VwGH 2001/20/0564

VwGH2001/20/056422.7.2004

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Lier, über die Beschwerde des SS in W, geboren 1953, vertreten durch Dr. Richard Köhler, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Amerlingstraße 19, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 12. Juni 2001, Zl. 221.755/9-II/04/01, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1968 §23;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1968 §23;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Indien und Angehöriger der Sikh, reiste am 18. September 2000 in das Bundesgebiet ein und ersuchte um Asyl. Vor dem Bundesasylamt gab er zu seinen Fluchtgründen an, er sei seit 1974 Mitglied der Partei "Shiromani Akali Dal" und habe als solches an diversen Parteiveranstaltungen, Kundgebungen und Versammlungen teilgenommen sowie Mitglieder für die Partei angeworben. Er sei deshalb seit 1975 mindestens acht Mal von der Polizei festgenommen worden, zuletzt im August 2000. Man habe dem Beschwerdeführer vorgeworfen, gegen die Regierung zu agieren und an Demonstrationen teilgenommen zu haben, die sich gegen die Regierung im Punjab gerichtet hätten. Durch Interventionen seines Bruders, der Polizist in Amritsar sei, habe man den Beschwerdeführer aber immer wieder frei gelassen. Nach der letzten Festnahme habe ihm sein Bruder mitgeteilt, dass die Polizei plane, den Beschwerdeführer bei der nächsten Verhaftung umzubringen.

Das Bundesasylamt wertete die Fluchtgründe des Beschwerdeführers als nicht glaubhaft und wies den Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 2. März 2001 gemäß § 7 AsylG ab. Gleichzeitig stellte die Erstbehörde fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Indien gemäß § 8 AsylG zulässig sei.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung und führte in einem ergänzenden Schriftsatz vom 24. März 2001 aus, nach näher genannten Länderberichten würden auch einfache Mitglieder von Sikh-Organisationen und nicht bloß "high profile"-Menschen im Punjab von der Polizei verhaftet, gefoltert und getötet. Sein Bruder, der selbst Polizist sei, habe von Kollegen erfahren, dass man den Beschwerdeführer bei einer abermaligen Verhaftung umbringen werde, weil er der Polizei so viele Probleme bereite. Deshalb habe sich der Beschwerdeführer zur Flucht entschlossen.

In der von der belangten Behörde durchgeführten Berufungsverhandlung erstattete der länderkundliche Sachverständige ein Gutachten zur Gefahrensituation in Indien und führte zunächst aus, willkürliche Verhaftungen durch die Polizei, Misshandlungen im Polizeigewahrsam und Schmiergelderpressungen durch die Polizei und andere Sicherheitskräfte stünden in Indien weiterhin auf der Tagesordnung. Zur Gefahr, Opfer solcher willkürlicher Handlungen der Polizei zu werden, meinte der Sachverständige, die Sicherheitslage "sei gegenwärtig im Punjab sicherlich weitaus günstiger als noch Anfang der 90er-Jahre", die Gefahr aber "jedenfalls höher einzuschätzen als in Österreich". Was den Themenkreis "Sikh-Terroristen" betreffe, so bestehe für Sympathisanten, Angehörige, Freunde und einfache Mitglieder von Gruppen, die für ein unabhängiges Khalistan eintreten, "in der Regel keine Gefahr" von Verfolgungshandlungen durch staatliche Organe. Vorliegende Dokumente und Informationen legten vielmehr nahe, dass nur für hochrangige ("high profile") Führungspersonen militanter Organisationen die Gefahr staatlicher Verfolgung bestehe.

Diesen Ausführungen des Sachverständigen stimmte der Beschwerdeführer "im Allgemeinen" zu, wies jedoch erneut darauf hin, es sei in seinem Fall zu beachten, dass er über die konkrete Gefährdung seiner Person die erwähnten Informationen seines Bruders habe und dass er von der Polizei offenbar wegen seiner häufigen Teilnahme an Demonstrationen gesucht werde.

Anknüpfend an diese Aussagen des Beschwerdeführers führte der Sachverständige aus, dass die Polizei im Punjab eine Liste von Personen, die polizeilich auffällig geworden seien und die in Zeiten besonderer Spannung für einige Tage in Präventivhaft genommen würden (sogenannte "history sheeters"), führe. Sollte der Beschwerdeführer auf dieser Liste stehen, so wäre nicht auszuschließen, dass auch er von der Polizei kurzzeitig festgenommen werden könnte, wobei der Sachverständige zur Behandlung während einer derartigen Inhaftierung auf seine bereits erwähnten Ausführungen verwies.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß den §§ 7, 8 AsylG ab. Begründend meinte sie, das Vorbringen des Beschwerdeführers lasse sich "darauf reduzieren", als "history sheeter" unter verstärkter Beobachtung der Polizei des Punjab zu stehen und in Phasen besonderer Spannung Gefahr zu laufen, "für einige Tage in Präventivhaft genommen zu werden". Selbst wenn man eine solche Präventivhaft des Beschwerdeführers nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen wollte, so stelle sich die dem Beschwerdeführer dabei allenfalls drohende Möglichkeit einer unzumutbaren intensiven Misshandlung nach dem Gutachten gegenwärtig wohl kaum als "genügend reale, dh nahe Gefahr" dar.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Wenn die Beschwerde unter dem Gesichtspunkt fehlender Feststellungen die mangelhafte Begründung des angefochtenen Bescheides rügt, so ist ihr zwar zuzugestehen, dass der Bescheid der belangten Behörde ausdrückliche Sachverhaltsfeststellungen und eine Würdigung des Vorbringens des Beschwerdeführers vermissen lässt. Aus der wiedergegebenen Begründung des angefochtenen Bescheides ist jedoch abzuleiten, dass die belangte Behörde vom Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers ausgegangen ist, das - ihrer Ansicht nach - noch nicht auf eine ausreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit schließen lasse. Die letztgenannte, den Kern der Begründung des angefochtenen Bescheides bildende Schlussfolgerung ist allerdings nicht nachvollziehbar:

Schon im Ansatz geht die belangte Behörde zu Unrecht davon aus, das Vorbringen des Beschwerdeführers lasse sich "darauf reduzieren", dass dieser befürchte, als "history sheeter ... für einige Tage in Präventivhaft" genommen zu werden. Die belangte Behörde übergeht dabei, dass der Beschwerdeführer nicht zuletzt in der Berufungsverhandlung betont hat, nach den Informationen seines Bruders, der bei der Polizei in Indien beschäftigt sei, wisse er, dass er bei der nächsten Verhaftung getötet werden solle. Diesen Befürchtungen des Beschwerdeführers vermag die belangte Behörde mit dem Verweis auf die Ausführungen des Sachverständigen nicht wirksam entgegen zu treten, hat dieser doch bei seinem Gutachten die konkreten Informationen des Beschwerdeführers über sein angeblich bevorstehendes Schicksal in Indien nicht einbezogen.

Nicht nachvollziehbar ist es für den Verwaltungsgerichtshof aber auch, wenn die belangte Behörde trotz "keineswegs mit der erforderlichen Sicherheit" auszuschließender Möglichkeit der Präventivhaft des Beschwerdeführers meint, die Gefahr einer "unzumutbaren intensiven Misshandlung" des Beschwerdeführers sei in diesem Zusammenhang nicht ausreichend wahrscheinlich. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten nämlich darauf hingewiesen, dass "Misshandlungen im Polizeigewahrsam" in Indien auf der Tagesordnung stünden.

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid somit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 22. Juli 2004

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