Normen
AsylG 1997 §7;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §7;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung, reiste am 7. Juni 1996 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 10. Juni 1996 Asyl. Das Bundesasylamt wies den Antrag - nach Einvernahmen des damals noch jugendlichen Beschwerdeführers am 11. und 24. Juni 1996 - mit Bescheid vom 3. Juli 1996 gemäß § 3 des Asylgesetzes 1991 ab. Es legte seiner Entscheidung die Angaben des Beschwerdeführers zu Grunde, verneinte aber die Asylrelevanz der geltend gemachten Fluchtgründe.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde - nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung am 21. Mai 2001 - die vom Beschwerdeführer gegen die Entscheidung des Bundesasylamtes erhobene Berufung gemäß § 7 AsylG ab. Sie ging davon aus, dass das individuelle Vorbringen des Beschwerdeführers über die Ereignisse vor seiner Ausreise unglaubwürdig sei und ihm wegen seiner Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohe.
Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
1. Vorweg ist festzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat (vgl. in diesem Zusammenhang etwa die hg. Erkenntnisse vom 12. Mai 1999, Zl. 98/01/0455, und vom 20. Oktober 1999, Zl. 99/01/0117).
2. Der Beschwerdeführer hat sowohl bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 11. Juni 1996 - damals ausgehend vom angegebenen Geburtsjahr16 oder 17 Jahre alt - als auch in der Verhandlung vor der belangten Behörde am 21. Mai 2001 angegeben, vor der Ausreise aus Afghanistan im Frühjahr 1996 mehrere Monate lang Gefangener der Taliban (laut erstinstanzlicher Niederschrift: der "Kämpfer des Talabani") gewesen zu sein, bevor er bei einem Gefangenenaustausch den Hezb-e Wahdat übergeben und in deren Hauptquartier in Ghazna gebracht worden sei. Daran anknüpfend hat der Vertreter des Beschwerdeführers in der mündlichen Berufungsverhandlung als zu diesem Zeitpunkt aktuelle Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers geltend gemacht, dem Beschwerdeführer würde von den Taliban unterstellt werden, er hätte nach dem Gefangenenaustausch für die Hezb-e Wahdat gekämpft, woraus sich für ihn in Verbindung mit seiner Zugehörigkeit zu den (schiitischen) Hazara die Gefahr der Verfolgung durch die Taliban ergebe.
Mit der Möglichkeit einer u.a. auf der Unterstellung, für die gegnerische Gruppe gekämpft zu haben, beruhenden Verfolgungsgefahr hat sich die belangte Behörde nicht auseinander gesetzt, weil sie der Darstellung des Beschwerdeführers - unter Einschluss der Behauptung, durch den erwähnten Gefangenenaustausch freigekommen zu sein - keinen Glauben schenkte.
Die Kritik der Beschwerde an der Beweiswürdigung, mit der die belangte Behörde dies begründet, ist schon insofern berechtigt, als die belangte Behörde dem Beschwerdeführer Abweichungen zwischen seinen Angaben von 1996 und denjenigen von 2001 entgegenhält, ohne auf das bei der ersten Aussage noch jugendliche Alter des Beschwerdeführers und die Länge des seither verstrichenen Zeitraumes erkennbar Bedacht zu nehmen.
