VwGH 94/02/0207

VwGH94/02/020712.8.1994

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. W. Pesendorfer und die Hofräte Dr. Stoll, Dr. Bernard, Dr. Riedinger und Dr. Holeschofsky als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Wildmann, über die Beschwerde des L in W, vertreten durch Dr. M, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 23. März 1994, Zl. MA 64-BH 1/93, betreffend Ausstellung eines Behindertenausweises, zu Recht erkannt:

Normen

StVO 1960 §29b Abs1;
StVO 1960 §29b Abs2;
StVO 1960 §29b Abs4;
StVO 1960 §29b Abs1;
StVO 1960 §29b Abs2;
StVO 1960 §29b Abs4;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 13.010,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren hinsichtlich Stempelgebührenersatz wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem im Devolutionsweg ergangenen angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 5. Februar 1993 auf Ausstellung eines Ausweises für dauernd stark gehbehinderte Personen gemäß § 29b Abs. 4 StVO 1960 abgewiesen.

In seiner an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Beschwerde macht der Beschwerdeführer Rechtswidrigkeit des Inhaltes des angefochtenen Bescheides und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides. Die belangte Behörde hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 29b Abs. 4 StVO 1960 hat die Behörde Personen, die dauernd stark gehbehindert sind, auf deren Ansuchen einen Ausweis über diesen Umstand auszufolgen.

Vorauszuschicken ist, daß der Verwaltungsgerichtshof keine Bedenken dagegen hat, daß die belangte Behörde die Auffassung vertritt, bei Auslegung des Gesetzesbegriffes der starken Gehbehinderung im Sinne des § 29b Abs. 4 StVO 1960 sei darauf abzustellen, ob die betreffende Person in einer als Gehen zu qualifizierenden Weise ohne Aufwendung überdurchschnittlicher Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen eine bestimmte Wegstrecke zurücklegen kann; ist sie dazu in der Lage, so wird eine festgestellte Gehbehinderung nicht als schwer im Sinne des Gesetzes anzusehen sein (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 29. Jänner 1992, Zl. 91/02/0136, und die darin zitierte Vorjudikatur).

Auch der Beschwerdeführer wendet sich nicht dagegen. Er macht aber geltend, daß auf die verschiedenen ärztlichen Befunde und Gutachten, die behördlicherseits eingeholt worden sind, zum Teil nicht ausreichend eingangen worden sei, sowie daß diese für die zu beurteilende Frage seiner Gehbehinderung nicht aussagekräftig seien.

Die belangte Behörde stützte den angefochtenen Bescheid auf ein mehrfach ergänztes amtsärztliches Sachverständigengutachten. Diesem lag wiederum ein lungenfachärztliches Gutachten vom 5. Oktober 1993 zugrunde. Nach diesen gutächtlichen Äußerungen liegt zwar eine leichte, aber keine schwere Gehbehinderung im Sinne des Gesetzes vor. Die Behörde qualifizierte diese Gutachten als vollständig und schlüssig und schloß daraus - der oben wiedergegebenen Rechtsansicht entsprechend -, daß der Beschwerdeführer Strecken von 300 m ohne große Schmerzen und Kraftanstrengung zurücklegen könne.

Der Beschwerdeführer hält dem entgegen, daß der von der Behörde angenommene Umstand, er könne 300 m gehen, nichts darüber aussagt, wie er das tun könne. Dies geht insofern am Inhalt des angefochtenen Bescheides vorbei, als die entsprechende Beurteilung sehr wohl vorgenommen wurde (vorletzter Absatz der Seite 8 des angefochtenen Bescheides).

Es trifft aber zu, daß auf den dem Gutachten vom 5. Oktober 1993 zugrunde gelegten Lungenbefund vom 1. Oktober 1993 (Bl. 28 des Verwaltungsaktes) nur ungenügend eingegangen wurde. Dies betrifft zwar nicht die vom Beschwerdeführer bestrittene Bedeutung der darin vorkommenden Wendung "gr. Spirometrie aus Compliance-Gründen nicht durchführbar"; hinsichtlich der Bedeutung dieser Aussage wurde von der Behörde beim Befundersteller nachgefragt und dieser Auskunft entsprechend wurde im angefochtenen Bescheid festgehalten, daß die in Rede stehende Untersuchung wegen mangelnder Mitarbeit des Beschwerdeführers nicht möglich gewesen sei (in diesem Zusammenhang spielt es auch keine Rolle, daß es sich bei "Compliance" um kein aus dem Französichen kommendes Fremdwort handelt, sondern um ein englisches Fremdwort; jedenfalls geht der Versuch des Beschwerdeführers, das betreffende handschriftlich festgehaltene Wort anders zu lesen und ihm damit eine andere Bedeutung zu unterstellen, ins Leere). Der Lungenbefund enthält aber auch im Anschluß an die Wiedergabe der im Ruhezustand erzielten pulmologischen Werte die Aussagen "In Belastung nicht möglich" sowie vor allem "Pat. kann kaum gehen". Darauf gehen weder das lungenfachärztliche Gutachten vom 5. Oktober 1993, welches sich auf den in Rede stehenden Befund stützt, noch in der Folge der Amtsarzt noch die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides ein. Die Aussage "eine körperliche Belastung war nicht möglich, jedoch kann aufgrund der hoch normalen Befunde in Ruhe dem Patienten eine Gehstrecke von 300 Metern aus pulmonaler Sicht zugemutet werden" im Gutachten vom 5. Oktober 1993, die vom Amtsarzt und der belangten Behörde übernommen wurde, ist daher nicht vollständig.

Zum übrigen Beschwerdevorbringen ist zu bemerken, daß die dem Beschwerdeführer von einem Polizeiamtsarzt bescheinigte Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 % keineswegs bedeutet, daß er auch stark gehbehindert im Sinne des § 29b Abs. 4 StVO 1960 ist. Dasselbe gilt für die ihm attestierte "Immobilität" im Zusammenhang mit der Gewährung von Pflegegeld. Schließlich sind die vom Beschwerdeführer gerügten Verzögerungen zwischen einzelnen Schritten des Verwaltungsverfahrens sowie die Umstände, daß ihm offenbar irrtümlich ein eine andere Person betreffendes Gutachten zur Stellungnahme übermittelt und sein Name teilweise unrichtig wiedergegeben wurde, ohne Einfluß auf die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides. Nichts deutet darauf hin, daß der belangten Behörde die vom Beschwerdeführer vermuteten Verwechslungen unterlaufen sind.

Der angefochtene Bescheid war gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG aufzuheben, weil der Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt einer Ergänzung bedurft hätte. Es wäre zu prüfen gewesen, wieso laut lungenfachärztlichem Befund eine Untersuchung unter Belastung nicht möglich gewesen sein soll und welche Bedeutung der Aussage, der Beschwerdeführer könne kaum gehen, beizumessen ist.

Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Das Mehrbehren betreffend Stempelgebührenersatz war abzuweisen, weil diesbezüglich nur ein Betrag von S 510,-- (S 240,-- für zwei Beschwerdeausfertigungen, S 120,-- für die Vollmachtsurkunde und S 150,-- für eine Ausfertigung des angefochtenen Bescheides) zugesprochen werden konnte.

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