VwGH 2000/18/0136

VwGH2000/18/013621.9.2000

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Handstanger, Dr. Bayjones und Dr. Enzenhofer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Paal, über die Beschwerde des SE (geboren am 5. Jänner 1979) in St. Johann in Tirol, vertreten durch Dr. Hansjörg Schweinester, Dr. Paul Delazer und Dr. Rudolf Kathrein, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Adolf-Pichler-Platz 12, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol vom 29. Mai 2000, Zl. III 4033-63/00, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

FrG 1997 §38 Abs1 Z4;
FrG 1997 §38 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
FrG 1997 §38 Abs1 Z4;
FrG 1997 §38 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol (der belangten Behörde) vom 29. Mai 2000 wurde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 36 Abs. 1 Z. 1 und Abs. 2 Z. 1 iVm den §§ 37, 38 und 39 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, ein mit sieben Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

Der Beschwerdeführer sei mit in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 3. März 1999 wegen des Verbrechens nach § 28 Abs. 2 Suchtmittelgesetz - SMG, teilweise in der Begehungsform als Beitragstäter (§ 12 dritter Fall StGB) und wegen des Vergehens nach § 27 Abs. 1 SMG zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt worden, weil er im Mai 1998 Suchtgift in einer großen Menge (§ 28 Abs. 6 SMG), nämlich cirka 1 kg Marihuana durch Verkauf an die abgesondert verfolgten E.S. und R.L. in Verkehr gesetzt habe; im Mai 1998 zur Tat des abgesondert verfolgten L.M., welcher Suchtgift in einer großen Menge (§ 28 Abs. 6 SMG), nämlich ca. 1 kg Marihuana, von Italien (Salerno) ausgeführt und über die Grenze über den Brennerpass nach Österreich (Wörgl) eingeführt habe, beigetragen habe, indem er ihm in Kenntnis des Verwendungszweckes S 10.000,-- zum Ankauf des Suchtgiftes übergeben habe; und weil er zwischen 1995 und August 1998 durch Erwerb und Besitz von nicht mehr feststellbaren Mengen an Cannabisprodukten "bei Unbekannten" sowie durch gemeinsamen Konsum von Cannabisprodukten mit anderen Personen, wobei er zumindest teilweise auch das Suchtgift beigestellt habe, den bestehenden Vorschriften zuwider Suchtgifte erworben, besessen und anderen überlassen habe.

Das Gesamt-Fehlverhalten des Beschwerdeführers zeige deutlich seine negative Einstellung zur Rechtsordnung, wodurch der Eindruck entstehe, dass er nicht gewillt sei, Rechtsvorschriften in erforderlicher Weise zu achten und sein Verhalten den Gesetzen anzupassen. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet stelle daher eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit dar (§ 36 Abs. 1 Z. 1 FrG). Die Verurteilung durch das Landesgericht Innsbruck vom 3. März 1999 erfülle den Tatbestand des ersten Falles des § 36 Abs. 2 Z. 1 FrG.

Ein relevanter Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers im Sinn des § 37 Abs. 1 FrG liege vor, mache jedoch das Aufenthaltsverbot nicht unzulässig, weil seine sich im Gesamt-Fehlverhalten manifestierende Neigung, sich über die Rechtsordnung hinwegzusetzen, die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele (Verhinderung strafbarer Handlungen; Schutz der Rechte anderer, zB auf Gesundheit) dringend geboten mache. Seine privaten und familiären Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet wögen schwer. So sei er in Österreich geboren, habe sich bis zum 30. September 1984 und seit 14. Juni 1989 erlaubt im Bundesgebiet aufgehalten und weise eine dementsprechende gute Integration auf. Eine intensive familiäre Bindung habe er zu seinen - im Bundesgebiet gut integrierten - Eltern und zu seinem Bruder G., mit denen er in einem gemeinsamen Haushalt lebe. Das Gewicht seiner persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet werde durch seine Volljährigkeit und den Umstand, dass sein Bruder ebenfalls mit einem Aufenthaltsverbot belegt werde, sowie dadurch, dass die soziale Komponente seiner Integration durch seine Straftaten, insbesondere seine schweren Suchtgiftstraftaten von Mai 1998, erheblich beeinträchtigt werde, verringert. Im Hinblick auf seine Neigung zu schweren Straftaten wögen jedoch seine persönlichen Interessen höchstens gleich schwer wie die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes, weshalb diese Maßnahme auch im Grund des § 37 Abs. 2 FrG zulässig sei.

Ein Aufenthaltsverbots-Verbotsgrund komme nicht zum Tragen. Die Voraussetzungen des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG seien nicht erfüllt, weil der Beschwerdeführer nicht "von klein auf im Inland aufgewachsen" sei. Er sei Ende September 1984 mit ca. fünfeinhalb Jahren in die Türkei zurückgekehrt, nachdem er bis dahin in Österreich bei seiner Mutter, die damals nicht berufstätig gewesen sei, gelebt habe. Einen Kindergarten in Österreich habe er nicht besucht. In der Türkei habe er fast fünf Jahre lang, bis Sommer 1989, bei seinen Großeltern gelebt und die Volksschule besucht. Mit ca. zehneinhalb Jahren sei er nach Österreich zurückgekehrt. Er beherrsche auch die türkische Sprache. Sein fast fünfjähriger Aufenthalt in der Türkei von 1984 bis 1989 umfasse einen wesentlichen Teil der Pflichtschulzeit und falle somit in eine für das Vertrautwerden mit der Sprache, Kultur und den sonstigen Verhältnissen in der Türkei besonders wichtige Lebensphase.

