VfGH B698/05

VfGHB698/0521.6.2007

Verletzung im Gleichheitsrecht durch die Erteilung einer Baubewilligung für ein Wohnhaus ohne Prüfung der Einwendungen der benachbarten Betreiberin einer Eisenbahntrasse hinsichtlich der Verpflichtung zu Lärmschutzmaßnahmen; Widmung Bauland-Wohngebiet im Tiroler Raumordnungsgesetz mit Immissionsschutz in Hinblick auf die heranrückende Wohnbebauung verbunden

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
AVG §59 Abs1
Tir BauO 2001 §25 Abs3, Abs4, §26 Abs4, Abs7
Tir RaumOG 2001 §37 Abs3, §38 Abs1
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
AVG §59 Abs1
Tir BauO 2001 §25 Abs3, Abs4, §26 Abs4, Abs7
Tir RaumOG 2001 §37 Abs3, §38 Abs1

 

Spruch:

Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Tirol ist schuldig, der beschwerdeführenden Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 1.980,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Bürgermeister der Gemeinde Assling erteilte dem Bauwerber K. T. mit Bescheid vom 27. August 2004 die baubehördliche Bewilligung zum Abbruch und Neubau eines Wohnhauses mit 4 Wohneinheiten auf dem Grundstück Nr. 627/15. Die Rechtsvorgängerin der beschwerdeführenden Gesellschaft forderte als Nachbar in der Bauverhandlung insbesondere, den Bauwerber zu Lärmschutzmaßnahmen gegenüber der von ihr betriebenen Eisenbahntrasse zu verpflichten. Gegen den Bescheid erhob sie mit Hinweis auf die Judikatur des Verfassungsgerichtshofs zur heranrückenden Wohnbebauung Berufung - gestützt auf §25 Abs3 TBO (Immissionsschutz), welche der Gemeindevorstand mit Bescheid vom 2. November 2004 abwies. Der Immissionsschutz betreffe ausschließlich Maßnahmen am Bauplatz, derartige unzulässige Immissionen seien im Verfahren jedoch nicht festgestellt worden. Da keine Verletzung raumordnungsrechtlicher Vorschriften gegeben sei, sei die Berufung als unbegründet abzuweisen gewesen; für den Vollzug eisenbahnrechtlicher Vorschriften sei die Baubehörde nicht zuständig.

Die gegen diesen Bescheid erhobene Vorstellung wies die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid ab. Zwischen dem Baugrundstück und jenem der beschwerdeführenden Gesellschaft mit der Eisenbahntrasse würden zwei weitere Grundstücke liegen; die für die Anrainereigenschaft notwendige 15 m-Entfernung werde gerade noch eingehalten. Hinsichtlich der Errichtung von Wohngebäuden in Wohngebieten bestehe nach den raumordnungsrechtlichen Bestimmungen (§38 TROG 2001) kein Immissionsschutz. Das Grundstück der beschwerdeführenden Gesellschaft gelte gemäß §41 Abs1 TROG 2001 als Freiland. Zusammengefasst sei davon auszugehen, dass die Vorstellungswerberin im Zusammenhang mit dem Zubau an einem bestehenden Wohngebäude im Wohngebiet keine Parteistellung hinsichtlich der Festlegungen des Flächenwidmungsplanes besitze. Die Wahrung von Schutzabständen zwischen Eisenbahnanlagen und anderen baulichen Objekten falle in den Kompetenzbereich der Eisenbahnbehörden und habe im Zuge der Durchführung eines baurechtlichen Verfahrens vor den Baubehörden außer Betracht zu bleiben.

2. Die dagegen gerichtete, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde behauptet die Verletzung im Gleichheits- und Eigentumsrecht sowie die Gesetzwidrigkeit der Wohngebietswidmung. Die Behörde hätte sich mit den Einwendungen inhaltlich auseinandersetzen und Auflagen vorschreiben müssen. Die stark frequentierte Bahnlinie rufe trotz umfangreicher Schutzmaßnahmen die mit einem solchen Betrieb verbundenen Geräusche und Erschütterungen hervor. Im Falle der unzulässigen Errichtung des Wohngebäudes sei mit öffentlichrechtlichen oder privatrechtlichen (insbesondere nach §§364 ff ABGB) Ansprüchen auf Ersatzleistung und/oder Unterlassung von Immissionen zu rechnen. Die Widmung als Wohngebiet sei aufgrund der Emissionssituation gesetzwidrig.

