VfGH B1239/10

VfGHB1239/104.3.2011

B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall
B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall

 

Spruch:

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.620,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen, amtswegiges Gesetzesprüfungsverfahren

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei. Er stellte nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 7. September 2001 einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28. November 2001 abgewiesen wurde. Die dagegen eingebrachte Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 23. April 2002 abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof lehnte mit Beschluss vom 26. November 2003 die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde ab.

Am 19. Februar 2004 stellte der Beschwerdeführer einen zweiten Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 20. Juni 2006 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurde. Das dagegen eingebrachte Rechtsmittel wurde mit Entscheidung des Asylgerichtshofes vom 1. August 2008 abgewiesen. Der Verfassungsgerichtshof lehnte mit Beschluss vom 6. November 2008 die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde ab.

Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Landeck vom 21. Jänner 2009 wurde über den Beschwerdeführer die Schubhaft verhängt, nachdem sämtliche ordentliche und außerordentliche Rechtsmittel gegen die Ausweisungsentscheidung erfolglos geblieben waren.

Während der Schubhaft stellte der Beschwerdeführer am 26. Jänner 2009 einen (dritten) Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 6. März 2009 zurückgewiesen wurde. Der Asylgerichtshof wies mit Entscheidung vom 9. April 2009 die dagegen erhobene Beschwerde ab.

1.2. Ebenfalls während der Schubhaft beantragte der Beschwerdeführer am 17. April 2009 gestützt auf §44 Abs4 NAG bei der Bezirkshauptmannschaft Landeck die Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt".

Am 7. Mai 2009 wurde der Beschwerdeführer aus Österreich in die Türkei abgeschoben.

Da über den Antrag auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung nicht innerhalb von sechs Monaten entschieden worden war, stellte der Beschwerdeführer am 21. Mai 2010 einen auf §73 AVG gestützten Devolutionsantrag, der mit Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 6. Juli 2010 mit der Begründung:

abgewiesen wurde, es liege kein überwiegendes Verschulden (in der Sache: keine Säumnis) der Behörde erster Instanz vor, weil das auf §44 Abs4 NAG gestützte erstinstanzliche Verfahren gemäß §44 Abs5 letzter Satz NAG als eingestellt gelte, wenn der Antragsteller das Bundesgebiet verlassen habe. Eine "bescheidmäßige Erledigung" sei daher nicht erforderlich.

2. Dagegen richtet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und Gewährleistung faktisch effizienten Rechtsschutzes sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung des als verfassungswidrig erachteten §44 Abs5 letzter Satz NAG sowie der Wortfolge "Im Bundesgebiet aufhältigen" in §44 Abs4 erster Satz NAG behauptet wird.

3. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von §44 Abs5 letzter Satz des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Vsterreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 122/2009, ein. Mit Erkenntnis vom 28. Februar 2011, G201/10-9, hob er diese Bestimmung als verfassungswidrig auf.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde ist begründet.

Die belangte Behörde hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war.

2. Der Beschwerdeführer wurde also durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt (ständige Rechtsprechung beginnend mit VfSlg. 10.404/1985).

Der Bescheid war daher aufzuheben.

3. Dies konnte gemäß §19 Abs4 Z3 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.

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