VfGH B844/05

VfGHB844/0515.10.2005

Abweisung von Beschwerden gegen die Versagung der Rückerstattung zu Ungebühr entrichteter Beiträge - Zuschläge zum Arbeitgeberanteil des Arbeitslosenversicherungsbeitrags nach dem IESG; keine Anlassfallwirkung für zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung im Normenprüfungsverfahren anhängig gewesene Beschwerden bei Antragstellung im Verwaltungsverfahren nach Bekanntmachung des Prüfungsbeschlusses; aufgehobene Bestimmungen des IESG bzw der Verordnungen über die Zuschläge zum Arbeitslosenversicherungsbeitrag in diesen Fällen weiterhin anzuwenden

Normen

B-VG Art139 Abs6 zweiter Satz
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
B-VG Art144 Abs1 / Anlaßfall
IESG §12 Abs6, Abs7 idF BudgetbegleitG 2000, BGBl I 26/2000, und 2001, BGBl I 142/2000
B-VG Art139 Abs6 zweiter Satz
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
B-VG Art144 Abs1 / Anlaßfall
IESG §12 Abs6, Abs7 idF BudgetbegleitG 2000, BGBl I 26/2000, und 2001, BGBl I 142/2000

 

Spruch:

Die beschwerdeführende Gebietskrankenkasse ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung rechtswidriger genereller Normen in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen und dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Die am 5. August 2005 beim Verfassungsgerichtshof eingegangene Beschwerde wendet sich gegen einen Bescheid des Landeshauptmannes von Oberösterreich vom 12. Juli 2005, der einen Bescheid der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse (als beitragseinhebende Behörde) vom 6. Juli 2005 bestätigt, womit der am selben Tag gestellte Antrag der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse (als Arbeitgeber) auf Rückerstattung zu Ungebühr entrichteter Beiträge - Zuschläge zum Arbeitgeberanteil des Arbeitslosenversicherungsbeitrages nach §12 Abs1 Z4 IESG - für die Zeit vom Juni 2000 bis Mai 2005 abgewiesen wird. Sowohl im Verwaltungsverfahren wie auch in der vorliegenden Beschwerde trägt die beschwerdeführende Gebietskrankenkasse dieselben Bedenken gegen die Verordnungen über die Höhe des Zuschlages und die gesetzlichen Grundlagen vor, die jene (gegen einen gleichartigen Bescheid des Landeshauptmannes von Oberösterreich gerichtete) Beschwerde enthalten hatte, die den Verfassungsgerichtshof am 9. März 2005 zur Einleitung von Prüfungsverfahren ob der Verfassungsmäßigkeit der Absätze 6 und 7 des §12 IESG und der Gesetzmäßigkeit der für die in Rede stehenden Jahre maßgeblichen Verordnungen über die Höhe des Zuschlages veranlasste (denen in weiterer Folge auch solche zu den Verordnungen für 2004 und 2005 nachgefolgt sind).

Mit Erkenntnis vom 13. Oktober 2005, G39,40,82/05, V 25-31, 32-37, 56-63/05 wurden die geprüften Gesetzesbestimmungen und hier maßgebenden Verordnungen aufgehoben.

II. Die Beratungen in den Normenprüfungsverfahren begannen am 27. September 2005 um 8.30 Uhr. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes seit VfSlg. 10.616/1985 wäre der vorliegende (am 5. August anhängig gewordene) Fall daher als im Zeitpunkt des Beratungsbeginns anhängig gewesen einem Anlassfall gleichzuhalten.

In dieser Allgemeinheit kann der Verfassungsgerichtshof an seiner Rechtsprechung aber nicht mehr festhalten. Sie führt nämlich - wie sich zeigt - unter Umständen dazu, dass die Einleitung eines Normenprüfungsverfahrens, also das Aufgreifen der im (führenden) Anlassfall entstandenen Bedenken durch den Verfassungsgerichtshof, die Antragstellung in jenen Verwaltungsverfahren überhaupt erst auslöst, deren Ergebnisse dann Anlassfällen eben dieses Normenprüfungsverfahrens gleichzuhalten wären. Zur Rechtsbereinigung tragen solche Verfahren von vornherein nicht mehr bei.

