VwGH 91/06/0210

VwGH91/06/02102.7.1992

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Onder und die Hofräte Dr. Giendl und Dr. Müller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Unterer, über die Beschwerde der MF in B, vertreten durch Dr. W, Rechtsanwalt in B, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Bludenz vom 2. Oktober 1991, Zl. I-5/3/Ba/91, betreffend Erteilung einer Baubewilligung (mitbeteiligte Parteien: 1. NT, B, 2. Gemeinde B, vertreten durch den Bürgermeister), zu Recht erkannt:

Normen

BauG Vlbg 1972 §6 Abs9;
BauG Vlbg 1972 §6 Abs9;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Vorarlberg hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen von S 11.660,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid des Bürgermeisters der zweitmitbeteiligten Gemeinde vom 12. November 1984 wurde dem Mitbeteiligten die Baubewilligung zur Errichtung einer PKW-Garage an das Haus Nr. 77 auf der Gp. 3295 der KG B, nicht erteilt. Dieser Bescheid wurde im wesentlichen damit begründet, daß gemäß § 6 Abs. 7 des Baugesetzes oberirdische Gebäude von der Nachbargrenze mindestens 3 m entfernt sein müssen. Zur Festsetzung eines geringeren Bauabstandes habe die Nachbarin (die Beschwerdeführerin des gegenständlichen Beschwerdefalles) nicht zugestimmt. Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.

Mit Bescheid vom 25. Juli 1985 erteilte der Bürgermeister der zweitmitbeteiligten Gemeinde dem Erstmitbeteiligten und dessen Ehegattin die Bewilligung zur Errichtung eines "Flugdaches über seinem Autoabstellplatz" an der Nordseite des nämlichen Wohnhauses. Auch dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.

Mit Bescheid vom 10. September 1987 hat der Bürgermeister der zweitmitbeteiligten Gemeinde dem Erstmitbeteiligten und einer Ehegattin gemäß § 44 Abs. 3 des Baugesetzes einen baupolizeilichen Auftrag erteilt, die "lose aufgeschlichteten Ziegelsteine zwischen den Pfeilern an der Nordseite des Flugdaches zu entfernen. Ebenfalls ist das innen und außen angebrachte Brennholz zu entfernen." Für die Befolgung dieses Auftrages wurde eine Frist von zwei Wochen festgesetzt. Die vom Erstmitbeteiligten gegen diesen Bescheid erhobene Berufung blieb erfolglos, seine Vorstellung wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 9. Juni 1988 als verspätet zurückgewiesen.

Am 27. Oktober 1988 beantragte der Erstmitbeteiligte die Erteilung einer Baubewilligung um die Nordseite des Flugdaches massiv zuzumauern; dies mit der Begründung, daß "die Holzlagerung für das Abstellen von Autos dadurch getrennt gehalten" werden könnte.

Über dieses Bauansuchen wurde für den 7. April 1989 eine mündliche Bauverhandlung anberaumt, zu der auch die Beschwerdeführerin geladen wurde. Nach einem Aktenvermerk des Bürgermeisters der zweitmitbeteiligten Gemeinde wurde diese Verhandlung "wegen Streit zu oder vor Beginn der Verhandlung" nicht durchgeführt. In der Folge wurde eine mündliche Bauverhandlung für den 11. Mai 1990 anberaumt, zu der die Beschwerdeführerin wieder mit dem Hinweis darauf geladen wurde, daß allfällige Einwendungen gegen das Bauvorhaben spätestens am Tage vor der Bauverhandlung oder während derselben bei sonstiger Präklusion vorzubringen seien.

