VwGH 88/02/0185

VwGH88/02/018528.6.1989

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Seiler und die Hofräte Dr. Dorner, Dr. Stoll, Dr. Bernard und Dr. Sittenthaler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Wildmann, über die Beschwerde der G B in W, vertreten durch Dr. Manfred Schwindl, Rechtsanwalt in Wien I, Kohlmarkt 5, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 30. August 1988, ausgefertigt am 8. September 1988, Zl. MA 46-A/BH- 103/87/Ple/San, betreffend Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b Abs. 4 StVO 1960, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37;
AVG §45 Abs2;
AVG §60;
StVO 1960 §29b Abs1;
StVO 1960 §29b Abs2;
StVO 1960 §29b Abs4;
AVG §37;
AVG §45 Abs2;
AVG §60;
StVO 1960 §29b Abs1;
StVO 1960 §29b Abs2;
StVO 1960 §29b Abs4;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 10.530,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Mehrbegehren hinsichtlich der Stempelgebühren wird abgewiesen.

Begründung

Mit Bescheid der Wiener Landesregierung vom 30. August 1988 wurde das Ansuchen der Beschwerdeführerin um Ausstellung eines Ausweises für dauernd stark gehbehinderte Personen gemäß § 29b Abs. 4 StVO 1960 im wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, daß bei der Beschwerdeführerin nach dem Gutachten des Amtsarztes und seinen ergänzenden Stellungnahmen eine starke Gehbehinderung fehle. Die Beschwerdeführerin sei in der Lage, auch längere Wegstrecken zurückzulegen, und es sei die Erbringung dieser Gehleistung bei Verwendung eines Stockes schmerzfrei oder nur mit geringen Schmerzen möglich. Die von der Beschwerdeführerin aufgestellte Behauptung, sie könnte Entfernungen von lediglich 200 m bewältigen, sei durch den Erstbefund des "Gesundheitsamtes" und durch die Stellungnahmen des Amtssachverständigen ausreichend entkräftet.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Gemäß § 29b Abs. 1 und 2 StVO 1960 dürfen dauernd stark gehbehinderte Personen an näher umschriebenen Straßenstellen unter näher umschriebenen Umständen halten oder parken, obwohl dort ein Halte- oder Parkverbot besteht. Gemäß § 29b Abs. 4 StVO 1960 hat die Behörde Personen, die dauernd stark gehbehindert sind, auf deren Ansuchen einen Ausweis über diesen Umstand auszufolgen.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 22. Februar 1989, Zl. 88/02/0207, unter Bezugnahme auf Vorjudikatur ausgesprochen hat, haben Anspruch auf Ausstellung eines Ausweises im Sinne des § 29b Abs. 4 StVO 1960 Personen, denen es aus Gründen ihrer Gehbehinderung unmöglich oder unzumutbar ist, eine Strecke zu Fuß zurückzulegen, wie sie der gewöhnlichen Entfernung von einem (erlaubten) Abstellplatz für das Kraftfahrzeug bis zu einem unter gewöhnlichen Bedingungen erreichbaren Ziel, wie etwa Eingängen zu Wohn- und Bürogebäuden oder zu öffentlichen Gebäuden, wie Amtsgebäuden, Kirchen oder Veranstaltungsstätten, entspricht. Dabei ist - gleichgültig wo die betreffende Person ihren Wohnsitz hat - auf Verhältnisse abzustellen, unter denen nicht damit gerechnet werden kann, in nächster Nähe der genannten Ziele einen (erlaubten) Abstellplatz für das Kraftfahrzeug zu finden, also etwa auf städtische Straßenverkehrsverhältnisse. Ein Antragsteller wird daher u. a. dann als stark gehbehindert im Sinne des Gesetzes anzusehen sein, wenn er solche Strecken entweder überhaupt nicht oder nur auf eine Weise zurücklegen kann, die das Sich-Fortbewegen nicht mehr als "Gehen" qualifizieren läßt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob dieses Fortbewegen nur unter Aufwendung überdurchschnittlicher Kraftanstrengung oder unter großen Schmerzen möglich ist.