Die belangte Behörde hat es aber - wie die Beschwerde zutreffend aufzeigt - auch vermieden, auf die näher begründete Kritik des Beschwerdeführers an den Übersetzungsleistungen und der fachlichen Qualifikation des vom Bundesasylamt beigezogenen Dolmetschers einzugehen. Dies wiegt umso schwerer, als die Niederschrift vom 11. Juni 1996 offenkundige Mängel aufweist, wenn in ihr etwa von (vermeintlichen) Angaben des Beschwerdeführers über ein "Gebiet von Talabani", der "auch ein Islamist" sei, und von den "Kämpfern des Talabani" die Rede ist, was im Übrigen nicht zu einer Rückfrage seitens des einvernehmenden Beamten und im erstinstanzlichen Bescheid nur zum Verzicht auf eine nähere Bezeichnung dieser "anderen islamistischen Gruppierung" führte. Im angefochtenen Bescheid ist unter stillschweigender Korrektur der sinnstörenden Übersetzungsfehler von einem erstinstanzlichen Vorbringen über "Taliban" die Rede. Wenn dem Beschwerdeführer vor diesem Hintergrund vorgehalten wird, er habe - bezogen auf die Zeit vor seiner Gefangennahme durch diese Gruppierung - beim Bundesasylamt von Rekrutierungen durch "ehemalige kommunistische Regierungstruppen" und in der Folge durch die "islamistische Gruppe Djumbuschi-Schumal" (auch im angefochtenen Bescheid in dieser Schreibweise des Bundesasylamtes wiedergegeben), in der Berufungsverhandlung hingegen von einer Rekrutierung durch im angefochtenen Bescheid nicht näher bezeichnetes "Militär" gesprochen, so kann dem zunächst insofern nicht gefolgt werden, als der Beschwerdeführer in der Berufungsverhandlung ausdrücklich seine Verschleppung durch Truppen von General Dostum (und nicht nur durch anonymes "Militär") behauptet hat. Er hat darüber hinaus angegeben, dass diese Gruppe "Djumbuschi-Schumal" heiße und er sie auch mit den in der erstinstanzlichen Niederschrift aufscheinenden "ehemaligen kommunistischen Regierungstruppen" gemeint habe. Ohne Auseinandersetzung mit der Frage, welche anderen Truppen, wenn nicht die des ehemals kommunistischen Generals Dostum und seiner "Junbish"-Bewegung, mit den beim Bundesasylamt festgehaltenen, offenkundig fehlerhaften Bezeichnungen gemeint sein konnten, lässt sich dies nicht im Sinne "eklatanter Widersprüche" zum Nachteil des Beschwerdeführers würdigen.
Mit Recht kritisiert die Beschwerde aber auch, dass dem Beschwerdeführer - offenbar als Beispiel für die am Schluss der Beweiswürdigung ins Treffen geführten "ausweichenden Antworten" - vorgehalten wird, er habe sich darauf berufen, dass ihm die erstinstanzliche Niederschrift nicht rückübersetzt worden sei. Hiezu verweist die Beschwerde auf den aktenkundigen Umstand, dass nach dem Inhalt der Niederschrift selbst deren Rückübersetzung unterblieb und der Beschwerdeführer die von der belangten Behörde - ohne ausdrückliches Eingehen auf diesen Umstand - stattdessen hervorgehobene Stelle in der Niederschrift, wonach ihm "der Inhalt der Niederschrift vom Dolmetsch zur Kenntnis gebracht" worden sei, in der Berufungsverhandlung dahingehend erläuterte, dass ihm gesagt worden sei, sie enthalte seine Angaben und er solle sie unterschreiben, worauf im angefochtenen Bescheid wiederum nicht eingegangen wird.
Die belangte Behörde hat auch darauf verzichtet, sich zur Beurteilung des im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung für die Verfolgungsprognose vorrangigen Vorbringens des Beschwerdeführers über seine Gefangenschaft bei den Taliban und den Gefangenenaustausch des zur Verhandlung beigezogenen Sachverständigen zu bedienen. Beim Versuch des Beschwerdevertreters, den Sachverständigen zur Bedeutung der entsprechenden Vorbringensteile für die Verfolgungsprognose zu befragen, gab der Sachverständige zu Protokoll, es habe zu diesem Thema noch keine genaue Erörterung stattgefunden und es wäre "wichtig, zu wissen, ob zur damaligen Zeit es überhaupt zu einem Gefangenenaustausch zwischen Taliban und den Mitgliedern der Hezbe Wahdat gekommen ist". Mit der Klärung dieser Frage wurde der Sachverständige, der dem Beschwerdeführer zuvor - wie die Beschwerde gleichfalls mit Recht hervorhebt - zum Teil sehr gute Kenntnisse der Ereignisse attestiert und im Besonderen die Rekrutierung Jugendlicher während des fraglichen Zeitraums bestätigt hatte - aber nicht mehr beauftragt.
