VwGH 99/13/0265

VwGH99/13/026530.5.2001

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Weiss und die Hofräte Dr. Hargassner und Dr. Fuchs als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. iur. Mag. (FH) Schärf, über die Beschwerde des Dipl.-Ing. UA in W, vertreten durch Auditor Treuhand GmbH, Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft in Wien I, Teinfaltstraße 8, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 21. Oktober 1999, Zl. UVS-07/V/38/00021/99, betreffend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gegen ein Straferkenntnis wegen Übertretung des Kommunalsteuergesetzes (weitere Partei des Verfahrens: Abgabenberufungskommission Wien), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §63 Abs5;
AVG §71 Abs1 Z1;
AVG §71 Abs2;
VStG §24;
VwGG §42 Abs2 Z3;
AVG §63 Abs5;
AVG §71 Abs1 Z1;
AVG §71 Abs2;
VStG §24;
VwGG §42 Abs2 Z3;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Am 8. Juni 1998 wurden dem Beschwerdeführer in einem Sammelbescheid des Magistrates der Stadt Wien vom 24. April 1998 erlassene Straferkenntnisse wegen Übertretung des Kommunalsteuergesetzes 1993 zugestellt.

Gegen diese Straferkenntnisse wurden vom Beschwerdeführer, vertreten durch die nunmehrige Beschwerdevertreterin am 23. Juni 1998 Berufung erhoben, in welcher von einem "Eingang" des Sammelbescheides am 9. Juni 1998 gesprochen wurde.

Mit einem dem Beschwerdeführer am 15. Juli 1998 zugestellten Vorhalt wurde ihm zur Kenntnis gebracht, dass die Berufung offensichtlich verspätet eingebracht worden sei, weil der bekämpfte Bescheid schon am 8. Juni 1998 zugestellt worden sei.

Mit einem bei der belangten Behörde am 22. Juli 1998 eingelangten Schriftsatz des durch die Beschwerdevertreterin vertretenen Beschwerdeführers vom 17. Juli 1998 wurde der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der - zweiwöchigen - Berufungsfrist mit dem Vorbringen gestellt, die Straferkenntnisse seien am 9. Juni 1998 an die Beschwerdevertreterin weitergeleitet worden und bei dieser am 12. Juni 1998 eingelangt. Bei der Beschwerdevertreterin existiere ein zentrales Fristerfassungssystem, mit welchem jede Frist sofort bei Einlangen des betroffenen Bescheides in eine Liste eingetragen werde. Zusätzlich werde im jeweiligen Sekretariat, welches für die Ausfertigung eines Rechtsmittel zuständig sei, noch eine Fristenevidenz geführt. Darüber hinaus werde die korrekte Fristeintragung und die korrekte Fristberechnung nochmals vom zuständigen Sachbearbeiter kontrolliert. Im vorliegenden Fall sei als Beginn der Frist der 9. Juni 1998 eingetragen worden, was jenes Datum sei, an welchem die Straferkenntnisse vom Beschwerdeführer an die Beschwerdevertreterin abgesandt worden seien. Dass der bekämpfte Sammelbescheid beim Beschwerdeführer tatsächlich schon am Vortag eingelangt gewesen sei, sei der Beschwerdevertreterin offensichtlich nicht bewusst und auf Grund der übersandten Unterlagen auch nicht ersichtlich gewesen. Sämtliche Mitarbeiter der Beschwerdevertreterin seien beauftragt, in jenen Fällen, wo der genaue Fristbeginn nicht klar ersichtlich sei, beim Auftraggeber nochmals nachzufragen, mit welchem Stichtag ein Schriftstück bei ihm tatsächlich eingegangen sei. Die betroffene Mitarbeiterin der Beschwerdevertreterin verfüge über eine fast sechsjährige Berufserfahrung bei dieser, sei schon zuvor fast zwei Jahre in einer anderen Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft beschäftigt gewesen, habe sich als überaus gewissenhaft und sorgfältig erwiesen und es sei ihr eine unzutreffende Fristeintragung bislang noch nie unterlaufen.