Es kann aber nicht der Sinn der verfassungsrechtlichen Privilegierung des Anlassfalles im Verhältnis zu anderen, von der Aufhebung nicht betroffenen Fällen sein, dass die amtswegige Einleitung des Normenprüfungsverfahrens Verwaltungsverfahren mit dem Ziel auslöst, der in Art139 Abs6 undArt140 Abs7 B-VG - je zweiter Satz - vorgesehenen Weitergeltung der aufgehobenen Vorschriften für die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände zu entgehen, sodass die verfassungsrechtliche Regelung in ihr Gegenteil verkehrt wird.

Der vom Verfassungsgesetzgeber mit der B-VG-Novelle 1975 aus der früheren Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes übernommene Begriff des Anlassfalles ist zunächst (VfSlg. 8234/1978) auf jene Fälle beschränkt verstanden worden, die tatsächlich zur Einleitung eines Normenprüfungsverfahrens geführt haben. Zwecks Loslösung von "Zufälligkeiten des Geschäftsganges und insbesondere von der Menge und Art der anfallenden Rechtssachen, also ausschließlich von Umständen im Schoße des Gerichtshofes selbst," hat ihn der Verfassungsgerichtshof jedoch später dahin ausgelegt, dass er alle im Zeitpunkt der Ausschreibung der Verhandlung anhängig gewordenen Fälle erfasst (VfSlg. 10.067/1984); nach Eröffnung der Möglichkeit (durch die Änderung des Verfassungsgerichtshofgesetzes im Gefolge der B-VG-Novelle 1984), auch im Normenprüfungsverfahren von einer mündlichen Verhandlung abzusehen, hat er schließlich der Ausschreibung der Verhandlung den Beginn der nichtöffentlichen Beratung gleichgesetzt (VfSlg. 10.616/1985). Bei diesem Verständnis werden aber auch Fälle dem Anlassfall gleichgestellt, für die das weder wegen eines möglichen Beitrages zur Rechtsbereinigung noch zur Ausschaltung von Zufälligkeiten im Geschäftsgang des Verfassungsgerichtshofes gerechtfertigt ist. Solche Fallgestaltungen waren bisher noch nicht zu beurteilen.

Der Verfassungsgerichtshof sieht sich darum veranlasst, diese Gleichstellung in jenen Fällen nicht vorzunehmen, in denen der ein Verwaltungsverfahren einleitende Antrag erst nach Bekanntmachung des Prüfungsbeschlusses gestellt wurde (mag auch die Beschwerde gegen den letztinstanzlichen Bescheid dann noch vor dem Beginn der Beratung beim Verfassungsgerichtshof eingelangt sein).

Der vorliegende Fall ist ein solcher: Die Zustellung des Prüfungsbeschlusses erfolgte am 7. April 2005; zugleich wurde er vom Verfassungsgerichtshof ins Internet gestellt und solcherart bekannt gemacht. Die beschwerdeführende Gebietskrankenkasse hat ihren Antrag erst am 6. Juli 2005 gestellt. Nach dem Gesagten ist ihre Beschwerde nicht einem Anlassfall gleichzuhalten. Daher sind nach den oben genannten Verfassungsbestimmungen auf die in dem Antrag erfassten, vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände die aufgehobenen Normen weiterhin anzuwenden. Insoweit sind sie durch die Aufhebung verfassungsrechtlich unangreifbar geworden (VfSlg. 15.978/2000, 13.297/1992).

Die Beschwerde ist daher als unbegründet abzuweisen.

Die antragsgemäße Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof stützt sich auf Art144 Abs3 B-VG.

Dies kann ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs4 erster Satz VfGG).

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