VwGH 99/20/0424

VwGH99/20/042419.4.2001

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Hinterwirth als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hohenecker, über die Beschwerde des am 5. Jänner 1980 geborenen JM in Graz, vertreten durch Mag. Michael-Thomas Reichenvater, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Herrengasse 13/II, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 6. Juli 1999, Zl. 209.902/0-XII/37/99, betreffend die §§ 6 Z 3 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §23;
AsylG 1997 §38;
AsylG 1997 §6 Z3;
AVG §67d;
EGVG Art2 Abs2 D Z43a idF 1998/I/028;
AsylG 1997 §23;
AsylG 1997 §38;
AsylG 1997 §6 Z3;
AVG §67d;
EGVG Art2 Abs2 D Z43a idF 1998/I/028;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, nach seinen Angaben ein Staatsangehöriger von Sierra Leone, reiste am 27. März 1999 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 30. März 1999 die Gewährung von Asyl. Anlässlich seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt gab er als Fluchtgründe an, er stamme aus Kent und sei dort bei einem Überfall der Rebellen am 18. März 1999 in den Busch verschleppt worden. Die Soldaten hätten die Tür seines Hauses eingetreten, ihn gefangen und gesagt, er und das ganze Dorf unterstütze Kabbah. Sie hätten ein Bild, das seinen Vater in Uniform zeige, von der Wand genommen und der Führer der Soldaten habe gesagt, dies sei ein Mann von Kabbah. Sodann habe der Anführer das Bild zerstört und gesagt, er werde auch den Beschwerdeführer umbringen, so wie er das Bild zerstört habe. Der Beschwerdeführer sei daraufhin mit einem LKW weggebracht worden. Dieser LKW sei auf der Fahrt von anderen Soldaten angegriffen worden, ein Soldat habe den Beschwerdeführer am Arm genommen und sie seien in den Busch gelaufen. Der Mann, der ihn vom LKW gebracht habe, sei am Kopf getroffen worden und der Beschwerdeführer sei davon gelaufen. Er habe Angst gehabt, wieder nach Hause zu gehen und habe eine Nacht im Busch geschlafen, dann sei er nach Hause gegangen. Von dort aus habe er mit Hilfe eines Priesters die Flucht angetreten.

In weiterer Folge wurde der Beschwerdeführer zu geografischen Details seines Heimatlandes befragt, insbesondere dazu, wie weit sein Heimatort Kent vom Atlantik entfernt liege. Der Beschwerdeführer gab an, noch nie am Meer gewesen zu sein, sein Heimatdorf liege an einem kleinen Fluss. Von dort brauche man ca. drei Stunden mit dem Kanu zum atlantischen Ozean.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 28. April 1999 unter Spruchpunkt I den Asylantrag gemäß § 6 Z 3 des Asylgesetzes 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 (AsylG), als offensichtlich unbegründet ab und stellte unter Spruchpunkt II die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat fest. Das Bundesasylamt gelangte zur Überzeugung, die Fluchtgründe des Beschwerdeführers seien unglaubwürdig, weil Kent ein Küstenort sei und der Beschwerdeführer daher unrichtige Angaben zur Lage seines Heimatortes erstattet habe, was grundsätzlich die Unglaubwürdigkeit des gesamten Vorbringens indiziere. Es sei daher kein Asyl zu gewähren gewesen; darüber hinaus sei davon auszugehen, dass es sich bei Sierra Leone nicht um den Heimatstaat des Beschwerdeführers handle. Verfolgung in einem anderen Staat sei vom Beschwerdeführer nicht behauptet worden, weshalb daher der Schluss gezogen werden müsse, dass dem Beschwerdeführer in seinem tatsächlichen Herkunftsstaat keine Gefahr im Sinn des § 57 FrG drohe.

Der Beschwerdeführer erhob Berufung, in der er sich vornehmlich gegen die Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz wandte. Er brachte vor, sein Heimatdorf liege nicht direkt am atlantischen Ozean, sondern in einer Bucht. Nach dem Weg zum atlantischen Ozean befragt, gebe er an, dass dieser weit weg und er nie dort gewesen sei, weil auch die Regierung nicht erlaube, sich vor der Küste im atlantischen Ozean aufzuhalten. Um diesen überhaupt zu erreichen, müsste er mehr als drei Stunden zu den Banana Islands mit dem Schiff fahren. Auch für am Meer lebende Personen könne es trotzdem einen längeren See- oder Landweg zum Ozean geben.

