VwGH 2006/19/0020

VwGH2006/19/002030.8.2007

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde 1. der I, 2. der A, 3. des B,

4. der C, und 5. des E, alle vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates 1. vom 19. Dezember 2005 und

2. bis 5. vom 20. Dezember 2005, Zlen. 266.001/0-XIV/39/05, 266.005/0-XIV/39/05, 266.002/0-XIV/39/05, 266.003/0-XIV/39/05 und 266.004/0-XIV/39/05, betreffend §§ 5 und 5a Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §10 Abs5;
AsylG 1997 §24b Abs1;
AsylG 1997 §5 Abs1;
AsylG 1997 §5a;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §10 Abs5;
AsylG 1997 §24b Abs1;
AsylG 1997 §5 Abs1;
AsylG 1997 §5a;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, hinsichtlich der zweit- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat jeder der beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von je EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Erstbeschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit aus Dagestan, und ihre Kinder, die zweit- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien, gelangten am 30. September 2005 in das Bundesgebiet und beantragten Asyl. Nach Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin am 4. Oktober 2005 und am 11. Oktober 2005 wies das Bundesasylamt die Asylanträge mit fünf Bescheiden vom 31. Oktober 2005 gemäß § 5 Abs. 1 des Asylgesetzes 1997 in der Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 101/2003 (AsylG) als unzulässig zurück. Es stellte fest, für die Prüfung der Asylanträge sei Polen zuständig, und wies die beschwerdeführenden Parteien gemäß § 5a AsylG dorthin aus.

In ihrer gemeinsamen Berufung gegen diese Bescheide machten die beschwerdeführenden Parteien u.a. die "mangelhafte Abklärung der Traumatisierung" der Erstbeschwerdeführerin geltend. Sie verbanden dies mit längeren Ausführungen darüber, weshalb die im erstinstanzlichen Verfahren durchgeführte "Traumatisierungsabklärung in der Form eines einmaligen, relativ kurzen Gesprächs" unzureichend gewesen sei.

In Ergänzung zur Berufung wurde der belangten Behörde ein Schreiben eines Facharztes für Psychologie und Neurologie vom 1. Dezember 2005 vorgelegt.

Mit den angefochtenen Bescheiden bestätigte die belangte Behörde die Entscheidungen des Bundesasylamtes gemäß §§ 5 und 5a AsylG.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Auch die Beschwerde macht u.a. geltend, die erstinstanzliche Untersuchung der Erstbeschwerdeführerin sei unzureichend gewesen und die belangte Behörde wäre verpflichtet gewesen, sich auf Grund der bei dieser Untersuchung hervorgekommenen Anhaltspunkte für "erhebliche psychische Beschwerden" sowie des Berufungsvorbringens und des ergänzend vorgelegten fachärztlichen Schreibens mit der Frage einer möglichen Traumatisierung der Erstbeschwerdeführerin näher auseinander zu setzen. Diesfalls hätte sich ergeben, dass der Asylantrag der Erstbeschwerdeführerin allein schon aus diesen Gründen in Österreich inhaltlich erledigt werden müsse.

Damit bezieht sich die Beschwerde der Sache nach auf § 24b Abs. 1 AsylG. Diese Bestimmung lautete, soweit hier wesentlich:

"Ergeben sich in der Ersteinvernahme oder einer weiteren Einvernahme im Zulassungsverfahren (§ 24a) medizinisch belegbare Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass der Asylwerber Opfer von Folter oder durch die Geschehnisse in Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein könnte, ist das Verfahren zuzulassen und der Asylwerber kann einer Betreuungseinrichtung zugewiesen werden."

Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt die Erstbeschwerdeführerin am 12. Oktober 2005 von der Fachärztin Dr. Ilse Hruby untersuchen lassen. Der darüber vorliegende Bericht, zu dem der Erstbeschwerdeführerin kein Parteiengehör gewährt wurde, gelangte (durch Ankreuzen des dafür vorgesehenen Kästchens) zu der "Schlussfolgerung", bei der Erstbeschwerdeführerin liege "aus aktueller Sicht eine krankheitswerte psychische Störung" vor. In einem kurzen Zusatz hielt die Ärztin fest, ihrer "Meinung nach" handle es sich um eine Anpassungsstörung, eine längere depressive Reaktion, diese sei jedoch "durch die allgemeine schwierige Lebenssituation der Frau bedingt und entspricht keiner Traumatisierung. Zur Zeit der Untersuchung liegen keine traumaspezifischen Symptome vor".

Der im Berufungsverfahren vorgelegte Arztbrief erwähnte u. a. die schon jahrelange Einnahme von Beruhigungsmitteln, die Hoffnungen und Ängste der Erstbeschwerdeführerin im Zusammenhang mit dem "Krieg" und einen "Leidensdruck", der "aber in erster Linie unter einem stark ausgeprägten Gefühl der Sinnlosigkeit, der Ausweglosigkeit" entstehe. Phasenweise habe die Erstbeschwerdeführerin auch Selbstmordgedanken, in den letzten Wochen habe sie stark abgenommen. Es liege eine "schwere depressive Episode (reaktiv)" vor, und falls die als Therapie vorgeschlagenen Medikamente innerhalb der nächsten 5 Wochen zu keiner Stimmungsaufhellung führen sollten und die Betreuung der Kinder gesichert werden könne, wäre eine stationäre Aufnahme indiziert.

