VwGH 96/21/0012

VwGH96/21/001212.4.1999

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Rosenmayr, Dr. Pelant und Dr. Enzenhofer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Ogris, über die Beschwerde der JB (geboren am 19. Februar 1970) in 2000 Stockerau, vertreten durch Dr. Reinhart Kolarz, Rechtsanwalt in 2000 Stockerau, Schießstattgasse 21, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich vom 12. Juli 1995, Zl. Fr 2416/95, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

31968L0360 Aufhebungs-RL Aufenthaltsbeschränkungen Arbeitnehmer Art10;
31968L0360 Aufhebungs-RL Aufenthaltsbeschränkungen Arbeitnehmer Art4;
31968R1612 Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft Art10;
31968R1612 Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft Art11;
61975CJ0048 Royer VORAB;
EURallg;
FrG 1993 §17 Abs1;
FrG 1993 §19;
FrG 1993 §29 Abs2;
FrG 1993 §29 Abs3 Z1;
FrG 1993 §31 Abs2;
EMRK Art14;
EMRK Art8;
31968L0360 Aufhebungs-RL Aufenthaltsbeschränkungen Arbeitnehmer Art10;
31968L0360 Aufhebungs-RL Aufenthaltsbeschränkungen Arbeitnehmer Art4;
31968R1612 Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft Art10;
31968R1612 Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft Art11;
61975CJ0048 Royer VORAB;
EURallg;
FrG 1993 §17 Abs1;
FrG 1993 §19;
FrG 1993 §29 Abs2;
FrG 1993 §29 Abs3 Z1;
FrG 1993 §31 Abs2;
EMRK Art14;
EMRK Art8;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.920,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich (der belangten Behörde) vom 12. Juli 1995 wurde die Beschwerdeführerin, eine tschechische Staatsangehörige, gemäß § 17 Abs. 1 des Fremdengesetzes - FrG, BGBl. Nr. 838/1992, ausgewiesen.

Die Beschwerdeführerin halte sich seit Anfang 1991 im Bundesgebiet auf und habe am 26. November 1991 einen österreichischen Staatsangehörigen geheiratet. Seit 2. Dezember 1991 gehe sie einer Beschäftigung nach. Anläßlich einer niederschriftlichen Einvernahme am 22. Mai 1995 bei der Bezirkshauptmannschaft Korneuburg habe sie angegeben, daß sie seit 2. Dezember 1991 eine Erwerbstätigkeit bei der Firma F-GesmbH in Stockerau ausübe. Sie hätte sich erstmals am 23. Jänner 1991 in S. polizeilich gemeldet. Seit 1. April 1994 sei sie bei ihrem nunmehrigen Ehegatten, einem österreichischen Staatsbürger, in S. aufrecht gemeldet und wohnhaft. Nach den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes sei für die Ausübung einer selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeit eine Bewilligung erforderlich. Die Beschwerdeführerin sei bis dato noch nie im Besitz einer derartigen Bewilligung gewesen. Entgegen ihren Ausführungen in der Berufung gegen den Bescheid der Behörde erster Instanz unterbreche eine Ausreise nach einem 30-tägigen Aufenthalt nicht ihren sichtvermerksfreien Aufenthalt, zumal die Beschwerdeführerin durch die wiederholte Ein- und Ausreise nicht die bestehende Sichtvermerkspflicht umgehen könne. Sie unterliege allein aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit bereits seit Dezember 1991 der Sichtvermerkspflicht. Die Beschwerdeführerin habe während ihres rechtswidrigen Aufenthaltes geheiratet, sie könne sich nicht mit Erfolg auf ihre Rechtsunkenntnis berufen, zumal es an ihr gelegen wäre, sich über die hier bestehenden Rechtsvorschriften zu informieren. Die Rechtsordnung messe der Beachtung der zwischenstaatlichen Regelungen über die Einhaltung paßrechtlicher (nunmehr fremdengesetzlicher) Vorschriften ein solches Gewicht bei, daß selbst bei Einmaligkeit von Verfehlungen gegen diese Normen ein schwerwiegender Verstoß gegen erhebliche öffentliche Interessen des österreichischen Staates vorliege. Die belangte Behörde komme daher zum Ergebnis, daß die Ausweisung zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele (Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung) dringend geboten sei. Durch die Ausweisung werde ihr nicht eine neuerliche rechtmäßige Einreise in das Bundesgebiet verwehrt. Darüber hinaus sei bereits bei einer zweimaligen Bestrafung nach dem Fremdengesetz die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes zulässig.

