VwGH 2003/21/0219

VwGH2003/21/021922.2.2005

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gruber und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Grünstäudl als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Thurin, über die Beschwerde des O, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/II/23, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich vom 8. Juli 2003, Zl. Fr 92/03, betreffend Feststellung gemäß § 75 Fremdengesetz 1997, zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FrG 1997 §57 Abs2;
FrG 1997 §75 Abs1;
WrÜbk über das Recht der Verträge Art 31;
AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FrG 1997 §57 Abs2;
FrG 1997 §75 Abs1;
WrÜbk über das Recht der Verträge Art 31;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerdeführer hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von EUR 51,50 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid stellte die belangte Behörde gemäß § 75 Abs. 1 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, fest, es bestünden keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, in der Türkei gemäß § 57 Abs. 1 und 2 FrG bedroht sei.

In der Begründung schloss sie sich nach Wiedergabe des Vorbringens des Beschwerdeführers ausdrücklich den erstinstanzlichen Ausführungen an und verwies im Übrigen darauf, dass der Beschwerdeführer in seinem Antrag (vom 24. Februar 2003) keinerlei Umstände angeführt habe, aus denen konkret gegen ihn gerichtete Verfolgungshandlungen hervorgingen. Der bloße Verweis auf mögliche Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gegen die kurdische Bevölkerungsgruppe reiche für die Zuerkennung eines Refoulementschutzes jedenfalls nicht aus. Die Behörde erster Instanz hätte bereits darauf verwiesen, dass gemessen an der Gesamtzahl der Kurden die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht gerechtfertigt sei und auch nicht festgestellt werden könne. Allein in Istanbul sei der kurdische Anteil auf drei Millionen, also auf ca. 20 % der Bevölkerung zu schätzen, sodass eine lückenlose Überwachung aller Angehörigen der kurdischen Bevölkerungsgruppe durch die Exekutive nicht tunlich, ja sogar als unmöglich zu bezeichnen sei. Darüber hinaus gebe es inländische Fluchtalternativen. Zum Beispiel seien in der Westtürkei Kurden, wenn diese politisch nicht exponiert seien, vor politischer Verfolgung hinreichend sicher. Die Aleviten seien zwar als religiöse Minderheit nicht anerkannt, bildeten jedoch in der Türkei nach den Sunniten die zahlenmäßig größte Religionsgemeinschaft. Ihre Siedlungsgebiete seien über die gesamte Türkei verstreut, wobei ca. 4,5 Mio. Aleviten allein in Istanbul lebten. Insofern sei das Vorbringen des Beschwerdeführers derart unbestimmt, dass es keiner positiven Refoulemententscheidung zugänglich sei. Schließlich sei schon aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer seit 1991 in Österreich sei, nicht abzuleiten, dass er tatsächlich im Fall einer Rückkehr einer aktuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Zudem habe er "in Österreich noch niemals einen Asylantrag" gestellt. (Dieser Begründungsteil stimmt mit dem Akteninhalt nicht überein, in dem von einem Asylantrag vom 9. März 2003 bzw. 12. Juni 2003 die Rede ist.) Im Fall einer Verfolgung hätte er Fluchtgründe bereits bei der Einreise vorgebracht. Die Behörde gehe davon aus, dass es sich um eine "konstruierte Geschichte" handle, um nun im Zug der drohenden Abschiebung auf Grund des erlassenen Aufenthaltsverbotes eine bessere Position im fremdenpolizeilichen Verfahren zu haben.

Der Verfassungsgerichtshof lehnte mit Beschluss vom 25. November 2003, B 1310/03-6, die Behandlung der gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde ab und trat sie in der Folge dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab, der nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Gemäß § 57 Abs. 1 FrG ist die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde.

Gemäß § 57 Abs. 2 FrG ist die Zurückweisung oder Zurückschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre.

