten der Ausbildung und Tätigkeit von Psychologen und Psychotherapeuten (auch entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen des Psychologen- bzw. des Psychotherapiegesetzes) nicht gerecht werde. Die daraufhin vorgenommene Ergänzung in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage, zur Belegbarkeit der Traumatisierung könnten "Sachverständige aus allen notwendigen Fachrichtungen" beigezogen werden, kann nur als Antwort auf diese Kritik am Ministerialentwurf gedeutet werden und lässt - bei gleichzeitiger Beibehaltung des Ausdrucks "medizinisch belegbar" im Gesetzestext -

den Schluss zu, dass der Asylgesetzgeber sich hinsichtlich des zur Beurteilung der medizinischen Belegbarkeit berufenen Expertenkreises nicht festlegte und somit jedenfalls nicht ausschließlich vom Erfordernis eines ärztlichen Belegs ausging. Für ein derartiges Verständnis spricht auch, dass keine Krankheitsbilder diagnostiziert, sondern durch die Asylbehörden im Zulassungsverfahren, bei dem der Gesetzgeber möglichste Raschheit, Effektivität und Effizienz anstrebte (vgl. die Erläuterungen zur Regierungsvorlage, 120 BlgNR 22. GP 8 f.), lediglich - über bloße Behauptungen des Asylwerbers hinausgehend - Tatsachen festgestellt werden sollen, die auf eine mögliche Traumatisierung deuten könnten.

Ausgehend davon kann entgegen der in der Amtsbeschwerde vertretenen Rechtsauffassung nicht angenommen werden, nur ein ärztlicher Beleg sei geeignet, als Grundlage einer Zulassung des Verfahrens zu dienen. Allerdings wird es erforderlich sein, dass sich dem Bescheid der Asylbehörde nachvollziehbar entnehmen lässt, auf welcher Grundlage sie zur Feststellung gelangte, es lägen medizinisch belegbare Tatsachen vor, die die Annahme rechtfertigen, der Asylwerber könnte durch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein. Dabei wird auch auf die fachliche Qualifikation der Person Bedacht zu nehmen sein, die einen Beleg über die maßgebliche Frage ausgestellt hat.

Aufgrund dieses Erfordernisses kann auch nicht von einer Verletzung des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes (zu diesem vgl. etwa Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht3 (2006) 105 f.) gesprochen werden, da der Ausnahmecharakter des in Art. 3 Abs. 2 der Dublin-Verordnung statuierten und einen sehr weiten Ermessensspielraum einräumenden Selbsteintrittsrechts (s. dazu etwa Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum deutschen Asylverfahrensgesetz, Ergänzungslieferung August 2003, Rz 207 zu § 29) durch die vorgenommene Auslegung nicht in Frage gestellt wird.

4. Dass der angefochtene Bescheid die geforderten Kriterien nicht erfüllt hätte, ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht erkennbar. Die Amtsbeschwerde stellt nur auf den formalen Umstand ab, dass im vorliegenden Fall ein psychotherapeutischer anstatt eines ärztlichen Belegs berücksichtigt wurde, bezweifelt jedoch nicht die inhaltliche Richtigkeit des vorgelegten Belegs und damit die Nachvollziehbarkeit des Bescheides. Da in der Beschwerde keine sonstigen Umstände aufgezeigt werden, die gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides sprechen, war sie gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

5. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 17. April 2007

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