VwGH 96/01/1159

VwGH96/01/11593.9.1997

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Dorner und die Hofräte Dr. Kremla und Dr. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Oberkommissärin Mag. Unterer, in der Beschwerdesache des Jochen Strasser in Wien, vertreten durch Dr. Thomas Prader, Rechtsanwalt in Wien VII, Seidengasse 28, gegen den Unabhängigen Verwaltungssenat Wien wegen Verletzung der Entscheidungspflicht in einer Angelegenheit der Ausübung unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, den Beschluß gefaßt:

Normen

AVG §73 Abs2;
B-VG Art132;
B-VG Art133 Z1;
B-VG Art138 Abs1 litb;
VwGG §27;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §41 Abs1;
AVG §73 Abs2;
B-VG Art132;
B-VG Art133 Z1;
B-VG Art138 Abs1 litb;
VwGG §27;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §41 Abs1;

 

Spruch:

Das Verfahren wird eingestellt.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 6.580,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die gegenständliche, mit 20. Mai 1994 datierte und am 24. Mai 1994 zur Post gegebene Säumnisbeschwerde gemäß § 132 B-VG wurde darauf gestützt, daß die belangte Behörde über eine am 29. Juni 1993 zur Post gegebene, auf Art. 129a B-VG gestützte Beschwerde wegen Ausübung unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in welcher die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf persönliche Freiheit gemäß Art. 5 MRK und Art. 1 PersFrG sowie darauf, gemäß Art. 3 MRK keiner unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterzogen zu werden, geltend gemacht worden war, noch nicht entschieden habe.

Mit Beschluß vom 19. Oktober 1994, Zl. 94/01/0408, wies der Verwaltungsgerichtshof die Säumnisbeschwerde zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß der Beschwerdeführer durch sein ausschließlich auf die Feststellung der Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte abzielendes Begehren den Prozeßgegenstand bereits dahingehend eingeengt habe, daß dieser ausschließlich Rechte umfasse, deren Verletzung - unter Ausschluß der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes - der Verfassungsgerichtshof wahrzunehmen habe. Der Verwaltungsgerichtshof sei daher zur Behandlung der Säumnisbeschwerde unzuständig. Dieser Beschluß stand im Einklang mit der hg. Rechtsprechung, derzufolge Säumnisbeschwerden, mit denen die Verletzung der Entscheidungspflicht eines unabhängigen Verwaltungssenates in Angelegenheiten der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt geltend gemacht wurde, dann zurückgewiesen wurden, wenn der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren ausschließlich die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte geltend gemacht hatte (vgl. den Beschluß vom 21. September 1994, Zlen. 94/01/0060 bis 0068).

Eine daraufhin beim Verfassungsgerichtshof in derselben Angelegenheit erhobene Säumnisbeschwerde, die - für den Fall, daß der Verfassungsgerichtshof die an ihn gerichtete Säumnisbeschwerde für nicht zulässig halte - mit dem Antrag auf Entscheidung des dann aufgetretenen negativen Kompetenzkonfliktes verbunden war, wies der Verfassungsgerichtshof mit seinem Beschluß vom 14. Juni 1995, B 754/95, zurück.

Mit Erkenntnis vom 28. Juni 1996, K I-3/95, erkannte der Verfassungsgerichtshof zu Recht, daß der Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung über die an ihn gerichtete Säumnisbeschwerde vom 20. Mai 1994 zuständig sei. Gleichzeitig wurde der entgegenstehende hg. Beschluß vom 19. Oktober 1994 aufgehoben.