Mit Bescheid vom 12. Jänner 1999 wies der Magistrat der Stadt Wien den Wiedereinsetzungsantrag des Beschwerdeführers mit der Begründung ab, die richtige Bemessung einer Rechtsmittelfrist könne nicht einer Kanzleiangestellten allein übertragen werden. Bei Abfassung des Rechtsmittels müsse einem pflichtgemäß vorgehenden Parteienvertreter die Versäumung der Rechtsmittelfrist auffallen.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung wurde vorgebracht, dass zum Zeitpunkt der Abfassung des Rechtsmittels am 23. Juni 1998 zufolge des Irrtums der Kanzleikraft die Frist bereits abgelaufen gewesen sei. Auch ein Bemerken der Versäumung der Rechtsmittelfrist zu diesem Zeitpunkt hätte eine Einhaltung der Frist nicht mehr ermöglicht.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung des Beschwerdeführers keine Folge und bestätigte den angefochtenen Bescheid "mit der Maßgabe", dass der Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 71 Abs. 2 AVG als verspätet zurückgewiesen wurde. In der Begründung des angefochtenen Bescheides wird ausgeführt, als Hindernis im Sinne des § 71 Abs. 2 AVG sei jenes Ereignis im Sinne des § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG zu verstehen, das die Fristeinhaltung verhindert habe. Bestehe dieses Ereignis in einem Tatsachenirrtum über den Ablauf der Frist zur Erhebung der Berufung, so höre das Hindernis im Sinne des § 71 Abs. 2 AVG auf, sobald der Berufungswerber oder sein Vertreter den Tatsachenirrtum als solchen habe erkennen können und müssen, nicht aber erst in dem Zeitpunkt, zu welchem ein Bescheid über die Zurückweisung der Berufung wegen Verspätung zugestellt werde. Im Hinblick auf die Bedeutung der richtigen Vormerkung von Terminen für die fristgerechte Setzung fristgebundener Prozesshandlungen sei von der Partei und ihrem Vertreter zu erwarten, dass anlässlich der Unterfertigung der Berufung das Augenmerk auch darauf gerichtet werde, welcher Zeitraum bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist noch zur Verfügung stehe. Habe der Verfasser der Rechtsmittelschrift im Zeitpunkt der Unterfertigung der Berufung bei Einhaltung der gebotenen Aufmerksamkeit erkennen können, dass die Berufungsfrist bereits abgelaufen sei, so habe jedenfalls damit das Hindernis im Sinne des § 71 Abs. 2 AVG aufgehört (Hinweis auf verwaltungsgerichtliche Judikatur). Aus der Berufung gegen die Abweisung des Wiedereinsetzungsantrages ergebe sich, dass der Sachbearbeiter der Beschwerdevertreterin am 23. Juni 1998 die korrekte Errechnung der Frist für die Einbringung der Berufung überprüft habe, hierbei jedoch vom angenommenen Fristbeginn 9. Juni 1998 ausgegangen sei und dabei eine um einen Tag zu lange Berufungsfrist angenommen habe; die Sekretärin habe das Datum, an welchem die Straferkenntnisse vom Beschwerdeführer an seine Vertreterin gesandt worden seien, als Beginn der Frist eingetragen. Es wäre der Sachbearbeiter jedoch verpflichtet gewesen, vor Absendung der Berufung nicht nur nochmals zu überprüfen, ob die Frist eingehalten werde, sondern auch, ob der Tag, an dem die Berufungsfrist zu laufen begann, von der Sekretärin in den Fristenvormerkkalender richtig eingetragen worden sei. Dies hätte dadurch erfolgen können, dass der Sachbearbeiter das Kuvert, mit welchem vom Beschwerdeführer das Straferkenntnis übersandt worden sei, kontrolliert hätte. Hierbei hätte der Sachbearbeiter der Beschwerdevertreterin "auf Grund allgemeiner Lebenserfahrung" erkennen müssen, dass der Tag des Absendens des Straferkenntnisses durch den Beschwerdeführer an seine Vertreterin nicht gleichzeitig der Tag der Zustellung an den Beschwerdeführer sein könne, welche "Auffälligkeit" der Sachbearbeiter durch Anfrage an die Behörde hätte "richtig stellen" können. Damit hätte der Vertreterin des Beschwerdeführers bereits am Tag der Abfassung und Absendung der Berufung die Versäumung der Frist auffallen müssen, sodass auch mit diesem Tag die Frist für die Einbringung des Wiedereinsetzungsantrages zu laufen begonnen habe. Dies sei der 23. Juni 1998 gewesen, sodass die Wiedereinsetzungsfrist am 7. Juli 1998 geendet habe. Der mit dem 17. Juli 1998 datierte Wiedereinsetzungsantrag sei erst in Reaktion auf den Vorhalt der Verspätung durch die belangte Behörde vom 8. Juli 1998, welcher am 15. Juli 1998 zugestellt worden sei, erfolgt. Der damit frühestens am 15. Juli 1998 eingebrachte Wiedereinsetzungsantrag (das betroffene Kuvert sei bei der belangten Behörde in Verstoß geraten) erweise sich angesichts des Ablaufes der Wiedereinsetzungsfrist am 7. Juli 1998 deshalb als verspätet.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Nach der im Beschwerdefall gemäß § 15 Abs. 3 KommStG 1993 in Verbindung mit § 24 VStG anzuwendenden Bestimmung des § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG ist gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Verschuldens trifft.