Im Rahmen eines Feststellungsverfahrens nach § 75 Abs. 1 FrG hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen, also im Fall seiner Abschiebung in den von seinem Antrag erfassten Staat dort gegebenen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des § 57 Abs. 1 und/oder Abs. 2 FrG glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist. Ebenso wie im Asylverfahren ist auch bei der Beurteilung des Vorliegens einer Gefahr gemäß § 57 Abs. 1 oder Abs. 2 FrG im Verfahren gemäß § 75 leg. cit. die konkrete Einzelsituation in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Antragstellers in diesen Staat zu beurteilen. Für diese Beurteilung ist nicht unmaßgeblich, ob allenfalls gehäufte Verstöße der in § 57 Abs. 1 FrG umschriebenen Art durch den genannten Staat bekannt geworden sind (vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom 8. Juli 2004, Zl. 2001/21/0098, und die dort zitierte Vorjudikatur).

Seinen Antrag vom 24. Februar 2003 auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung in die Türkei hat der Beschwerdeführer im Wesentlichen damit begründet, dass seine gesamte Familie kurdischer Abstammung sei und dem alevitischen Glauben angehöre. Im Fall einer Rückkehr in die Türkei wäre er von politischer Verfolgung bedroht. So sei ein Onkel auf Grund eines politischen Mordes in den Achtzigerjahren getötet worden. Seine Tante sei nach Großbritannien geflüchtet und habe dort Asyl bekommen. Zahlreiche weitere Verwandte hätten ebenfalls flüchten müssen und in Deutschland Asyl bekommen. Im Jahr 2001 seien vor einem türkischen Gericht Klagen gegen alevitische Vereinigungen wegen angeblichem "Separatismus" eingebracht worden und es sei zur Entführung eines in Deutschland als anerkannter Flüchtling lebenden kurdischen Politikers gekommen. Auf Grund der Familiengeschichte des Beschwerdeführers wäre ihm die Aufmerksamkeit der türkischen Behörden gewiss und er hätte politische Verfolgung zu gewärtigen. Weiters müsse er im Fall seiner Rückkehr damit rechnen, zum türkischen Militär eingezogen zu werden. In der Vergangenheit sei es dazu gekommen, dass kurdische Soldaten vor allem auch im kurdischen Gebiet eingesetzt worden und Opfer "extralegaler" Tötungen geworden seien. Weiters bestehe ein hohes quantitatives Risiko für Werkpflichtige (richtig wohl: Wehrpflichtige), im Lauf der Ableistung ihres Militärdienstes zu völkerrechtswidrigen und "individuell völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit auslösenden Handlungen" verhalten zu werden.

Dieses Vorbringen wiederholte der Beschwerdeführer im Wesentlichen in einer Stellungnahme vom 2. April 2003 und berief sich auf ein beiliegendes Gutachten des Mehmet Ö. Aus einem Bericht von Amnesty International gehe hervor, dass in der Türkei keine Besserung der Menschenrechtslage eingetreten sei. Folter sei weit verbreitet und werde systematisch angewandt. Zu den Opfern von Folterungen zählten u.a. Bewohner kurdischer Dörfer, Familienangehörige politischer Aktivisten und Gewerkschafter. In der Türkei werde systematisch versucht, die Kurden zu assimilieren. Gegen die letzte verbleibende bedeutende prokurdische Partei sei ein Verbotsverfahren eingeleitet worden. Zwischen 1980 und 2000 seien in den türkischen Gefängnissen mehr als 400 Gefangene auf Grund von Folter durch türkische Polizisten oder Gendarmen gestorben.

Soweit der Beschwerdeführer eine Verfolgungsgefahr aus Gründen, die in seiner Familie liegen, abzuleiten versucht, haben beide fremdenbehördlichen Instanzen zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses Vorbringen einer ausreichenden Konkretisierung entbehrt. Auch die Beschwerde unternimmt keinen Versuch, konkrete Gründe aufzuzeigen, warum der Beschwerdeführer ebenso wie andere Familienmitglieder von türkischen Behörden bedroht und verfolgt sein sollte.

