VwGH 91/06/0162

VwGH91/06/016210.10.1991

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Draxler und die Hofräte Dr. Würth und Dr. Müller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Gritsch, über den Antrag der "H-OHG" in S, vertreten durch Dr. M, Rechtsanwalt in R, auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Mängelbehebung im Beschwerdeverfahren Zl. 91/06/0109, den Beschluß gefaßt:

Normen

ABGB §1324;
AVG §71 Abs1 lita;
VwGG §46 Abs1;
VwRallg;
ABGB §1324;
AVG §71 Abs1 lita;
VwGG §46 Abs1;
VwRallg;

 

Spruch:

Gemäß § 46 VwGG wird dem Antrag stattgegeben.

Begründung

In der zur hg. Zl. 91/06/0109 protokollierten Beschwerdesache wurde der Antragstellerin hinsichtlich ihrer vom Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG an den Verwaltungsgerichtshof abgetretenen Beschwerde mit Berichterverfügung vom 8. Juli 1991 die Ergänzung dieser Beschwerde in mehreren Punkten aufgetragen und hiefür eine Frist von sechs Wochen eingeräumt. Diese Verfügung wurde dem Vertreter der Antragstellerin am 18. Juli 1991 zugestellt, sodaß die gesetzte Frist am 29. August 1991 endete. Am 4. September 1991 langte beim Verwaltungsgerichtshof der am 2. September 1991 zur Post gegebene Mängelbehebungsschriftsatz ein.

Mit dem vorliegenden, am 5. September 1991 zur Post gegebenen Schriftsatz vom 2. September 1991 beantragt die Antragstellerin, ihr gemäß § 46 VwGG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der zur Beschwerdeergänzung gesetzten Frist zu bewilligen und bringt im wesentlichen folgendes vor:

Da der Vertreter der Antragstellerin in der Woche vom 26. bis 30. August 1991 einen seit langem geplanten Urlaub anzutreten beabsichtigte, habe er den Mängelbehebungsauftrag bereits am 15. August diktiert. Dieser sei am 19. August von der Sekretärin F. in der Kanzlei geschrieben und der Antragstellerin übermittelt worden. Nach Einlangen von deren zustimmender Rückäußerung sei am 23. August (dem Freitag vor dem Urlaubsantritt des Vertreters) die "Abfertigung, Unterfertigung und Ausstempelung dieses Schriftsatzes samt allen Beilagen" erfolgt. Aufgrund des außergewöhnlich regen Kanzleibetriebes habe der "bereits abgefertigte Schriftsatz" von F. nicht mehr - wie ausdrücklich aufgetragen - noch vor Kanzleischluß um 12.00 Uhr zur Post gegeben werden können. Wegen Urlaubes der zweiten Kanzleisekretärin sei F. noch zusätzlich belastet, wenn nicht überlastet gewesen. F. sei vom Vertreter der Antragstellerin daher angewiesen worden, den Inhalt der Postmappe am folgenden Montag zu kuvertieren und zur Post zu bringen. Der Vertreter habe die Postmappe an die "für die Postabfertigung vorgesehene Stelle" gegeben, dies sei "auf dem Stuhl neben dem Glastisch im Büro" (gemeint ist damit offenbar das Arbeitszimmer des Vertreters). Es sei noch nie vorgekommen, daß der Inhalt der (in dieser Weise) vorbereiteten Postmappe nicht zur Post gebracht und aufgegeben worden wäre. Die im Terminkalender ordnungsgemäß eingetragene Frist für die Mängelbehebung (29. August 1991) sei vom Vertreter der Antragstellerin nach Unterfertigung des "vollständig abgefertigten" Mängelbehebungsschriftsatzes (im Vertrauen auf die Zuverlässigkeit der Sekretärin) gestrichen worden. In der Folge "übersah bzw. vergaß" die Sekretärin F. und auch die am 26. August 1991 (dem darauffolgenden Montag) aus dem Urlaub zurückgekehrte Sekretärin die Postmappe. Auch der Konzipient des Rechtsvertreters der Antragstellerin habe von der gut sichtbar abgelegten Postmappe keine Notiz genommen, da die Postabfertigung generell durch die Kanzlei erfolgt sei. Das weisungswidrige Verhalten der Sekretärin sei für den Rechtsvertreter - im Hinblick auf die bisher einwandfreie Dienstleistung dieser Sekretärin - weder vorhersehbar noch abwendbar gewesen. Erst nach der Rückkehr aus seinem Urlaub am 31. August 1991 habe der Vertreter der Antragstellerin die vergessene Postmappe vorgefunden und die versäumte Prozeßhandlung bereits am Vormittag des 2. September 1991 durch Postaufgabe nachgeholt.

