VwGH 95/21/1104

VwGH95/21/110412.4.1999

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Rosenmayr, Dr. Pelant und Dr. Enzenhofer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Ogris, über die Beschwerde des J S, (geboren am 2. April 1972), in Hennersdorf, vertreten durch Dr. Erhard Hackl, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Hofgasse 7, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom 8. Mai 1995, Zl. St 145/95, betreffend Feststellung gemäß § 54 Abs. 1 Fremdengesetz, zu Recht erkannt:

Normen

FrG 1993 §37 Abs1;
FrG 1993 §37 Abs2;
FrG 1993 §54 Abs1;
EMRK Art3;
FrG 1993 §37 Abs1;
FrG 1993 §37 Abs2;
FrG 1993 §54 Abs1;
EMRK Art3;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich (der belangten Behörde) vom 8. Mai 1995 wurde gemäß § 54 Abs. 1 des Fremdengesetzes - FrG, BGBl. Nr. 838/1992, festgestellt, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme bestünden, dass der Beschwerdeführer in Liberia gemäß § 37 Abs. 1 oder Abs. 2 FrG bedroht sei; seine Abschiebung nach Liberia sei somit zulässig.

Der Beschwerdeführer sei Staatsangehöriger von Liberia und am 14. März 1995 illegal von Slowenien kommend in Österreich eingereist. Bei seiner Einvernahme am 15. März 1995 habe er angegeben, Liberia am 15. Februar 1995 verlassen zu haben und nach Sierra Leone gelangt zu sein. Von dort wäre er über Slowenien nach Österreich gekommen. Er hätte Liberia deswegen verlassen, weil im Jänner 1995 Soldaten des Dr. Amos Sawyer ihn von zu Hause zwangsrekrutiert und, wie auch alle anderen wehrfähigen Männer, in ein Camp im Busch gebracht hätten sowie weil er keinen anderen Menschen hätte töten und keinesfalls in den Bürgerkrieg hätte verwickelt werden wollen. Dieses Ausbildungslager wäre am 9. Jänner 1995 von Soldaten der Bürgerkriegspartei des Charles Taylor angegriffen worden. Dem Beschwerdeführer wäre die Flucht gelungen, und er hätte sich daraufhin zehn Tage im Busch versteckt gehalten. Anschließend wäre er auf dem Landweg nach Sierra Leone gelangt. Er wäre ledig, hätte keine Verwandten mehr, und seine Eltern wären bereits gestorben. Er wäre noch nie gerichtlich verurteilt worden und würde in Liberia weder von der Polizei noch vom Gericht gesucht.

In seinem Schreiben vom 16. März 1995 habe er angegeben, dass er verpflichtet worden wäre, zur Armee zu gehen, um im Krieg zu kämpfen. Er hätte jedoch nicht kämpfen und Leute töten wollen. Alle Bemühungen, der Einberufung zur Armee zu entgehen, wären fehlgeschlagen. Er hätte sich dann zur Flucht entschlossen und seine Uniform weggeworfen. Jede Möglichkeit, in Liberia gefasst zu werden, würde sein Ende bedeuten.

Hinsichtlich seines gemäß § 54 Abs. 1 FrG gestellten Antrages habe er auf seine Ausführungen im Asylverfahren verwiesen. Sein Asylantrag sei im Instanzenzug mit Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 29. März 1995, rechtswirksam erlassen am 1. April 1995, abgewiesen worden.

Nach Wiedergabe der einschlägigen Bestimmungen des Fremdengesetzes führte die belangte Behörde weiter aus, dass mit diesem Bescheid des Bundesministers für Inneres rechtskräftig festgestellt worden sei, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht zukäme und er in seinem Heimatland vor Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention sicher wäre. Da sich der Begriff des Flüchtlings mit den Verfolgungsgründen nach § 37 Abs. 2 FrG decke und der Beschwerdeführer in dem dem Asylverfahren folgenden fremdenpolizeilichen Verfahren keine neuen Tatsachen vorgebracht habe, sondern hinsichtlich der Fluchtgründe auf sein Vorbringen im Asylverfahren verwiesen habe, könne davon ausgegangen werden, dass diese Verfolgungsgründe nach § 37 Abs. 2 FrG nicht vorlägen.