Zur allgemeinen Situation türkischer Staatsangehöriger kurdischer Abstammung hat bereits die Behörde erster Instanz unter Hinweis auf den hohen Anteil der Kurden an der Gesamteinwohnerzahl in der Türkei festgestellt, dass eine Gruppenverfolgung der kurdischen Volksgruppe nicht stattfinde, Angehörige der kurdischen Bevölkerungsgruppe auch in höheren Positionen tätig seien, Zeitungen in kurdischer Sprache erschienen und auch ein kurdischsprachiger Radiosender existiere. Dem ist der Beschwerdeführer nicht substanziell entgegen getreten. Auch mit dem pauschalen Berufungshinweis, dass zu den Opfern von Folterungen u.a. Bewohner kurdischer Dörfer, Familienangehörige politischer Aktivisten und Gewerkschafter zählten, zeigt der Beschwerdeführer nicht auf, dass aktuell jeder Kurde und insbesondere der mit zehn Jahren aus der Türkei ausgereiste und seit 1991 in Österreich befindliche Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsste, Opfer einer politischen Verfolgung zu werden. Dies gelingt auch nicht mit dem Vorbringen, dass Vornamen "mit der nationalen Kultur vereinbar" sein müssten und gegen die letzte verbleibende bedeutende pro-kurdische Partei ein Verbotsverfahren eingeleitet worden sei.

Letztlich bleibt die Behauptung des Beschwerdeführers zu prüfen, dass er nach Einberufung zur Armee Gefahr liefe, an kriegsvölkerrechtswidrigen Handlungen und schweren Menschenrechtsverletzungen teilnehmen zu müssen und dass er Opfer "extralegaler" Tötungen werden könnte. In der Beschwerde wird auch noch die Gefahrenlage für einen kurdischen Wehrdienstverweigerer angesprochen.

Im hg. Erkenntnis vom 21. März 2002, Zl. 99/20/0401, hat der Gerichtshof - einen Angehörigen der kurdischen Volksgruppe im Irak betreffend - dargelegt, dass auch die Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohende Bestrafung dann zur Asylgewährung führen kann, wenn das Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen - wie etwa bei der Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Weiters könne unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen auch eine "bloße" Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein. Diese Überlegungen gelten auch für § 57 Abs. 2 FrG.

Der Beschwerdeführer berief sich auf das in den Verwaltungsakten erliegende Gutachten des Mehmet Ö vom 9. November 2001. In diesem Gutachten werden zwei Fälle von Befehlsverweigerung bzw. Desertion wegen befürchteter Teilnahme an der Folterung der (kurdischen) Zivilbevölkerung und wegen der "Abschlachtungen" durch eine Sondereinheit angeführt. Des Weiteren wird im Gutachten dargelegt, dass eine Verfolgung im Zusammenhang mit Militärdienstverweigerung nur von einer Minderheit der in Frage kommenden Asylwerber in Österreich (türkischer Staatsangehörigkeit kurdischer Volksgruppe) überhaupt behauptet worden sei und dass auch eine hohe Zahl von Asylwerbern tatsächlich den Militärdienst abgeleistet habe, ohne sich in ihrem Asylvorbringen auf diesen Militärdienst bzw. Erlebnisse im Rahmen desselben zu beziehen.

Die oben genannten und im Gutachten selbst relativierten Hinweise auf Befehlsverweigerung bzw. Desertion sind nicht geeignet, die von der belangten Behörde übernommene Feststellung der Behörde erster Instanz, dass es keine zureichenden Anhaltspunkte für eine relevante Diskriminierung von Kurden bei der Wehrdienstableistung oder bei der Bestrafung wegen Wehrdienstentzuges gebe, als unschlüssig zu werten. Es sprechen auch keine sonstigen Verfahrensergebnisse dafür, dass gerade der Beschwerdeführer derartige Maßnahmen zu befürchten hätte.

Die Ansicht der belangten Behörde, es sei dem Beschwerdeführer nicht gelungen glaubhaft zu machen, dass er aktuell in dem von ihm bezeichneten Staat im Sinn des § 57 Abs. 1 und/oder Abs. 2 FrG bedroht sei, kann nach dem Gesagten nicht als rechtswidrig gewertet werden.

Die Beschwerde war somit gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG Abstand genommen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 22. Februar 2005

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