B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall
Spruch:
I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
II. Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Sachverhalt und Beschwerdevorbringen
1. Der Beschwerdeführer, damals serbischer Staatsangehöriger, stellte am 15. November 2005 den Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Da die Voraussetzungen des §10 Abs1 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (im Folgenden: StbG) erfüllt waren, wurde dem nunmehrigen Beschwerdeführer mit Bescheid vom 19. März 2007, rechtskräftig seit 30. April 2007, die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall zugesichert, dass er binnen zwei Jahren den Nachweis über das Ausscheiden aus dem serbischen Staatsverband erbringe.
Am 29. Juni 2009 habe der Beschwerdeführer den Bescheid über die Entlassung aus dem serbischen Staatsverband vom 28. November 2007 unaufgefordert vorgelegt. Im daraufhin fortgesetzten Ermittlungsverfahren sei hervorgekommen, dass der Beschwerdeführer wegen einer Vorsatztat rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sei.
2. Mit Bescheid vom 7. Juni 2011 widerrief die Wiener Landesregierung den Zusicherungsbescheid vom 19. März 2007 gemäß §20 Abs2 StbG idF BGBl. I 37/2006 (Spruchpunkt I) und wies den Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft vom 15. November 2005 gemäß §10 Abs1 Z2 StbG in der am 30. April 2007 geltenden Fassung ab (Spruchpunkt II).
Begründend führt die belangte Behörde aus, dass Verfahren auf Grund eines vor dem Inkrafttreten des Gesetzes BGBl. I 122/2009 erlassenen Zusicherungsbescheides nach §20 Abs1 StbG gemäß §64a Abs9 StbG nach den Bestimmungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes in der am 31. Dezember 2009 gültigen Fassung zu Ende zu führen seien. Gemäß §10 Abs1 Z2 StbG dürfe einem Fremden die Staatsbürgerschaft nur dann verliehen werden, wenn er u.a. nicht von einem inländischen Gericht wegen einer oder mehrerer Vorsatztaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Die Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft sei gemäß §20 Abs2 StbG zu widerrufen, wenn der Fremde auch nur eine der für die Verleihung erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr erfülle.
3. In der gegen beide Spruchpunkte dieses Bescheides erhobenen Beschwerde wird die Verletzung im Recht auf Verleihung der bereits zugesicherten österreichischen Staatsbürgerschaft durch Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes gerügt. §10 Abs1 Z2 und §20 Abs2 StbG seien verfassungswidrig, weil sie nur an das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung auf Grund einer Vorsatztat anknüpften, ohne eine Berücksichtigung der individuellen Tatumstände, des Vollzugs und des späteren Verhaltens zu ermöglichen.
II. Erwägungen
1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die -
zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 29. September 2011, G154/10, §20 Abs2 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985, BGBl. 311, idF BGBl. I 37/2006 als verfassungswidrig aufgehoben.
Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Erkenntnis in Rz 17 (Punkt II.2.) festgehalten, dass §20 Abs2 StbG seit der Novelle BGBl. I 124/1998 unverändert in Geltung stehe, aber durch BGBl. I 37/2006 eine maßgebliche Änderung seines Inhaltes erfahren habe, die die Bedenken des Gerichtshofes erst hervorgerufen habe. Dieser §20 Abs2 StbG ist auch auf den vorliegenden Fall anzuwenden, auch wenn sich die Novelle BGBl. I 37/2006 nur auf den Entfall der berücksichtigungswürdigen Notlage bezog.
1.2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des dem Bescheid zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.
Dem in Art140 Abs7 B-VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg. 10.616/1985, 11.711/1988).
Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am 29. September 2011. Der am 19. August 2011 eingelangte Verfahrenshilfeantrag des Beschwerdeführers war damals bereits beim Verfassungsgerichtshof eingelangt. Die in der Folge (durch einen Rechtsanwalt) eingebrachte Beschwerde gilt den §§73 Abs2 und 464 Abs3 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG zufolge als zum Zeitpunkt der Einbringung des Verfahrenshilfeantrages, somit als noch vor Beginn der nichtöffentlichen Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren erhoben und damit beim Verfassungsgerichtshof anhängig (VfSlg. 11.748/1988). Nach dem Gesagten ist der Fall daher einem Anlassfall gleichzuhalten.
Die belangte Behörde wendete bei Erlassung des ersten Spruchpunktes des angefochtenen Bescheides die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers insgesamt nachteilig war. Der Beschwerdeführer wurde somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt.
Der Bescheid ist daher wegen des Zusammenhangs der beiden Spruchpunkte im vollen Umfang aufzuheben.
2. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß §19 Abs4 Z3 VfGG abgesehen.
3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- enthalten.
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