Bereits am 8. Mai 1990 langte im Gemeindeamt der zweitmitbeteiligten Gemeinde ein "Einspruch" der Beschwerdeführerin gegen die geplante Zumauerung der Nordseite des Flugdaches des Erstmitbeteiligten ein. Unter Hinweis auf das - eingangs erwähnte - frühere Verwaltungsgeschehen wendet sich die Beschwerdeführerin darin gegen das Bauvorhaben, wobei sie dem Erstmitbeteiligten in ihrer mehrseitigen Eingabe dem Sinne nach vorwirft, daß der Autoabstellplatz mit Flugdach schon bisher zu keinem Zeitpunkt den Bestimmungen des Vorarlberger Baugesetzes entsprochen habe. Bei der mündlichen Bauverhandlung vom 11. Mai 1990 wurde - der Niederschrift zufolge - festgestellt, daß die gesetzlichen Bauabstandsflächen auf drei Seiten ausreichend seien an der Nordseite (zur Beschwerdeführerin) betrage der Bauabstand an der geringsten Stelle nur 2,05 m. Der bei der mündlichen Verhandlung anwesende Vertreter der Beschwerdeführerin JB erklärte, daß er sich "gegen die Erstellung der Betonwand" ausspreche.

Mit Bescheid vom 26. Juli 1990 wurde dem Erstmitbeteiligten die beantragte Bewilligung erteilt. Nach einer Wiedergabe des anläßlich der mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 1990 festgestellten Sachverhaltes (darunter auch des Bauabstandes an der Nordseite von nur 2 m anstatt 3 m) wird in diesem Bescheid ausgeführt, daß der Gemeindevorstand der mitbeteiligten Gemeinde mit Beschluß vom 27. Oktober 1988 der Zulassung eines geringeren als des gesetzlichen Bauabstandes durch die Baubehörde zugestimmt habe und das entstehende Gebäude als "Holzschopf" Verwendung finden solle. In den Spruch des Bescheides wurde die Auflage aufgenommen, daß der geringste Abstand von der "Objektwand zur Grundgrenze der Gp. 3298" 2 m betragen müsse.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Berufung mit der Begründung, daß der gesetzlich vorgeschriebene Bauabstand von 3 m nicht eingehalten worden sei. Mit Bescheid vom 21. Mai 1991 hat die Gemeindevertretung der mitbeteiligten Gemeinde die Berufung der Beschwerdeführerin als unbegründet abgewiesen. Nach einer Wiedergabe des Verwaltungsgeschehens und des wesentlichen Inhalts des erstinstanzlichen Bescheides, sowie nach Zitierung der Bestimmung des § 6 Abs. 7 und 9 des Baugesetzes, Vorarlberger LGBl. Nr. 39/1972, führte die Berufungsbehörde in diesem Bescheid begründend aus, daß es sich bei der durchgeführten bzw. vorgesehenen Baumaßnahme um die Zumauerung eines behördlich bewilligten Flugdaches handle. Das Gebäude diene der Unterbringung von Brennholz. Es sei darauf zu verweisen, daß diese Zumauerung aus Gründen der zweckmäßigeren Bebauung gerechtfertigt werden könne. Es sei nämlich durchaus als zweckmäßig anzusehen, ein bestehendes Flugdach zuzumauern, um damit einen geschützten Raum zur Unterbringung von Gegenständen irgendwelcher Art, ohne daß hiefür weiterer Baugrund geopfert werden müßte, herzustellen. Interessen des Brandschutzes, der Gesundheit sowie des Schutzes des Landschafts- und Ortsbildes, würden - wie die von der Berufungsbehörde eingeholten Gutachten gezeigt hätten - nicht beeinträchtigt werden.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Vorstellung, die mit Bescheid der belangten Behörde vom 2. Oktober 1991 als unbegründet abgewiesen wurde.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, dem Sinne nach wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes erhobene Beschwerde.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Das Mitspracherecht des Nachbarn im Baubewilligungsverfahren ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in zweifacher Weise beschränkt: Es besteht einerseits nur insoweit, als dem Nachbarn nach den in Betracht kommenden baurechtlichen Vorschriftn subjektiv-öffentliche Rechte zukommen und andererseits nur in jenem Umfang, in dem der Nachbar solche Rechte im Verfahren durch die rechtzeitige Erhebung entsprechender Einwendungen wirksam geltend gemacht hat (vgl. das Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 3. Dezember 1980, Slg. Nr. 10317/A, uva.).