Der im Wiedereinsetzungsantrag behauptete Sachverhalt ist aufgrund der dem Antrag beigelegten eidesstättigen Erklärung der Sekretärin des Vertreters der Antragstellerin (F.) als bescheinigt anzusehen.

Gemäß § 46 Abs. 1 VwGG ist einer Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, daß sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich um einen minderen Grad des Versehens handelt.

"Unabwendbar" ist ein Ereignis dann, wenn sein Eintritt objektiv von einem Durchschnittsmenschen nicht verhindert werden kann; "unvorhergesehen" ist es hingegen, wenn die Partei es tatsächlich nicht miteinberechnet hat und seinen Eintritt auch unter Bedachtnahme auf zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwarten konnte (vgl. den Beschluß eines verstärkten Senates des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. März 1976, Slg. Nr. 9024/A), wobei ein der Partei hiebei unterlaufenes Versehen minderen Grades nach dem zweiten Satz des § 46 Abs. 1 VwGG nicht schadet. Ein minderer Grad des Versehens liegt dann vor, wenn der Wiedereinsetzungswerber oder sein Vertreter nicht auffallend sorglos gehandelt, somit nicht die im Verkehr mit Gerichten und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen hat (vgl. den Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. Oktober 1989, Zl. 89/08/0235, uva).

Im Gegenstandsfall wurde der Mängelbehebungsschriftsatz deshalb verspätet zur Post gegeben, weil die Sekretärin des Vertreters der Antragstellerin, der der fertige Schriftsatz eine Woche vor Ablauf der Frist mit der Weisung zur Postabfertigung übergeben wurde, diesen weisungswidrig "vergessen" und daher nicht zur Post gebracht hat.

Im Beschluß eines verstärkten Senates vom 19. Jänner 1977, Slg. Nr. 9226/A, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, daß das Versehen einer Kanzleibediensteten für den Rechtsanwalt (und damit für die von ihm vertretene Partei) nur dann ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis darstellt, wenn der Rechtsanwalt der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber seiner Angestellten hinreichend nachgekommen ist, sowie überhaupt die Organisation des Kanzleibetriebes eines Rechtsanwaltes so einzurichten ist, daß u.a. auch die vollständige und fristgerechte Erfüllung von Mängelbehebungsaufträgen gesichert scheint. Die anwaltliche Sorgfaltspflicht umfaßt in einem solchen Fall auch die geeignete Überwachung des Fertigmachens der Postsendung zur Abgabe, und die Überprüfung der Vollständigkeit der an den Verwaltungsgerichtshof in Befolgung des Verbesserungsauftrages übermittelten Aktenstücke (vgl. die hg. Beschlüsse vom 22. September 1983, Zl. 83/08/0108, vom 22. März 1991, Zl. 90/10/0122, uva.).