3. Eine erschöpfende Auseinandersetzung mit den Gründen, aus denen die belangte Behörde dem individuellen Vorbringen des Beschwerdeführers keinen Glauben schenkte, erübrigt sich aber vor dem Hintergrund seiner unstrittigen Zugehörigkeit zur Minderheit der schiitischen Hazara. Der Beschwerdeführer hat seine Verfolgungsgefährdung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan ausdrücklich auf diesen Umstand gestützt und hiezu auf die Feststellungen in einem Bescheid der belangten Behörde vom 16. Jänner 2001 verwiesen, mit dem einem Angehörigen dieser afghanischen Minderheit Asyl gewährt wurde. Dieses Vorbringen war mit Rücksicht auf das Massaker von Mazar-e Sharif im August 1998, von dem der aus dieser Stadt stammende Beschwerdeführer nur wegen seiner vorherigen Ausreise aus Afghanistan nicht mehr betroffen sein konnte, auch unabhängig von den Behauptungen über eine vorangegangene Gefangenschaft bei den Taliban und den Gefangenenaustausch von erheblichem Gewicht.
Der angefochtene Bescheid enthält dazu folgende Ausführungen:
"Der Berufungswerber ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazaras an. Die Hazaras in Afghanistan sind wegen ihrer 'mongolischen' Herkunft und religiösen Glaubensrichtung (Schiia) unterschiedlichen Diskriminierungen und Repressionen ausgesetzt, jedoch ist derzeit eine allgemeine Verfolgung der Hazaras nicht bekannt. Eine Wiederholung der Massenverfolgung und Massenvernichtung in Mazar-e Sharif (August 1998) ist den Berichten nicht zu entnehmen.
Die Feststellungen zur Person des Berufungswerbers und der allgemeinen Situation der Hazaras in Afghanistan ergeben sich aus dem von Dr. Rasuly in der mündlichen Berufungsverhandlung erstellten Gutachten vom 21.05.2001, sowie seinem zur Situation der Hazaras in Afghanistan unter dem Taliban-Regime erstellten Gutachten vom 25.10.1999 sowie dessen aktualisierte Fassung vom 08. März 2001.
...
Aus dem festgestellten Sachverhalt folgt, dass in Afghanistan Hazaras nicht alleine auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne der GFK ausgesetzt wären. Zwar kann nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes eine Verfolgungsgefahr auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der betreffende Asylwerber mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, auch er könne unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 98/01/0622), doch liegen diese Voraussetzungen im gegenständlichen Fall nicht vor. Hazaras waren zwar 1998 in Mazare Scharif der Massenverfolgung und Massenvernichtung ausgesetzt, allerdings kann gegenwärtig eine allgemeine Verfolgung der Hazaras iSd zitierten Judikatur nicht (mehr) festgestellt werden. Die Wahrscheinlichkeit asylrelevanter Übergriffe im Zusammenhang mit der Volksgruppenzugehörigkeit hängt nach den schlüssigen Ausführungen des Sachverständigengutachtens vom 25.10.1999 vielmehr von verschiedenen, im Einzelfall zu beurteilenden zusätzlichen Faktoren ab, wie beispielsweise einem (unterstellten) Naheverhältnis zum Hazara-Widerstand oder zur kommunistischen Partei, also einer (unterstellten) oppositionellen politischen Gesinnung. Maßnahmen der Taliban gegen Hazaras sind somit individueller Natur, und nicht solche, die gegen die gesamte Gruppe der Hazaras gerichtet sind. Es liegt nach den Feststellungen gegenwärtig auch keine Massenverfolgung der Hazaras vor. Da somit nicht jeder Hazara in Afghanistan unabhängig von individuellen Momenten mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist, ist eine aus zielgerichteten Maßnahmen gegen Hazaras abgeleitete Verfolgungsgefahr zu verneinen."