Gegen diesen Bescheid wendet sich die zunächst an den Verfassungsgerichtshof gerichtete und von diesem mit Beschluß vom 28. November 1995, B 2783/95, dem Verwaltungsgerichtshof abgetretene Beschwerde, in der inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, erstattete eine Gegenschrift und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

In der Beschwerde bleibt die Feststellung der belangten Behörde, daß die Beschwerdeführerin weder über einen Sichtvermerk verfügt habe noch (nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes mit 1. Juli 1993) im Besitz einer Aufenthaltsbewilligung sei, unbestritten. Der belangten Behörde ist darin Recht zu geben, daß die Beschwerdeführerin von ihrer - im Grunde des § 5 FrG bestehenden - Sichtvermerkspflicht nicht entbunden war. Nach Art. 1 Abs. 2 des im vorliegenden Fall in Betracht kommenden Abkommens zwischen der Österreichischen Bundesregierung und der Regierung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik über die Aufhebung der Sichtvermerkspflicht, BGBl. Nr. 47/1990, benötigen nämlich tschechische Staatsbürger für einen 30 Tage übersteigenden oder Erwerbszwecken dienenden Aufenthalt einen Sichtvermerk. Der belangten Behörde ist daher kein Vorwurf zu machen, wenn sie den Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet als unrechtmäßig qualifizierte.

Die Beschwerdeführerin hält den angefochtenen Bescheid deswegen für rechtswidrig, weil sie während ihres gesamten Aufenthalts im Bundesgebiet ordnungsgemäß gemeldet gewesen sei. Sie habe am 29. November 1991 einen bis zum 28. November 1996 gültigen Befreiungsschein erhalten und sei auf dessen Grundlage bei der Firma F. in S. als Filialleiterin beschäftigt und sozialversichert. Sie lebe in aufrechter Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger. Sie habe sich mehrmals polizeilich gemeldet und umgemeldet und in den Jahren 1992 bis 1994 mehrmals Übersetzertätigkeit für die Bezirkshauptmannschaft Korneuburg geleistet. Hiebei sei sie niemals darauf hingewiesen worden, daß zusätzlich zum Befreiungsschein trotz ihrer Verehelichung mit einem österreichischen Staatsbürger eine Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz erforderlich sei. Erst anläßlich einer Vorsprache bei der Bezirkshauptmannschaft Korneuburg am 15. Juni 1994 sei sie auf die Notwendigkeit einer Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz aufmerksam gemacht worden und habe daher am 23. Juni 1994 bei der österreichischen Vertretungsbehörde in Brünn einen Antrag auf Erteilung einer solchen gestellt. Sie verfüge außer ihrem Wohnsitz im Bundesgebiet über keinerlei Wohnmöglichkeit und sei bereits fast vier Jahre in Österreich verheiratet und ansäßig. Sie verfüge über ausgezeichnete Kenntnisse der deutschen Sprache, sodaß von einer umfassenden und weitreichenden Integration in Österreich auszugehen sei. Sie sei kein einziges Mal nach dem Fremdengesetz bestraft worden. Ihre Ausweisung hätte den Verlust ihres langjährigen Arbeitsplatzes sowie die dauernde Trennung von ihrem Ehegatten und dem in Österreich bereits erworbenen Freundeskreis zur Folge; die Ausweisung sei daher nicht gemäß § 19 FrG zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung dringend geboten.

Gemäß § 17 Abs. 1 FrG sind Fremde, die sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, auszuweisen; hiebei ist auf § 19 leg. cit. Bedacht zu nehmen. Nach letzterer Bestimmung ist eine Ausweisung, durch die in das Privat- oder Familienleben des betroffenen Fremden eingegriffen würde, nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Zwar ist es Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, daß ein unrechtmäßiger Aufenthalt eines Fremden in Österreich eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden im Bundesgebiet regelnden Vorschriften darstellt. Gegenüber diesem öffentlichen Interesse haben verschiedentlich private und familiäre Interessen von Fremden mit rechtswidrigem Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 19 FrG zurückzutreten. Auch eine in Österreich geschlossene Ehe vermag im Grund des § 19 FrG nicht gegen die Ausweisung zu sprechen, wenn der Fremde zur Zeit der Eheschließung nicht zum Aufenthalt berechtigt war und er zu diesem Zeitpunkt nicht mit einem längeren rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich rechnen durfte (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 14. November 1996, Zl. 95/18/1021). Bei Anwendung des § 19 FrG ist allerdings das öffentliche Interesse an der Beendigung eines unrechtmäßigen Aufenthaltes nicht stets höher zu bewerten als die privaten und familiären Interessen des betroffenen Fremden. Eine derartige Auslegung würde dem § 19 FrG jeden Anwendungsbereich entziehen, was dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden kann. Ist gemäß § 19 FrG die Erlassung einer Ausweisung nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 EMRK genannten Ziele "dringend geboten ist", so bedeutet dies, daß die Ausweisung zur Erreichung zumindest eines dieser Ziele ein "zwingendes soziales Bedürfnis" im Sinn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte darstellen muß (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 8. Oktober 1997, Zl. 95/21/0943 mwN).