Der Parteienvertreter, der den Mängelbehebungsschriftsatz auf Vollständigkeit aller Beilagen kontrolliert, unterfertigt und zur Abfertigung der Sekretärin übergeben hat, verletzt aber seine anwaltliche Sorgfaltspflicht nicht etwa dadurch, daß er die sonst verläßliche, langjährige Kanzleikraft bei der Kuvertierung (vgl. dazu den Beschluß vom 27. Jänner 1983, Zl. 82/08/0205, und vom 22. März 1991, Zl. 90/10/0122) oder bei der Postaufgabe (vgl. den hg. Beschluß vom 22.Oktober 1990, Zl. 90/12/0238 mwH) nicht persönlich überwacht. Es kann nämlich nicht als eine - unter dem Gesichtspunkt einer rationellen und arbeitsteiligen, die Besorgung abgegrenzter Aufgabenbereiche delegierenden Betriebsführung - als zweckmäßige und zumutbare Kontrollmaßnahme angesehen werden, wenn sich der Rechtsanwalt nach der Übergabe der Poststücke an die damit beauftragte Mitarbeiterin in jedem Fall noch von der tatsächlichen Durchführung der Expedierung der Sendung zu überzeugen hätte (vgl. neuerlich den bereits erwähnten Beschluß vom 22. März 1991, Zl. 90/10/0122 unter Hinweis auf den Beschluß vom 27. Jänner 1983, Zl. 82/08/0205). Solche, rein technische Vorgänge kann der Rechtsanwalt daher ohne nähere Beaufsichtigung einer verläßlichen Kanzleikraft überlassen (vgl. unter anderem die hg. Beschlüsse vom 20. Juni 1990, Zl. 90/13/0136, vom gleichen Tag, Zl. 90/16/0042, vom 26. Juli 1990, Zl. 90/16/0143, vom 19. September 1990, Zl. 89/03/0213, sowie die bei PICHLER, AnwBl 1990, 178 ff, insbesondere 180, zitierte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall kann die Frage, ob die Sekretärin des Vertreters der Antragstellerin (die unmittelbar nach ihrer Schulausbildung vor noch nicht ganz zwei Jahren in dessen Kanzlei eingetreten ist) schon als langjährige und verläßliche Kanzleikraft, der auch die selbständige Postabfertigung anvertraut werden durfte, angesehen werden kann, auf sich beruhen, weil ihr überdies eine ausdrückliche Weisung zur Aufgabe des Poststückes erteilt wurde und der Vertreter der Antragstellerin im Hinblick auf das bisherige dienstliche Verhalten dieser Mitarbeiterin mit der Befolgung dieser Weisung rechnen durfte, ohne daß daraus ein Verschulden des Vertreters abgeleitet werden könnte (vgl. die hg. Beschlüsse vom 29. Jänner 1991, Zl. 91/07/0001, und vom 22. März 1991, Zl. 91/10/0013 mit weiteren Hinweisen, sowie PICHLER, aaO, bei FN 37).

Als Sachverhaltselemente, die ein allfälliges Verschulden des Vertreters der Antragstellerin indizieren könnten, kommen zwei Umstände in Betracht, nämlich die vom Vertreter noch vor der tatsächlichen Postaufgabe verfügte Streichung des - zunächst ordnungsgemäß eingetragenen - Terminvormerkes und der Umstand, daß er die Mappe mit dem Schriftsatz nicht der Sekretärin von Hand zu Hand übergeben, sondern auf einem Stuhl in seinem Arbeitszimmer zurückgelassen hat, wo sie während seiner darauffolgenden Abwesenheit vergessen wurde.

Das Streichen des Terminvormerkes durch den Rechtsvertreter VOR der (eigentlichen) POSTABFERTIGUNG, aber NACH ÜBERGABE AN DIE SEKRETÄRIN zu diesem Zweck stellt kein Verschulden dar:

Dies widerspräche nämlich einerseits der in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes, daß der Vertreter ohne weitere Kontrolle auf das tatsächliche Erfolgen der Postaufgabe vertrauen darf, andererseits würde die Streichung des Terminvormerkes erst NACH der durchgeführten Postaufgabe in der Regel erst am nächsten Tag möglich sein; dadurch würde aber

Die Zurücklassung bereits kontrollierter, unterfertigter und fristgebundener Post im Arbeitszimmer des Vertreters der Antragstellerin stellt gegenüber der tatsächlichen Übergabe in die körperliche Gewahrsame der Sekretärin - wie der Anlaßfall zeigt - ein höheres Gefahrenrisiko dar; dies insbesondere dann, wenn - wie hier - der Vertreter unmittelbar anschließend für die restliche Dauer des Fristenlaufes Urlaub macht und daher mit einer Benützung dieses Raumes während dieser Zeit (und der Möglichkeit der rechtzeitigen Auffindung einer allenfalls "vergessenen" Postmappe) nicht gerechnet werden kann. Wenn jedoch - wie hier - die regelmäßige Abholung der Post von dieser Stelle zum Aufgabenbereich der Sekretärin und insoweit zur "Kanzleiroutine" gehört und diese Vorgangsweise bisher

Dem rechtzeitig gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Behebung von der Beschwerde anhaftenden Mängeln war daher stattzugeben.

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