Zur Begründung führte der Verfassungsgerichtshof aus:

"2. Zu erörtern ist, ob und welcher der beiden Zurückweisungsbeschlüsse nicht dem Gesetz entspricht.

a) Die Unzuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes, über eine Säumnisbeschwerde zu entscheiden, ist offenkundig. Es genügt, auf die im Beschluß VfGH 14.6.1995, B 754/95, genannte Vorjudikatur (angeführt oben zu I.1.b) hinzuweisen.

b) aa) Der Verwaltungsgerichtshof erkennt nach Art. 130 Abs. 1 B-VG unter anderem über Beschwerden, womit die Verletzung der Entscheidungspflicht der Verwaltungsbehörden behauptet wird (lit. b; Fassung BGBl. 685/1988). Art. 133 B-VG schließt jedoch bestimmte Angelegenheiten von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes aus, darunter (in Z. 1) "Angelegenheiten, die zur Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes gehören". In die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes fallen neben anderen hier nicht in Betracht kommenden Anbringen Beschwerden gegen Bescheide der Verwaltungsbehörden, soweit der Beschwerdeführer durch den Bescheid in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung, eines verfassungswidrigen Gesetzes oder eines rechtswidrigen Staatsvertrages in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet (Art. 144 Abs. 1 B-VG). Diese Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes kann schon von ihrem Wortlaut her eine Ausnahme von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes gemäß Art. 133 Z. 1 B-VG nur insoweit bewirken, als auch dieser Gerichtshof über Beschwerden zu erkennen hätte, welche die Rechtswidrigkeit von Bescheiden der Verwaltungsbehörden behaupten (Art. 130 Abs. 1 lit. a B-VG):

Bekämpft der Beschwerdeführer den Bescheid einer Verwaltungsbehörde, nämlich wegen Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes oder Rechtsverletzung durch Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm, so geht die besondere Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes, über diese Behauptung abzusprechen, der allgemeinen Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes zur Prüfung der behaupteten Rechtswidrigkeit vor: Art. 133 Z. 1 B-VG vermeidet die sonst entstehende Zuständigkeitskonkurrenz. Macht der Beschwerdeführer jedoch die Verletzung der Entscheidungspflicht geltend, rügt er nicht einen Bescheid (wie dies Art. 130 Abs. 1 lit. a B-VG und Art. 144 Abs. 1 B-VG voraussetzen), sondern gerade die Untätigkeit einer Verwaltungsbehörde. Der Verfassungsgerichtshof ist aber durch keine Bestimmung berufen, über die Untätigkeit von Behörden zu befinden und ihnen dabei allenfalls die Erlassung eines Bescheides aufzutragen oder an ihrer Stelle in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. hingegen § 42 Abs. 4 VwGG). Der in Art. 133 Z. 1 B-VG zum Ausdruck kommende Vorrang der speziellen gegenüber der generellen Kompetenz hat daher - wie schon 1955 K. Ringhofer, Der Verwaltungsgerichtshof, 148, aufgezeigt hat - für Säumnisbeschwerden keinen Anwendungsbereich.

Der Verwaltungsgerichtshof geht offenbar davon aus, daß er selbst dann nicht in die Lage kommen dürfe, über die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte zu erkennen, wenn er diese Entscheidung nicht bei Prüfung der Rechtmäßigkeit von Bescheiden, sondern nur anstelle der säumigen Behörden zu treffen hätte. Ob freilich seine Prämisse zutrifft, er könne - falls er zuständig wäre - in Bindung an den vor der Behörde gestellten Antrag nur darüber absprechen, ob der Beschwerdeführer durch Ausübung von Zwangsgewalt in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde, kann angesichts der Pflicht der behaupteterweise säumigen unabhängigen Verwaltungssenate, einen fehlerhaften Verwaltungsakt nach § 67c Abs. 4 AVG schlechthin "für rechtswidrig zu erklären", dahingestellt bleiben. Die einer Verwaltungsbehörde obliegende Sachentscheidung zu fällen, ist nämlich niemals Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes; die in Art. 133 Z. 1 B-VG ausgeschlossene Zuständigkeitskonkurrenz kann daher von vornherein nicht eintreten.