Die belangte Behörde hielt dem Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 27. Mai 1999 die aktuelle politische Entwicklung in Sierra Leone vor. Dazu erstattete der Beschwerdeführer eine Stellungnahme vom 7. Juni 1999, in der er erhebliche Zweifel an der scheinbar positiven politischen Entwicklung in seinem Heimatland hegte, die sich auch nicht unmittelbar auf seine persönliche Situation auswirke. Er wiederholte, sein Heimatdorf sei unter der Kontrolle der Rebellen, die ihm gedroht hätten, wenn sie ihn finden würden, werde es ihm genauso wie seinem Vater ergehen. Diesem sei vorgeworfen worden, als Soldat der "Federal Troups" ein Verräter gewesen zu sein. Der Beschwerdeführer habe sich vor den Rebellen die meiste Zeit in der Kirche versteckt; die Frauen, die sich im Freien befunden hätten, hätten ihn auch die Nachricht der Rebellen wissen lassen. Der Beschwerdeführer wies in weiterer Folge auf aktuelle Aktionen der Rebellen (Brandschatzung verschiedener Dörfer am 2. Juni 1999) hin und vertrat die Ansicht, die ECOMOG-Truppen seien nicht stark genug, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 6 Z 3 AsylG abgewiesen und gemäß § 8 leg. cit. in Verbindung mit § 57 des Fremdengesetzes, BGBl. I Nr. 75/1997 (FrG), festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone zulässig sei. Auch die belangte Behörde ging davon aus, dass nicht festgestellt werden könne, dass der Beschwerdeführer Staatsangehöriger von Sierra Leone oder staatenlos sei oder seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Sierra Leone gehabt habe. Die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Heimatdorf seien offensichtlich falsch und die damit verbundenen Fluchtgründe entsprächen offensichtlich nicht den Tatsachen. Auch der Versuch einer Abschwächung des falschen Vorbringens des Beschwerdeführers in der Ersteinvernahme durch die Erklärung in der Berufung vermöge nichts an der Tatsache zu ändern, dass Kent direkt am Meer liege und somit eine Küstenstadt sei. Die belangte Behörde sei der Ansicht, dass daher offenbar eine Täuschung der Asylbehörde bzw. ein Missbrauch des Asylverfahrens vorliege. Die Voraussetzungen des § 6 Z 3 AsylG seien daher gegeben.

Zur Feststellung der Zulässigkeit einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung stellte die belangte Behörde fest, maßgeblich sei bei ungeklärter Staatsangehörigkeit die Behauptung des Beschwerdeführers zum Herkunfts- und Verfolgerstaat. Eine individuell-konkrete, vom Staat geduldete Bedrohung sei jedenfalls nicht gegeben, weil der Beschwerdeführer nicht einmal seine Herkunft aus Sierra Leone habe glaubhaft machen können. Darüber hinaus ergebe sich aus den Feststellungen zur allgemeinen Situation in Sierra Leone nicht, dass jeder dorthin abgeschobene Fremde einer Gefahr im Sinne des § 57 Abs. 1 oder 2 FrG ausgesetzt wäre. Die Berufung sei daher auch hinsichtlich der Entscheidung über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung abzuweisen gewesen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Der unabhängige Bundesasylsenat ist gemäß Art. 129 und 129c B-VG in der Fassung BGBl. I Nr. 87/1997 ein unabhängiger Verwaltungssenat. Er hat gemäß § 23 AsylG das AVG anzuwenden. Deshalb finden für das Verfahren vor dem unabhängigen Bundesasylsenat auch die Bestimmungen des AVG für das Verfahren vor den unabhängigen Verwaltungssenaten, insbesondere die Bestimmung des § 67d AVG Anwendung, sofern im AsylG oder in einem anderen Gesetz keine spezielle Bestimmung normiert ist. Im AsylG findet sich zu § 67d AVG keine spezielle Regelung. Gemäß Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG hat der unabhängige Bundesasylsenat § 67d AVG jedoch mit der Maßgabe anzuwenden, dass eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärt erscheint. Im Sinne dieser Bestimmung ist der Sachverhalt im Verfahren vor dem unabhängigen Bundesasylsenat etwa dann nicht als aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärt anzusehen, wenn in der Berufung ein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der Behörde erster Instanz entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt - erstmalig und mangels Bestehens eines Neuerungsverbotes zulässigerweise - neu und in konkreter Weise behauptet wird.

Im vorliegenden Fall ergibt sich die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem Beschwerdeführer bereits daraus, dass dieser die Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz bekämpft und ausdrücklich auf seine persönliche Glaubwürdigkeit hingewiesen hat. Auch durch den Umstand, dass die Berufungsbehörde von sich aus neue Ermittlungen angestellt und die daraus gewonnenen neuen Sachverhaltsfeststellungen (über die politische Entwicklung in Sierra Leone) ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt hat, ergibt sich die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung. Diesem Erfordernis kann nicht dadurch entsprochen werden, dass dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme zu Ermittlungsergebnissen eingeräumt wird.

Allerdings führt nicht jede Verfahrensverletzung zur Aufhebung eines damit belasteten Bescheides, sondern nur dann, wenn die belangte Behörde bei deren Vermeidung zu einem anderen Bescheid hätte kommen können.

Dies ist im vorliegenden Fall aber nicht gänzlich auszuschließen. Im Falle der Durchführung einer mündlichen Verhandlung könnte der Beschwerdeführer - wie bereits in der Berufung versucht - Widersprüche hinsichtlich der Lage seines angeblichen Heimatortes aufklären; es wäre diesfalls nicht auszuschließen, dass dem Beschwerdeführer persönliche Glaubwürdigkeit attestiert würde. Unterstellt man dem Vorbringen des Beschwerdeführers aber Glaubwürdigkeit, dann wäre nicht mehr davon auszugehen, dass die Behauptungen zu seiner Bedrohungssituation "offensichtlich nicht den Tatsachen entsprechen." Eine Heranziehung des § 6 Z 3 AsylG als Grundlage für die Abweisung des Asylantrages käme dann schon aus diesem Grund nicht mehr in Betracht (vgl. in diesem Zusammenhang aber auch das hg. Erkenntnis vom 8. Juni 2000, Zl. 99/20/0398).

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Der Ausspruch über den Kostenersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 19. April 2001

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