3. Die belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.

4. Die Gemeinde Assling erstattete eine Äußerung.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die zulässige Beschwerde erwogen:

1. Zur maßgeblichen Rechtslage:

§38 Abs1 TROG 2001, LGBl. 93 lautete (mit LGBl. 27/2006 erfolgte eine Wiederverlautbarung, der Wortlaut blieb unverändert):

"§38

Wohngebiet

(1) Im Wohngebiet dürfen errichtet werden:

a) Wohngebäude;

b) Gebäude, die der Unterbringung von nach §12 Abs1 litb zulässigen Ferienwohnungen oder der Privatzimmervermietung dienen;

c) Gebäude, die neben Wohnzwecken im untergeordneten Ausmaß auch der Unterbringung von Büros, Kanzleien, Ordinationen und dergleichen dienen;

d) Gebäude für Betriebe und Einrichtungen, die der täglichen Versorgung oder der Befriedigung der sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung des betreffenden Gebietes dienen und die unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten die Wohnqualität im betreffenden Gebiet, insbesondere durch Lärm, Geruch, Luftverunreinigungen oder Erschütterungen, und dessen Charakter als Wohngebiet nicht wesentlich beeinträchtigen."

§25 Abs1 bis 4 Tiroler Bauordnung 2001, LGBl. 94 lautet:

"§25

Parteien

(1) Parteien im Bauverfahren sind der Bauwerber und die Nachbarn.

(2) Nachbarn sind die Eigentümer der Grundstücke, die unmittelbar an den Bauplatz angrenzen oder deren Grenzen zumindest in einem Punkt innerhalb eines Abstandes von 15 m zu einem Punkt der Bauplatzgrenze liegen. Nachbarn sind weiters jene Personen, denen an einem solchen Grundstück ein Baurecht zukommt.

(3) Nachbarn, deren Grundstücke unmittelbar an den Bauplatz angrenzen oder deren Grenzen zumindest in einem Punkt innerhalb eines Abstandes von 5 m zu einem Punkt der Bauplatzgrenze liegen, sind berechtigt, die Nichteinhaltung folgender bau- und raumordnungsrechtlicher Vorschriften geltend zu machen, soweit diese auch ihrem Schutz dienen:

a) der Festlegungen des Flächenwidmungsplanes, soweit damit ein Immissionsschutz verbunden ist;

b) der Bestimmungen über den Brandschutz;

c) der Festlegungen des Bebauungsplanes hinsichtlich der Baufluchtlinien, der Baugrenzlinien, der Bauweise und der Bauhöhe;

d) der Abstandsbestimmungen des §6;

...

(4) Die übrigen Nachbarn sind berechtigt, die Nichteinhaltung der im Abs3 lita und b genannten Vorschriften geltend zu machen, soweit diese auch ihrem Schutz dienen."

2. Wie sich aus dem angefochtenen Bescheid ergibt, hat die Baubehörde erster Instanz die beantragte Baubewilligung erteilt, jedoch über die Einwendungen der beschwerdeführenden Gesellschaft nicht ausdrücklich abgesprochen. Die Einwendungen gelten daher gemäß §59 Abs1 AVG als miterledigt. In der Berufung gegen den Bescheid des Bürgermeisters machte die beschwerdeführende Gesellschaft geltend, dass der Immissionsschutz im Sinne des §25 Abs3 lita TBO 2001 nicht nur das Bauvorhaben betreffe, dessen Bewilligung beantragt werde, sondern auch dann bestehe, wenn eine Immissionsquelle bereits vorhanden sei und diese erst durch die Errichtung eines Wohnhauses ihre beeinträchtigende Wirkung entfalten könne. Dem entgegnete der Berufungsbescheid, dass das Verhältnis zwischen einzelnen Widmungskategorien im Rahmen der Flächenwidmung zu beachten sei, nicht jedoch im Bauverfahren. Dazu komme, dass das Grundstück der beschwerdeführenden Gesellschaft als Bahnfläche keine eigene Widmungskategorie aufweise. Der Immissionsschutz betreffe ausschließlich Maßnahmen am Bauplatz; derartige unzulässige Immissionen seien im Verfahren jedoch nicht festgestellt worden. Im angefochtenen Bescheid führte die belangte Behörde aus, dass hinsichtlich der Errichtung von Wohngebäuden in Wohngebieten kein Immissionsschutz in den raumordnungsrechtlichen Bestimmungen bestehe; die im §38 TROG 2001 enthaltenen Immissionsregelungen beträfen lediglich andere Arten von Gebäuden. Es sei daher davon auszugehen, dass im Zusammenhang mit der Errichtung eines Wohngebäudes im Wohngebiet in den raumordnungsrechtlichen Vorschriften ein Immissionsschutz nicht besteht, weshalb diesbezüglich seitens der Nachbarn die Festlegungen des Flächenwidmungsplanes auch nicht im Rahmen ihrer Parteirechte geltend gemacht werden können. Der Vollständigkeit halber werde darauf hingewiesen, dass das Grundstück der beschwerdeführenden Gesellschaft gemäß §41 Abs1 TROG 2001 als Freiland einzustufen sei; auch hinsichtlich des Freilandes sei ein Immissionsschutz im TROG 2001 nicht enthalten.

3. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).

§1 Abs2 TROG 2001 bestimmt als ein Ziel der örtlichen Raumordnung die Erhaltung und Weiterentwicklung der Siedlungsgebiete zur Befriedigung des Wohnbedarfs der Bevölkerung, wobei von nachteiligen Umwelteinflüssen möglichst gering beeinträchtigte Lebensbedingungen anzustreben sind. Gemäß §37 Abs1 litb TROG 2001 sind von der Widmung als Bauland insbesondere Grundflächen ausgeschlossen, soweit sie auf Grund von Immissionsbelastungen für eine widmungsgemäße Bebauung nicht geeignet sind.

Gemäß §37 Abs3 TROG 2001 ist bei der Abgrenzung der verschiedenen Baugebiete darauf Bedacht zu nehmen, dass gegenseitige Beeinträchtigungen, insbesondere durch Lärm, Luftverunreinigungen oder Erschütterungen so weit wie möglich vermieden werden. Diese Bestimmung verpflichtet den Raumordnungsverordnungsgeber, bei der Widmung von Bauland auf die bereits bestehende Immissionslage Bedacht zu nehmen. Aus der Lage einer bestehenden Eisenbahntrasse wird sich daher in der Regel die Verpflichtung ergeben, Bauland nur in einem entsprechenden Abstand von der Eisenbahntrasse zu widmen, um die Baulandgrundstücke vor Immissionen zu schützen. Daher ist auch mit der Widmung Bauland-Wohngebiet gemäß §38 TROG 2001 ein Immissionsschutz im Sinne des §25 Abs3 lita TBO 2001 verbunden. Daher war die beschwerdeführende Gesellschaft gemäß §25 Abs4 iVm Abs3 lita TBO 2001 im baubehördlichen Verfahren berechtigt, die Nichteinhaltung der Festlegungen des Flächenwidmungsplanes oder eine allfällige Gesetzwidrigkeit der Baulandwidmung geltend zu machen.

Die Baubehörde ist zwar an den geltenden Flächenwidmungsplan gebunden. Gemäß §26 Abs4 TBO 2001 hat sie jedoch das Bauansuchen abzuweisen, wenn das Bauvorhaben raumordnungsrechtlichen Vorschriften widerspricht. Gemäß §26 Abs7 TBO 2001 ist die Baubewilligung mit Auflagen oder unter Bedingungen zu erteilen, soweit dies zur Wahrung der nach den baurechtlichen oder raumordnungsrechtlichen Vorschriften geschützten Interessen erforderlich ist und das Bauvorhaben dadurch in seinem Wesen nicht beeinträchtigt wird.

Im vorliegenden Fall hätte daher die Baubehörde auf Grund der Einwendungen der beschwerdeführenden Gesellschaft prüfen müssen, ob für den beabsichtigten Zubau zB lärmschutzdämmende Baumaßnahmen erforderlich sind, um den nach den raumordnungsrechtlichen Vorschriften geschützten Interessen an einer Vermeidung unzulässiger Immissionen Rechnung zu tragen.

Indem die belangte Behörde die Rechtslage gehäuft verkannt hat, hat sie objektiv Willkür geübt. Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 180,- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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