Selbst wenn man die Aufgabe des Art. 133 Z. 1 B-VG darin sieht, über die Vermeidung einer Zuständigkeitskonkurrenz hinaus sicherzustellen, daß in Fragen der Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte der Verfassungsgerichtshof das letzte Wort hat - was bei Abspruch des Verwaltungsgerichtshofes über eine solche Frage wegen der Unanfechtbarkeit seiner Erkenntnisse nicht mehr in Betracht kommt -, kann dies der Geltendmachung der Entscheidungspflicht nicht entgegenstehen. Würde doch ein Ausschluß des Verwaltungsgerichtshofes nicht bewirken, daß die Angelegenheit auf einem wie immer gearteten Weg vor den Verfassungsgerichtshof kommt, sondern nur zur endgültigen Verweigerung der Sachentscheidung führen. Es ist aber dem Verfassungsgesetzgeber des Jahres 1946, der die Säumnisbeschwerde im B-VG zu einem Zeitpunkt verankerte, in dem Art. 133 Z. 1 B-VG schon längst bestanden hatte und nur die Kompetenzen der beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in bezug auf Bescheidbeschwerden abgegrenzt haben konnte, nicht zusinnbar, dem Verwaltungsgerichtshof die Entscheidung über eine Angelegenheit vorenthalten zu haben, die zu entscheiden der Verfassungsgerichtshof gar nicht in die Lage kommt. Er hätte damit gerade im Bereich erhöhter Schutzbedürftigkeit eine durch nichts zu rechtfertigende Rechtsschutzlücke geschaffen (dazu besonders R. Novak, Die Säumnisbeschwerde in Verfassungsangelegenheiten - eine offene Rechtsschutzfrage, FS Hellbling 1981, 299ff, 309ff; vgl. auch § 36 Abs. 5 (später 4) DatenschutzG und die Begründung der Aufhebung dieser Verfassungsbestimmung in der Regierungsvorlage 1640 BglNR

18. GP, 8, zu BGBl. 632/1994).

Die auf die vorrangige Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes abstellende Z. 1 des Art. 133 B-VG unterscheidet sich eben ihrem ganzen Inhalt nach wesentlich von den auf bestimmte Verwaltungsmaterien bezogenen Ausnahmen der (inzwischen allerdings aufgehobenen) Z. 2

- Disziplinarangelegenheiten - und der noch in Geltung stehenden Z. 3 - Patentwesen -, und auch von der zusammen mit der Regelung der Entscheidungspflicht (§ 73 AVG) zu lesenden Z. 4, dem normativen Ausdruck dessen, daß nach Einschätzung des Verfassungsgesetzgebers die Möglichkeit der Anrufung einer Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle an sich erübrigt.

Der Verwaltungsgerichtshof ist daher nach Art. 130 Abs. 1 lit. b B-VG zuständig, über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht auch dann zu erkennen, wenn er dadurch genötigt sein sollte, anstelle der Verwaltungsbehörde ausschließlich über die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte zu erkennen. Mit diesem Urteil befindet sich der Verfassungsgerichtshof, der bisher diese Frage zu beantworten noch keine Gelegenheit hatte, in Übereinstimmung mit dem - soweit zu sehen einhelligen - Schrifttum: vgl. die nähere Darstellung bei K. Ringhofer, Über verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte und die Kompetenzgrenze zwischen Verfassungsgerichtshof und Verwaltungsgerichtshof, in FS Melichar, 1983, 161ff, 163; sowie die Stellungnahmen von

R. Walter, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 1972, 669, FN 26: "...der Zuständigkeitsausschluß nach Art. 133 Z. 1 B-VG nicht denkbar"; G. Winkler, Der gerichtliche Rechtsschutz des Einzelnen gegenüber der vollziehenden Gewalt in Österreich, 1969, neu in: Orientierungen im öffentlichen Recht, 1979, 159;

P. Oberndorfer, Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1983, 41, und F. Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1986, 740;

ausführlich F. Eberhard in Ermacora-Nowak-Tretter, Die Europäische Menschenrechtskonvention, 1983, zu Art. 13 MRK, 533ff; Chr. Keller, Rechtsschutz - eine Auslegungsfrage? FS Rosenzweig, 1988, 233ff; und R. Winkelhofer, Säumnis von Verwaltungsbehörden, 1991, 231ff.

bb) Daraus folgt, daß der Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung über die an ihn gerichtete Säumnisbeschwerde vom 20. Mai 1994 zuständig gewesen ist.