Auch komme § 38 Abs. 1 Z. 2 FrG iVm § 35 Abs. 3 FrG nicht zum Tragen, weil er die in der letztgenannten Gesetzesbestimmung angeführte zeitliche Voraussetzung (zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet niedergelassen) "vor Verwirklichung des (für das Aufenthaltsverbot) maßgeblichen Sachverhaltes" nicht erfülle. Hiefür sei die erste Tathandlung seines Gesamt-Fehlverhaltens im Jahr 1995, als er sich erst sechs Jahre wieder in Österreich aufgehalten habe, maßgeblich. Die belangte Behörde sei der Ansicht, dass bis zum Wegfall des Grundes für die Erlassung des Aufenthaltsverbotes, nämlich seiner Gefährlichkeit für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit, das Verstreichen von sieben Jahren von Nöten sei. Auch sei im Hinblick auf seine schweren Straftaten von Mai 1998 und im Hinblick darauf, dass die Verurteilung durch das Landesgericht Innsbruck vom 3. März 1999 die im § 35 Abs. 3 Z. 2 FrG genannte unbedingte Freiheitsstrafe von sechs Monaten (weit) übersteige, eine gesonderte Begründung der zu seinem Nachteil getroffenen Ermessensentscheidung nach § 36 Abs. 1 FrG entbehrlich.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

3. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Die Beschwerde macht (u.a.) geltend, dass der Beschwerdeführer im Wesentlichen - mit Ausnahme seiner Volksschulzeit - sein gesamtes Leben in Österreich verbracht habe, zu einem sehr frühen Zeitpunkt hier sozialisiert worden sei und auch in seiner Pubertät, in einer besonders prägenden Phase, hier gelebt habe. Im Hinblick darauf sei das über ihn verhängte Aufenthaltsverbot gemäß § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG unzulässig.

2. Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.

2.1. Gemäß § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG darf ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden, wenn der Fremde von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, wobei Fremde gemäß Abs. 2 dieser Bestimmung jedenfalls langjährig im Bundesgebiet niedergelassen sind, wenn sie die Hälfte ihres Lebens im Bundesgebiet verbracht haben und zuletzt seit mindestens drei Jahren hier niedergelassen sind.

Nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (685 BlgNR 20. GP) soll durch die Regelung des § 38 Abs. 1 Z. 4 iVm Abs. 2 (FrG) dem Umstand Rechnung getragen werden, dass viele Fremde der zweiten Generation entweder bereits in Österreich geboren wurden oder mit ihren Eltern als Kind nach Österreich gekommen sind, und bewirkt werden, dass von klein auf im Inland aufgewachsene Fremde dann nicht mit einem Aufenthaltsverbot belegt werden dürfen, wenn sie mindestens die Hälfte ihres Lebens im Bundesgebiet verbracht haben und vor Begehung der Tat, die die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes rechtfertigen würde, mindestens seit drei Jahren im Bundesgebiet niedergelassen waren. Zum ersten Tatbestandselement des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG ("von klein auf im Inland aufgewachsen") hat der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrmals ausgesprochen, dass hievon nur Fremde umfasst werden, die in Österreich bereits geboren wurden oder vor Vollendung des vierten Lebensjahres eingereist sind (vgl. etwa den Beschluss vom 17. September 1998, Zl. 96/18/0150, und das Erkenntnis vom 2. März 1999, Zl. 98/18/0244, jeweils mit ausführlicher Begründung). Die Frage, ob eine Person, die letztgenannte Voraussetzungen erfüllt, sich jedoch in der Folge einige Jahre hindurch im Ausland aufgehalten hat, von der Regelung des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG umfasst ist, muss nach den jeweils im Einzelfall gegebenen Verhältnissen beurteilt werden. Dass der Gesetzgeber nicht ausschloss, auch Personen, die ihren inländischen Aufenthalt für längere Zeiträume unterbrochen haben, als "von klein auf im Inland aufgewachsen" anzusehen, ergibt sich schon daraus, dass für diesen Aufenthaltsverbots-Verbotsgrund als weiteres Kriterium der langjährige, die letzten drei Jahre und insgesamt - nur - zumindest die Hälfe des Lebens umfassende rechtmäßige Aufenthalt normiert wurde. Dies wäre nämlich entbehrlich, wenn der Begriff "von klein auf im Inland aufgewachsen" einen durchgehenden Aufenthalt seit der Kleinkindzeit verlangte. Im vorzitierten Erkenntnis vom 2. März 1999 vertrat der Verwaltungsgerichtshof daher die Ansicht, dass gegen den in diesem Beschwerdefall 25 Jahre alten Beschwerdeführer gemäß § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG kein Aufenthaltsverbot erlassen werden könnte, wenn er sich von kurz vor Vollendung seines vierten Lebensjahres bis kurz nach Vollendung seines zehnten Lebensjahres in Österreich, danach fünfdreiviertel Jahre in seiner Heimat und erst danach wieder durchgehend in Österreich aufgehalten hätte. Ferner soll nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage durch diese Gesetzesbestimmung (beispielsweise) verhindert werden, dass ein Fremder, der seine Kindheit und Jugend in Österreich verbracht hat, auf Grund einer schweren Straftat in seine durch den Reisepass definierte "Heimat" abgeschoben wird, die er kaum kennt, deren Sprache ihm in der Regel weniger geläufig ist als die deutsche und deren soziales Gefüge ihm fremd ist. Es soll jedoch nicht möglich sein, dass ein Fremder mit zwölf Jahren einreist, bis zu seinem 24. Lebensjahr in Österreich lebt, dann jahrelang in seiner Heimat - die ihm dann wohl auch eine solche ist - zurückkehrt, sich bei seinem Wiederauftauchen in Österreich als Schlepper betätigt und dann vom Aufenthaltsverbot-Verbot geschützt ist.