Mit diesen ihr vorliegenden Beurteilungsgrundlagen setzte sich die belangte Behörde in dem die Erstbeschwerdeführerin betreffenden Bescheid wie folgt auseinander:

"Im gesamten Verfahren haben sich keine Hinweise auf eine Traumatisierung bzw. medizinisch belegbare Tatsachen hiefür ergeben. In dem im erstinstanzlichen Akt aufliegenden Bericht der Ärztin für psychotherapeutische Medizin wurde eine Traumatisierung ausgeschlossen und aus dem von der Berufungswerberin vorgelegten medizinischen Bericht ergeben sich ebenfalls keine medizinisch belegbaren Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen würden, dass die Berufungswerberin durch die Geschehnisse in Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein könnte, weist doch der Bericht selbst darauf hin, dass der bei der Berufungswerberin festgestellte Leidensdruck unter einem stark ausgeprägten Gefühl der Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit entsteht. Anhaltspunkte dafür, dass die Berufungswerberin einer Behandlung ihrer Depressionen, welche bedingt durch ihre derzeitige Lebenssituation ist, in Polen nicht zugänglich wäre, haben sich keine ergeben und wurden solche auch nicht von der Berufungswerberin vorgebracht. Letztendlich ist festzuhalten, dass keine länderspezifischen Berichte bekannt sind, wonach von einer generellen und ausnahmslosen Traumatisierung von Angehörigen der tschetschenischen Volksgruppe auszugehen wäre."

Dem ist entgegenzuhalten, dass der Untersuchungsbericht aus dem erstinstanzlichen Verfahren, in dem das Vorliegen einer "krankheitswerten psychischen Störung" (vgl. dazu das Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2006/19/0532) zwar bejaht, diese aber nicht als "traumaspezifisch" eingestuft wurde, kein Sachverständigengutachten war, auf das sich die Annahme, es gebe "keine Hinweise auf eine Traumatisierung bzw. medizinisch belegbare Tatsachen hiefür", fehlerfrei stützen ließ. Es handelte sich - in Bezug auf die Frage eines Zusammenhanges zwischen der krankheitswerten psychischen Störung der Erstbeschwerdeführerin und einer möglichen Traumatisierung - um eine nicht näher begründete Meinungsäußerung der Sachverständigen. Hiezu sowie zu dem weiteren Gesichtspunkt, dass die "medizinisch belegbaren Tatsachen" im Sinne des § 24b Abs. 1 AsylG nicht ausreichen müssen, um daraus - über das bloße Vorliegen einer solchen Möglichkeit hinaus - auf das tatsächliche Vorliegen einer Traumatisierung schließen zu lassen, kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf das hg. Erkenntnis vom 17. April 2007, Zl. 2006/19/0919, verwiesen werden.

Dass es ausgeschlossen sei, aus den medizinisch belegten Tatsachen, die auf Grund des erstinstanzlichen Untersuchungsberichtes und des im Berufungsverfahren vorgelegten Arztschreibens schon aktenkundig waren, auf eine Traumatisierung der Erstbeschwerdeführerin zu schließen, konnte die belangte Behörde - anders, als sie offenbar annahm - auf Grund der ihr vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen noch nicht als geklärt ansehen. Sie hätte dies unter entsprechender Präzisierung der Fragestellung einer fachkundigen Beurteilung im Berufungsverfahren zuführen müssen (vgl. in diesem Zusammenhang zuletzt das hg. Erkenntnis vom 20. Juni 2007, Zl. 2006/19/0018).

Dass für den Fall, dass die Erstbeschwerdeführerin doch traumatisiert sein könnte, der im Gesetz geforderte Zusammenhang mit dem "die Flucht auslösenden Ereignis" zu verneinen sei, hat die belangte Behörde ihrer Entscheidung nicht nachvollziehbar zu Grunde gelegt. Das fluchtauslösende "Ereignis" kommt in dem die Erstbeschwerdeführerin betreffenden Bescheid nicht vor. Nach ihren bisher aktenkundigen Äußerungen vor dem Bundesasylamt und gegenüber den Ärzten hätte die Erstbeschwerdeführerin den Herkunftsstaat wegen des "Krieges" und des - im Detail unterschiedlich beschriebenen - Verlustes von Angehörigen verlassen. Dass ihre "krankheitswerte psychische Störung" mit diesen Umständen nicht zusammenhänge, kann dem erstangefochtenen Bescheid nicht entnommen werden.

Der die Erstbeschwerdeführerin betreffende Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die die zweit- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien betreffenden Bescheide waren mit Rücksicht auf § 10 Abs. 5 AsylG gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 30. Mai 2007, Zlen. 2006/19/0433 bis 0436, und vom 20. Juni 2007, Zlen. 2006/19/0764 bis 0766).

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 52 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 30. August 2007

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