Gemäß § 30 Abs. 1 lit. b des Baugesetzes, Vorarlberger LGBl. Nr. 39/1972 in der Fassung der Novelle LGBl. Nr. 47/1983, ist in der Erledigung über den Bauantrag über Einwendungen der Nachbarn abzusprechen, die sich (u.a.) auf § 6 Baugesetz stützen, insoweit diese Bestimmung den Schutz der Nachbarn aus Rücksichten des Brandschutzes und der Gesundheit, insbesondere Belichtung, Luft und Lärm betrifft.

Gemäß § 6 Abs. 7 Baugesetz müssen oberirdische Gebäude mindestens 3 m von der Nachbargrenze entfernt sein. Gemäß § 6 Abs. 9 leg. cit. kann die Behörde mit Genehmigung des Gemeindevorstandes wegen der besonderen Form oder Lage des Baugrundstückes oder aus Gründen einer zweckmäßigeren Bebauung von den in Abs. 2 bis 8 vorgeschriebenen Abstandsflächen und Abständen Ausnahmen zulassen, wenn dadurch die Interessen des Brandschutzes, der Gesundheit sowie des Schutzes des Landschafts- und Ortsbildes nicht beeinträchtigt werden.

Im Vordergrund der Beschwerdeausführungen steht die Frage, ob die Behörden auf Gemeindeebene zu Recht die Ausnahmebestimmung des § 6 Abs. 9 Baugesetz angewendet haben.

Bedingt durch die - soweit sie im Beschwerdeverfahren relevant ist, oben wiedergegebene - Aktenlage, hatte der Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang zunächst zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin eine diesbezügliche Einwendung rechtzeitig erhoben hat. In ihren schriftlichen Einwendungen vom 5. Mai 1990 legt die Beschwerdeführerin zwar den seit Jahren bestehenden Streit mit der erstmitbeteiligten Partei hinsichtlich der Nutzung dieses Flugdaches eingehend dar, woraus allerdings nur entnommen werden kann, daß sie dem Bauprojekt entgegentritt. Die Geltendmachung konkreter Nachbarrechte, insbesondere die Bekämpfung der Verletzung von Abstandsvorschriften kann ihren schriftlichen Ausführungen nicht entnommen werden. Allerdings wurde während der mündlichen Verhandlung festgestellt, daß das bestehende Projekt zur Beschwerdeführerin einen Bauabstand von nur 2,05 m aufweise, womit der Sache nach eine Verletzung des § 6 Abs. 7 Baugesetz festgestellt wurde. Eine Erörterung der bereits in der Sitzung des Gemeindevorstandes vom 27. Oktober 1988 erteilten Genehmigung für eine Ausnahmebewilligung im Sinne des § 6 Abs. 9 Baugesetz erfolgte hingegen in dieser mündlichen Verhandlung nicht. Es genügte daher, wenn der Vertreter der Beschwerdeführerin in der mündlichen Bauverhandlung (gestützt auf deren Ergebnisse, insbesondere den dabei festgestellten Seitenabstand zur Beschwerdeführerin) sich "gegen die Erstellung der Betonwand" ausgesprochen hat. Einer neuerlichen ausdrücklichen Erwähnung des (ohnehin bereits festgestellten) zu geringen Seitenabstandes von nur rund 2 m in dieser Äußerung bedurfte es daher nicht.

Eine Präklusion der Beschwerdeführerin im Sinne des § 42 Abs. 1 und 2 AVG hinsichtlich der Geltendmachung der Verletzung des Seitenabstandes im Sinne des § 6 Abs. 7 Baugesetz ist somit nicht eingetreten.