Nach § 71 Abs. 2 AVG muss der Antrag auf Wiedereinsetzung binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses gestellt werden.

Das zur Fristversäumung führende Hindernis im Sinne des § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG bestand im Beschwerdefall in einem Tatsachenirrtum des für die Beschwerdevertreterin tätigen Verfassers der Berufung über den Ablauf der Rechtsmittelfrist, welcher Tatsachenirrtum nach dem Beschwerdevorbringen dadurch ausgelöst wurde, dass von der mit der Fristeneintragung befassten Mitarbeiterin der Beschwerdevertreterin der Tag der Übersendung des zu bekämpfenden Sammelbescheides durch den Beschwerdeführer an seine Vertreterin dem Tag der Zustellung dieses Bescheides gleich gesetzt worden war, ohne dass die betroffene Mitarbeiterin sich von der Richtigkeit dieser Annahme durch Rückfrage beim Beschwerdeführer vergewissert hatte.

Die belangte Behörde hat sich für die mit dem angefochtenen Bescheid verfügte Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrages auf die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998), E 321 und E 324 zu § 71 AVG, wiedergegebene Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes gestützt. Nach dieser Rechtsprechung hört das Hindernis, wenn es in einem Tatsachenirrtum über den Ablauf der Rechtsmittelfrist besteht, im Sinne des § 71 Abs. 2 AVG auf, sobald die Partei oder ihr Vertreter den Tatsachenirrtum als solchen erkennen konnte und musste.

Während das Gesetz in der Bestimmung des § 71 Abs. 2 AVG den Beginn des Laufes der Frist zur Stellung eines Wiedereinsetzungsantrages an ein bloßes Faktum, nämlich den "Wegfall des Hindernisses" knüpft, führt die wiedergegebene Rechtsprechung zu dieser Frage ein normatives Element als Kriterium des Beginnes des Fristenlaufes nach § 71 Abs. 2 AVG insofern ein, als im Falle des Bestehens des Hindernisses in einem Tatsachenirrtum des Beschwerdeführers oder seines Vertreters der Wegfall des Hindernisses im Sinne des § 71 Abs. 2 AVG zu dem Zeitpunkt fingiert wird, zu dem die Partei oder ihr Vertreter den Tatsachenirrtum hätte erkennen müssen. Der im Gesetz als Beginn des Laufes der Wiedereinsetzungsfrist normierte tatsächliche Wegfall des Hindernisses wird von der wiedergegebenen Rechtsprechung in solchen Fällen durch die Fiktion ersetzt, das Hindernis wäre bei Erfüllung der (von dieser Judikatur gesetzten) normativen Voraussetzungen weggefallen.

Ob sich diese Rechtsprechung in allen Facetten ihrer hiezu vorzufindenden Aussagen aufrecht erhalten ließe, braucht im Beschwerdefall aber deswegen nicht geprüft zu werden, weil die belangte Behörde, worauf in der Beschwerde mit Recht hingewiesen wird, auch auf dem Boden ihrer Rechtsauffassung den Beginn des Laufes der Wiedereinsetzungsfrist zu dem von ihr gesehenen Zeitpunkt der Abfassung der verspäteten Berufung durch den Sachbearbeiter der Beschwerdevertreterin mit einem diesem anzulastenden Sorgfaltsverstoß begründet, der sachverhaltsbezogen auf eine allgemeine Lebenserfahrung gestützt wird, die tatsächlich aber nicht besteht.

Die belangte Behörde meint nämlich, der Sachbearbeiter der Beschwerdevertreterin hätte erkennen müssen, dass der Tag des Absendens des zu bekämpfenden Straferkenntnisses durch den Beschwerdeführer an seine Vertreterin nicht gleichzeitig der Tag sein könne, an welchem ihm das Straferkenntnis zugestellt worden sei. Weshalb es aber der Lebenserfahrung widersprechen sollte, dass ein Beschuldigter ein ihm zugestelltes Straferkenntnis zum Zwecke der Verfassung der binnen 14 Tagen nach Zustellung einzubringenden Berufung an seinen Rechtsvertreter noch am gleichen Tage übermittelt, an den ihm dieses Straferkenntnis zugestellt worden war, ist unerfindlich. Aus diesem von der belangten Behörde gesehenen Umstand musste eine Verspätung der am 23. Juni 1998 abzusendenden Berufung dem Sachbearbeiter der Beschwerdevertreterin nicht erkennbar geworden sein.

Solcherart hat die belangte Behörde ihren Bescheid zufolge Heranziehung eines durch die Lebenserfahrung nicht gedeckten Erfahrungssatzes mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet (vergleichbar hiezu das hg. Erkenntnis vom 18. Oktober 1994, 94/04/0101). Der angefochtene Bescheid war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 30. Mai 2001

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