Die belangte Behörde hat ihre diesbezüglichen Feststellungen auf das Gutachten eines Amtssachverständigen für Orthopädie vom 10. Juli 1987 sowie dessen drei Ergänzungsgutachten vom 4. September 1987, 20. November 1987 und vom 26. Februar 1988 gestützt. Im erstgenannten Gutachten wird die Beschwerdeführerin als leicht gehbehindert, in den Ergänzungen als dauernd gehbehindert, aber trotz des Vorliegens einer Multiplen Sklerose nicht als ständig stark gehbehindert beurteilt. In seinem Ergänzungsgutachten vom 4. September 1987 kommt der Amtssachverständige zum Ergebnis, es könne durchaus gegeben sein, daß die Beschwerdeführerin während der durch die Multiple Sklerose bedingten schubweisen Verschlechterung 300 m nicht ohne größte körperliche Anstrengung zurücklegen könne; im Intervall komme es wieder zu Verbesserungen, sodaß jedenfalls nicht der Begriff des Dauerzustandes einer starken Gehbehinderung zutreffend sei. Auf die in der Stellungnahme zu diesem Ergänzungsgutachten aufgestellte Behauptung der Beschwerdeführerin, ihre Erkrankung habe einen chronisch progredienten Verlauf genommen, geht die Stellungnahme des Amtsarztes vom 20. November 1987 insofern ein, als darin ausgeführt wird, der vorgelegte Befund der Neurologischen Universitätsklinik bestätige lediglich, daß derzeit kein Hinweis auf einen neuerlichen Schub bestehe, Hinweise auf eine dauernde starke Gehbehinderung ließen sich auch aus diesem Befund nicht ableiten. In seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 26. Februar 1988 führte der Sachverständige u.a. aus, es ergebe sich kein Hinweis, daß die Beschwerdeführerin nicht imstande sei, Gehstrecken von mehr als 300 m unter Zuhilfenahme eines Gehstockes zurückzulegen.

Demgegenüber geht bereits aus dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Befund des Vorstandes der Neurologischen Universitätsklinik vom 14. April 1987 hervor, daß die bei ihr seit 1978 bestehende Krankheit vorerst einen schubhaften, schließlich einen chronisch progredienten Verlauf genommen habe. Nach Aussage des weiters von der Beschwerdeführerin vorgelegten Befundes eines Arztes eines Krankenhauses der Stadt Wien vom 27. Jänner 1988 sei bei ihr seit 1978 kein schubweiser, sondern ein fortschreitender Krankheitsprozeß gegeben; es bestehe derzeit eine erhebliche Behinderung, insbesondere beim Gehen, wie auch bei längerem Stehen; eine Besserung sei nicht zu erwarten.

Mit dem ausschließlichen Abstellen auf die vom Amtssachverständigen eingeholten Gutachten hat die belangte Behörde die die wesentlichen Schlüsse dieser Gutachten bestreitenden Privatbefunde der Beschwerdeführerin ignoriert. Es hätte einer nachvollziehbaren Begründung bedurft, weshalb sie sich in der Frage eines schubweisen Verlaufes der Krankheit und damit hinsichtlich des Schlusses auf das Fehlen einer ständigen starken Gehbehinderung der Meinung des Amtssachverständigen und nicht der gegenteiligen, aus den von der Beschwerdeführerin vorgelegten Befunden ersichtlichen Auffassung anschloß, wonach kein schubweiser, sondern ein fortschreitender Krankheitsverlauf und damit offenbar keine intervallmäßige Veränderung ihrer Gehbehinderung vorliege. Im Hinblick darauf durfte sich die belangte Behörde nicht mit der Begründung begnügen, die Gutachten des Amtssachverständigen seien schlüssig, da aus diesen eine Aufklärung der aufgezeigten Widersprüchlichkeiten nicht ersichtlich ist. Dazu kommt, daß jener Befund vom 27. Jänner 1988 in größerer zeitlicher Nahebeziehung zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides steht als die am 10. Juli 1987 erfolgte Untersuchung der Beschwerdeführerin durch den Amtsarzt. Ohne neuerliche Untersuchung durch den Amtsarzt unter entsprechender Berücksichtigung der im Akt erliegenden "Privatbefunde", ist eine Klärung der Frage, ob bei der Beschwerdeführerin eine dauernde starke Gehbehinderung im Sinne des § 29b Abs. 4 StVO 1960 vorliegt, nicht möglich. Im übrigen liegt es für den Gerichtshof nicht auf der Hand, daß bei der hier in Rede stehenden Krankheit die Beiziehung eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Neurologie nicht erforderlich ist. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß die belangte Behörde im Falle ergänzender Ermittlungen im oben aufgezeigten Sinn zu einem für die Beschwerdeführerin günstigeren Bescheid gekommen wäre.

Der angefochtene Bescheid leidet daher insofern an einem wesentlichen Verfahrensmangel und war wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 206/1989. Das Mehrbegehren an Stempelgebühren von S 30,-- war abzuweisen, weil die Vorlage des im Akt erliegenden Befundes über die Untersuchung vom 10. Juli 1987 nicht erforderlich war.

Wien, am 28. Juni 1989

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