Nach dem Willen des Gesetzesgebers kommt es also darauf an, ob die "Heimataufenthalte" des Fremden in ihrer Gesamtheit dazu geführt haben, dass dieser mit diesem Land ähnlich wie ein ständig dort Lebender vertraut ist und es somit tatsächlich als seine Heimat angesehen werden kann. Dabei kommt es jedenfalls primär auf die Dauer dieser Aufenthalte (in Relation zum Lebensalter des Fremden) an; nicht unwesentlich ist aber auch, in welchen Lebensabschnitt diese Aufenthalte jeweils fallen.

2.2. Vorliegend hat der in Österreich geborene Beschwerdeführer nach den insoweit unbestrittenen Feststellungen im angefochtenen Bescheid das Bundesgebiet im Alter von rund fünfdreiviertel Jahren verlassen, hat sich etwa vierdreiviertel Jahre lang bei seinen Großeltern in der Türkei aufgehalten, wo er die Volksschule besucht hat, und ist seither - wie schon zuvor - rechtmäßig hier aufhältig. Bezogen auf den Zeitpunkt der Begehung der ersten von der belangten Behörde für die Erlassung des Aufenthaltsverbotes als maßgeblich erachteten Straftat im Jahr 1995 hatte der Beschwerdeführer zusammengerechnet mehr als elf Jahre, somit annähernd drei Viertel seines Lebens, davon etwa die Hälfte der Pflichtschulzeit, in Österreich verbracht. Wenn er auch in der Türkei die Volksschule absolviert hat, so muss in Anbetracht des im Vergleich zu dieser in der Türkei verbrachten Zeit lang dauernden Aufenthalts in Österreich während einer für die Entwicklung eines heranwachsenden Menschens besonders wichtigen Lebensphase doch davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer mit den Gegebenheiten in der Türkei nicht so vertraut ist wie ein dort Lebender. Dass dem Beschwerdeführer bis zu dem Zeitpunkt, als er in die Türkei ausreiste, die deutsche Sprache fremd gewesen sei oder er keine Berührungspunkte mit österreichischen Kindern oder mit sozialen Verhältnissen außerhalb des engen Familienkreises - wie sie für die zum Schutzzweck des § 38 Abs. 1 Z. 4 leg. cit. geforderte Vertrautheit mit dem sozialen Gefüge maßgeblich ist (vgl. in diesem Zusammenhang den vorzitierten Beschluss, Zl. 96/18/0150, mwN) - gehabt habe, kann dem angefochtenen Bescheid nicht entnommen werden. Von daher ist es im Beschwerdefall nicht von ausschlaggebender Bedeutung, dass der Beschwerdeführer in Österreich nicht den Kindergarten besucht hat.

2.3. Auf dem Boden der im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen kann somit vor dem Hintergrund der obigen Erwägungen der Auffassung der belangte Behörde, der Beschwerdeführer sei nicht als von klein auf im Inland aufgewachsen anzusehen und erfülle daher nicht die (erste) Tatbestandsvoraussetzung des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG, nicht beigepflichtet werden. Dass die belangte Behörde die Ansicht vertrete, der Beschwerdeführer sei im Bundesgebiet nicht langjährig rechtmäßig niedergelassen (zweites Tatbestandselement der vorzitierten Gesetzesbestimmung), kann dem angefochtenen Bescheid nicht entnommen werden.

3. Zusammengefasst hat somit die belangte Behörde mit ihrer Beurteilung, dass im vorliegenden Fall der Tatbestand des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG nicht erfüllt sei, die Rechtslage verkannt. Demzufolge war der angefochtene Bescheid, ohne dass noch auf das weitere Beschwerdevorbringen eingegangen zu werden brauchte, gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

4. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 21. September 2000

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