Die Behörde könne aber auch keine Gefährdung im Sinn des § 37 Abs. 1 FrG feststellen, zumal der Beschwerdeführer in der Berufungsschrift vom 2. Mai 1995 angeführt habe, dass es am 21. Dezember 1994 in Accra zu einem Friedensabkommen zwischen den Bürgerkriegsparteien gekommen wäre. Entgegen seiner Ansicht lägen der belangten Behörde keine Informationen vor, aus denen der Schluss gezogen werden könnte, dass sich die einzelnen Parteien nicht an dieses Friedensabkommen hielten. Der Wunsch, nicht an Kriegshandlungen teilnehmen zu müssen, sei zwar menschlich und verständlich, die Bestimmungen des § 37 Abs. 1 und/oder Abs. 2 FrG hätten jedoch nicht die Bedeutung, vor den allgemeinen Unglücksfolgen von Kriegsereignissen zu schützen. Im Übrigen seien seine Angaben bezüglich seiner Einberufung durch keine Dokumente belegt. Bedenke man zusätzlich, dass er sich bei seiner Einreise nach Österreich einer "Schlepperorganisation" bedient habe und es sicherlich schon zum Service derartiger Schlepperorganisationen gehöre, entsprechende Unterlagen bzw. Informationen für die Geschleppten zu beschaffen, so schienen seine Angaben (auch im Licht des bereits geschlossenen Friedensabkommens) wenig glaubwürdig.

Möge es auch sein, dass es im Heimatstaat des Beschwerdeführers trotz des bestehenden Friedensabkommens noch vereinzelt zu Auseinandersetzungen komme, so hätten jedoch alle Bewohner seines Heimatlandes in gleicher Weise diese Auswirkungen zu erdulden, sodass die dadurch bedingten Benachteiligungen als keine gegen ihn gerichtete individuelle Verfolgung im Sinn des § 37 Abs. 1 oder Abs. 2 FrG zu werten sei.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs hat der Fremde im Rahmen eines Feststellungsverfahrens nach § 54 FrG das Bestehen einer aktuellen, also im Fall der Abschiebung des Fremden in den von seinem Antrag erfassten Staat dort gegebenen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des § 37 Abs. 1 und/oder Abs. 2 FrG glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist. Ebenso wie im Asylverfahren ist auch bei der Beurteilung des Vorliegens einer Gefahr gemäß § 37 Abs. 1 und 2 FrG im Verfahren gemäß § 54 FrG die konkrete Einzelsituation in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Antragstellers in diesen Staat zu beurteilen. Für diese Beurteilung ist nicht unmaßgeblich, ob etwa allenfalls gehäufte Verstöße der in § 37 Abs. 1 FrG umschriebenen Art durch den genannten Staat bekannt geworden sind. (Vgl. zum Ganzen etwa das Erkenntnis vom 12. Februar 1999, Zl. 97/21/0286, mwN.)

2. Die Beschwerde rügt, dass die belangte Behörde die vom Beschwerdeführer in seiner Berufung angeführten Berichte nicht eingeholt und keine Feststellungen über die tatsächliche Situation in Liberia getroffen habe. Hätte die belangte Behörde die Berichte, etwa im Weg des Bundesministeriums für auswärtige Angelegenheiten, angefordert, so hätte sich ergeben, dass es seit Jahren in Liberia zu massiven bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Bürgerkriegsparteien mit schwersten Folterungen und Tötungen von Menschen komme. Das Friedensabkommen von Accra habe an der Situation in Liberia im Grunde nichts geändert, und es werde der darin vereinbarte Waffenstillstand faktisch nicht eingehalten. Der von der belangten Behörde angenommene Sachverhalt sei daher völlig unzureichend. Der Beschwerdeführer sei zwangsrekrutiert worden und aus dem Ausbildungslager entflohen. Dieser Sachverhalt ergebe sich in der Zusammenschau der Feststellungen im gegenständlichen Verfahren und im Asylverfahren, auf das die belangte Behörde in ihrer Sachverhaltsfeststellung mehrmals verwiesen habe. Schon allein die mögliche Verdächtigung, dass der Beschwerdeführer ein Mitglied bzw. ein Sympathisant eines anderen Truppenverbandes wäre, würde in der derzeitigen Situation für ihn jedenfalls lebensbedrohlich sein.

3. Dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde im Ergebnis zum Erfolg.

Der Begründung des angefochtenen Bescheides lässt sich nicht entnehmen, dass die belangte Behörde die Angaben des Beschwerdeführers ihrer rechtlichen Beurteilung nicht zugrunde legte. Wenn sie diese Angaben auch als "wenig glaubwürdig" bezeichnete, so traf sie doch keine Beweiswürdigung in dem Sinn, dass sie die Glaubwürdigkeit der Angaben verneinte. Dies ergibt sich auch daraus, dass die belangte Behörde an anderer Stelle den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 29. März 1995 ihrer Beurteilung nach § 37 Abs. 2 FrG zugrundelegte, (nach Ausweis der Verwaltungsakten) in diesem Bescheid jedoch den Angaben des Beschwerdeführers, dass er seine Heimat wegen der dortigen Bürgerkriegssituation verlassen und befürchtet habe, in Ausübung seines Militärdienstes getötet zu werden, geglaubt wurde.