Demnach entsprach der Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 19. Oktober 1994, mit dem er die Säumnisbeschwerde wegen Unzuständigkeit zurückgewiesen hatte, nicht dem Gesetz.

3. Sohin war einerseits auszusprechen, daß die Entscheidung über die Säumnisbeschwerde in die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes fällt; andererseits war dessen entgegenstehender Beschluß aufzuheben (§ 51 VerfGG)."

In dem zufolge der Aufhebung des Zurückweisungsbeschlusses vom 19. Oktober 1994 wieder beim Verwaltungsgerichtshof anhängig gewordenen Verfahren über die Säumnisbeschwerde des Beschwerdeführers besteht Bindung an die Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofes. Weiters wurde mit dem Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 29. April 1997, Zl. 96/01/0258, von der bisherigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte geltend machenden Säumnisbeschwerden wegen Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes zurückzuweisen, unter Verweis auf das in der gegenständlichen Beschwerdeangelegenheit ergangene Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 28. Juni 1996 ausdrücklich abgegangen.

In Erledigung eines von der belangten Behörde bereits vor Ergehen des hg. Beschlusses vom 19. Oktober 1994 fristgerecht gestellten Antrages auf Fristerstreckung wurde mit Beschluß vom 23. April 1997 die der belangten Behörde zur Nachholung des versäumten Bescheides eingeräumte Frist gemäß § 36 Abs. 2 zweiter Satz VwGG bis 30. Juni 1997 erstreckt. Die belangte Behörde erließ in der Folge am 6. Juni 1997 den versäumten Bescheid durch mündliche Verkündigung und stellte dem Beschwerdeführer am 30. Juni 1997 eine schriftliche Ausfertigung des Bescheides im Wege der Telekopie zu. Beim Verwaltungsgerichtshof langte eine Kopie des nachgeholten Bescheides am 3. Juli 1997 ein. Durch die innerhalb der gesetzten Frist erfolgte Nachholung des versäumten Bescheides durch die belangte Behörde ist der Beschwerdeführer klaglos gestellt.

Soweit die belangte Behörde die Auffassung vertritt, sie sei im Zeitpunkt der Erhebung der gegenständlichen Säumnisbeschwerde nicht säumig gewesen, weil der Beschwerdeführer die Beischaffung eines Gerichtsaktes beantragt habe, der damals - trotz entsprechender Anforderung und Betreibungen - bei der belangten Behörde noch nicht vorgelegen sei, ist ihr entgegenzuhalten, daß im Unterschied zu § 73 Abs. 2 AVG der Übergang der Entscheidungspflicht an den Verwaltungsgerichtshof nicht von einer schuldhaften Verzögerung der Behörde abhängt. Insbesondere kann § 27 VwGG nicht entnommen werden, daß das Recht zur Einbringung einer Säumnisbeschwerde dann nicht bestehe, wenn zureichende Gründe für die Nichterledigung des Parteienbegehrens innerhalb von sechs Monaten vorliegen (vgl. die in Dolp, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit3, S. 197 f, angeführte Judikatur). Der Verwaltungsgerichtshof vermag daher die obige Rechtsansicht der belangten Behörde nicht zu teilen.

Unter Zugrundelegung der obigen Überlegungen war die Beschwerde sohin nicht zurückzuweisen, sondern gemäß § 36 Abs. 2 VwGG das Verfahren einzustellen.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 55 Abs. 1 zweiter Satz VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994, insbesondere deren Art. III Abs. 2.

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