Nach den Feststellungen in dem vom Beschwerdeführer in der Berufungsverhandlung vorgelegten Bescheid, die sich auf das auch von der belangten Behörde zu Grunde gelegte Gutachten vom 25. Oktober 1999 stützen, fand in der Heimatstadt des Beschwerdeführers nach deren Einnahme durch die Taliban im August 1998 eine systematische, von Haus zu Haus sowie an Checkpoints und in Krankenhäusern durchgeführte und mit öffentlichen Aufrufen zur Denunziation und Verfolgung von Hazara verbundene Suche nach männlichen Hazara statt, bei der hunderte Männer und männliche Jugendliche exekutiert wurden (vgl. im Einzelnen, unter Angabe wesentlich höherer Opferzahlen, den Interimsbericht des UN-Sonderberichterstatters Choong-Hyun Paik vom 26. Oktober 1998, A/53/539). Diese von der belangten Behörde selbst als "Massenverfolgung und Massenvernichtung" bezeichneten Vorgänge lassen sich nicht als "Maßnahmen individueller Natur" qualifizieren, weshalb die entsprechenden Ausführungen in den zitierten Begründungsteilen sich nur darauf beziehen können, dass gleichartige Vorgänge nach Ansicht der belangten Behörde "derzeit" bzw. "gegenwärtig" - d.h. bis zur Zeit der Bescheiderlassung - nicht mehr beobachtbar (gewesen) seien.
Die von der belangten Behörde vor dem Hintergrund der bereits erfolgten "Massenverfolgung und Massenvernichtung" anzustellende Verfolgungsprognose hätte aber eine Auseinandersetzung mit denjenigen Teilen der auf das schon erwähnte Gutachten gestützten Feststellungen in dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Vorbescheid erfordert, in denen es etwa heißt, die Hazara seien Verfolgungen und Repressionen "immer wieder" ausgesetzt, sie könnten "in Krisenzeiten ... nicht sicher sein", Hazara-Zivilisten würden "in Krisenzeiten (während eines Bürgerkrieges) wegen der Beteiligung ihrer politischen Führung am Bürgerkrieg, im Gegensatz zu anderen Ethnien, härter bestraft" und der Umstand, dass diese "Bestrafung" ein "kollektives Ausmaß annehmen" könne, werde durch das "Beispiel" Mazar-e Sharif deutlich gemacht. Schon angesichts dieser - im angefochtenen Bescheid zur Gänze unerwähnt gelassenen -
Feststellungen findet die Annahme der belangten Behörde, eine Wiederholung gruppenbezogener Verfolgungshandlungen von asylrelevanter Intensität sei nicht ausreichend wahrscheinlich, in den zuvor zitierten, dies im Wesentlichen nur pauschal behauptenden Ausführungen keine ausreichende Grundlage.
Hinzu kommt, dass dem im März 2001 erstatteten Zusatzbericht des UN-Sonderberichterstatters Kamal Hossain zu dessen fünftem Bericht (E/CN.4/2001/43/Add.1) zu entnehmen war, dass die summarischen Exekutionen und Massaker ein Verhaltensmuster der Taliban erkennen ließen ("a recurrent pattern is manifest"), wobei aus der Zeit nach dem Massaker von Mazar-e Sharif im August 1998 vergleichbare Vorfälle im Mai, August und September 1999, im Jänner, Mai und September 2000, zweimal im Jänner 2001 und zuletzt im Februar 2001 aufgezählt und die Erschießungen von Hazara in Yakawlang im Jänner 2001 näher dargestellt wurden. Zumindest zwei dieser Vorfälle (die Massaker an Hazara am Robatak-Pass im Mai 2000 und in Yakawlang im Jänner 2001) müssen der belangten Behörde schon deshalb bekannt gewesen sein, weil sie in dem von ihr zitierten - mit den Verwaltungsakten aber nicht vorgelegten - Gutachten vom 8. März 2001 behandelt waren (vgl. zu diesem Gutachten die Erkenntnisse vom heutigen Tag, Zl. 2001/20/0659 und Zl. 2002/20/0090). Das völlige Fehlen einer Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen belastet den angefochtenen Bescheid mit einem weiteren Begründungsmangel.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 26. November 2003
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