Legt man nun die unter I.1. wiedergegebenen Angaben des Beschwerdeführers der Überprüfung des angefochtenen Bescheides zugrunde, so ist Folgendes festzuhalten: Zwar ergibt sich aus der Aussage des Beschwerdeführers kein Anhaltspunkt dafür, dass sein Leben oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, seiner Religion, seiner Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Ansichten bedroht wäre (§ 37 Abs. 2 FrG), doch sprach der Verwaltungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom 26. Juni 1997, Zl. 95/21/0294, - im Übrigen die Bürgerkriegssituation in Liberia betreffend - aus, dass die Verfolgung einer Bevölkerungsgruppe durch eine andere bei Fehlen einer stabilen räumlichen Abgrenzung der Bürgerkriegsparteien eine hier maßgebliche Gefährdung des Einzelnen zur Folge haben kann. Führt demgemäß eine in einem Land gegebene Bürgerkriegssituation dazu, dass keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht mehr vorhanden und damit zu rechnen ist, dass ein dorthin abgeschobener Fremder - auch ohne Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bürgerkriegspartei oder verfolgten Bevölkerungsgruppe - mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in § 37 Abs. 1 FrG umschriebenen Gefahr (im gesamten Staatsgebiet) unmittelbar ausgesetzt würde, so wäre dies bei der Beurteilung gemäß § 54 Abs. 1 FrG beachtlich. Zweifellos stellt die Gefahr, zu Bürgerkriegsdiensten eingezogen und wegen Desertion - gleichviel ob von der regulären Armee oder von einer Rebellengruppe - getötet zu werden, einen stichhaltigen Grund für die Annahme dar, im Verfolgerstaat einer "unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe" (§ 37 Abs. 1 FrG) unterworfen zu werden. Mit ihrer Ansicht, eine Benachteiligung, die alle Bewohner des Landes in gleicher Weise zu erdulden hätten, könne nicht als Verfolgung im Sinn des § 37 Abs. 1 FrG gewertet werden, verkannte die belangte Behörde die Rechtslage. (Vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom 12. Februar 1999, Zl. 95/21/1097.)

Das Vorhandensein einer inländischen Fluchtalternative legte die belangte Behörde ihrer Beurteilung nicht zugrunde, weshalb nicht unterstellt werden kann, es gebe räumlich stabil abgegrenzte Einflusszonen der Bürgerkriegsparteien und es könne die Abschiebung des Beschwerdeführers in den für ihn sicheren Teil - so es einen solchen gäbe - erfolgen (zum letztgenannten Gesichtspunkt vgl. das hg. Erkenntnis vom 27. November 1998, Zl. 95/21/0344).

Dadurch, dass die belangte Behörde die Angaben des Beschwerdeführers als nicht ausreichend wertete, um eine ihm drohende Verfolgung in seinem Heimatstaat glaubhaft zu machen, belastete sie ihren Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit.

3.2. Offensichtlich im Hinblick auf dieses Verkennen der Rechtslage hat es die belangte Behörde unterlassen, sich mit den in der Berufung vom 2. Mai 1995 angeführten Berichten, nämlich des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 6. Jänner 1995 und der zuständigen österreichischen Vertretungsbehörde vom 13. Jänner 1995, sowie dem in der Berufung genannten Stellungnahmeschreiben des Bundesministeriums für auswärtige Angelegenheiten vom 7. Februar 1995 auseinanderzusetzen. Laut dem Berufungsvorbringen hätte sich aus diesen Unterlagen ergeben, dass der im Friedensabkommen von Accra am 21. Dezember 1994 vereinbarte Waffenstillstand zu keiner Verbesserung der Bürgerkriegssituation in Liberia geführt habe und faktisch nicht eingehalten werde, sodass in der derzeitigen Situation das Leben eines nach Liberia abgeschobenen Menschen nicht garantiert werden könne. Angesichts dessen stellt der bloße Hinweis im angefochtenen Bescheid, dass der belangten Behörde keine Informationen vorlägen, aus denen der Schluss gezogen werden könnte, dass sich die einzelnen Parteien nicht an das genannte Friedensabkommen hielten, keine ausreichende Begründung für die Annahme der belangten Behörde dar, dass keine Gefährdung des Beschwerdeführers im Sinn des § 37 Abs. 1 FrG in Liberia bestehe. Abgesehen davon lässt sich dem angefochtenen Bescheid nicht mit ausreichender Sicherheit entnehmen, dass keine Auswirkungen der Bürgerkriegssituation mehr zu befürchten seien, hält es doch die belangte Behörde ausdrücklich für möglich, dass es "trotz des bestehenden Friedensabkommens noch vereinzelt zu Auseinandersetzungen kommt".

4. Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

5. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 12. April 1999

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