Im vorliegenden Fall durfte die belangte Behörde die Ausweisung der Beschwerdeführerin nicht als im Grunde des § 19 FrG dringend geboten erachten. Sie hätte nämlich in Betracht ziehen müssen, daß die Beschwerdeführerin als Ehegattin eines österreichischen Staatsbürgers nicht schlechter als ein begünstigter Drittstaatsangehöriger im Sinn des § 29 Abs. 3 Z. 1 FrG behandelt werden durfte. Dies folgt aus dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 17. Juni 1997, B 592/96, in welchem dieser ausgesprochen hat, daß "§ 29 FrG jedenfalls dahin auszulegen (ist), daß die Aufenthaltsbewilligung von Drittstaatsangehörigen sämtlicher EWR-Bürger, also auch die Aufenthaltsbewilligung von Drittstaatsangehörigen österreichischer Staatsbürger, einheitlichen (begünstigenden) Regelungen unterworfen ist. Allein dies entspricht auch dem aus Art. 8 iVm Art. 14 EMRK erfließenden Gebot, die in der EMRK festgelegten Rechte und Freiheiten ohne Benachteiligung zu gewährleisten." Dieser, zur Vermeidung einer Schlechterstellung österreichischer Staatsbürger und deren Familienangehörigen gegenüber nicht österreichischen EWR-Bürgern und deren Familienangehörigen gebotenen Auslegung schließt sich der Verwaltungsgerichtshof an (vgl. zur Problematik bereits das hg. Erkenntnis vom 21. Februar 1996, Zl. 95/21/0416).

Zwar ist gemäß § 31 Abs. 2 FrG auch die Ausweisung eines begünstigten Drittstaatsangehörigen im Grunde des § 17 Abs. 1 FrG zulässig, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Begünstigte Drittstaatsangehörige haben aber gemäß § 29 Abs. 2 FrG einen Rechtsanspruch auf Ausstellung eines Sichtvermerkes, wenn durch ihren Aufenthalt nicht die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet wäre. Diese Bestimmungen dienen der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts (vgl. die Erl zur RV des Fremdengesetzes 692 BlgNR, 18. GP, 40 ff), sie sind daher - wie auch § 19 FrG bei der Ausweisung eines EWR-Bürgers oder begünstigten Drittstaatsangehörigen - im Lichte des Gemeinschaftsrechts auszulegen.

Gemäß Art. 10 der - unmittelbar anwendbaren - Verordnung des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 19. Oktober 1968, EWG/1612/68, haben die Ehegatten von in einem Mitgliedstaat beschäftigten Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates das Recht, bei ihrem Ehegatten Wohnung zu nehmen; gemäß Art. 11 der genannten Verordnung haben sie - ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit - weiters das Recht, im gesamten Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates irgendeine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben. Ihnen haben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 19. Oktober 1968, 68/360/EWG, das Aufenthaltsrecht in ihrem Hoheitsgebiet zu gewähren, welches Recht gemäß Art. 10 der genannten Richtlinie nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit eingeschränkt werden darf. Es ist Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu dieser Bestimmung, daß die bloße Nichterfüllung der für Einreise, Ortswechsel und Aufenthalt von Ausländern geltenden Formalitäten als solche kein die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdendes Verhalten im Sinn dieser Richtlinienbestimmung darstellt, und daß "jede Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet, die von den Behörden eines Mitgliedstaates gegen einen vom Vertrag geschützten Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates getroffen wird, wenn sie ausschließlich darauf gestützt ist, daß der Betroffene die gesetzlichen Formalitäten im Rahmen der Ausländerüberwachung nicht erfüllt hat oder keine Aufenthaltserlaubnis besitzt", dem Gemeinschaftsrecht widerspricht (vgl. das Urteil des EuGH vom 8. April 1976 in der Rechtssache C 48-75, Royer, Slg. 1976, 497 RZ 40).

Aus einer Zusammenschau dieses Urteils und des vorzitierten Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 17. Juni 1997 ist zu folgern, daß der Beschwerdeführerin als Ehegattin eines österreichischen Staatsbürgers insofern keine ungünstigere Rechtsstellung als der Ehegattin eines nicht österreichischen EWR-Bürgers beigemessen werden durfte. Dies hat die belangte Behörde verkannt, wenn sie allein im bisher rechtswidrigen Aufenthalt der Beschwerdeführerin eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinn des § 19 FrG erblickt. Daß die Beendigung des Aufenthaltes der Beschwerdeführerin zur Erreichung eines anderen der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten sei, hat die belangte Behörde nicht dargetan.

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung des Bundeskanzlers, BGBl. Nr. 416/1994. Das Mehrbegehren war im Hinblick darauf abzuweisen, daß zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nur drei Ausfertigungen der Beschwerde sowie eine Kopie des angefochtenen Bescheides vorzulegen waren.

Wien, am 12. April 1999

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