Der Beschluß des Gemeindevorstandes vom 27. Oktober 1988 betreffend die Zulassung eines geringeren Bauabstandes gemäß § 6 Abs. 9 Baugesetz wurde erstmals im erstinstanzlichen Bescheid vom 26. Juli 1990 erwähnt, worin dem Erstmitbeteiligten von der Baubehörde, gestützt auf diesen Beschluß, die beantragte Ausnahme vom gesetzlichen Bauabstand auf 2.00 m bewilligt wurde. Dagegen hat die Beschwerdeführerin in ihrer Berufung (rechtzeitig) die Einwendung erhoben, daß für diese Ausnahmebewilligung eine "wirtschaftliche Notwendigkeit vorhanden" sein müsse, die nicht vorliege.

Die gegen die Erteilung der Ausnahmebewilligung gemäß § 6 Abs. 9 Baugesetz sowohl (rechtzeitig) im Verwaltungsverfahren erhobenen, als auch im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren wiederholten Einwände sind auch berechtigt:

Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, dient die Ausnahmebestimmung des § 6 Abs. 9 Baugesetz nicht dazu, bestimmte Wünsche eines Bauwerbers zu ermöglichen; vielmehr ist zunächst zu prüfen, ob überhaupt die gesetzlichen Voraussetzungen für die Heranziehung dieser Regelung vorliegen (vgl. das Erkenntnis vom 14. Jänner 1987, Zl. 86/06/0072, BauSlg. Nr. 844). Sie kommt insbesondere dann nicht zum Tragen, wenn Größe und Konfiguration eines Bauplatzes eine zweckmäßige Bebauung zulassen.

Demgegenüber beschränkte sich im Beschwerdefall die Berufungsbehörde auf die Feststellung, es sei zweckmäßig, ein bestehendes Flugdach zuzumauern und dadurch einen geschützten Raum zur Unterbringung von Gegenständen "irgendwelcher Art" herzustellen. Diesen Ausführungen ist die belangte Behörde beigetreten und hat dem beigefügt, daß so ohne die Inanspruchnahme eines weiteren Baugrundes ein geschützter Raum zur Unterbringung von Gegenständen entstehe.

Damit haben die Behörden jedoch den Begriff der "zweckmäßigeren Bebauung" im Sinne des § 6 Abs. 9 Baugesetz verkannt: Nicht einmal eine aus betriebswirtschaftlichen Gründen beabsichtigte Erweiterung eines Betriebes rechtfertigt für sich allein genommen eine Ausnahme von den geltenden Abstandsvorschriften unter dem Titel einer zweckmäßigeren Bebauung, worauf der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 22. März 1990, Zl. 88/06/0124, hingewiesen hat. Im Beschwerdefall ist das Grundstück des Erstmitbeteiligten mit einem Haus in der Größe von etwa rund 100 m2 augenscheinlich zweckmäßig verbaut. Selbst wenn im Seitenabstand zur Grundgrenze der Beschwerdeführerin ein Flugdach überhaupt nicht errichtet werden dürfte, könnte deshalb noch nicht davon gesprochen werden, daß eine zweckmäßige Bebauung des Grundstückes insgesamt nicht möglich ist. Die Zweckmäßigkeit des Flugdaches oder - im besonderen - die Zweckmäßigkeit einer teilweisen Abmauerung dieses Flugdaches (mag sie auch vom Standpunkt des Erstmitbeteiligten sinnvoll sein), rechtfertigt bei dieser Sachlage nicht die Erteilung einer Ausnahmebewilligung im Sinne des § 6 Abs. 9 Baugesetz. § 6 Abs. 9 Baugesetz darf nämlich nicht so ausgelegt werden, daß zu Lasten eines Nachbarn jede beliebige größere Ausnutzung eines Bauplatzes zulässig wäre, obwohl ein für eine wirtschaftliche Bauführung erforderlicher, entsprechend langer und breiter Baukörper unter EINHALTUNG DER ABSTANDSVORSCHRIFTEN errichtet werden kann und hier ohnehin errichtet wurde (vgl. das Erkenntnis vom 19. April 1977, Zl. 618/76).

Da sich die diesbezüglichen Beschwerdeausführungen sohin als berechtigt erweisen, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die Bestimmungen der §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991.

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