VfGH B1241/03

VfGHB1241/039.6.2004

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Entscheidung des Unabhängigen Verwaltungssenates über eine Berufung gegen einen Bescheid der Bundespolizeidirektion betreffend die Entziehung der Lenkberechtigung; Zuständigkeit des Landeshauptmannes aufgrund einer Übergangsbestimmung für anhängige Verfahren zur Novellierung des Führerscheingesetzes durch das Verwaltungsreformgesetz 2001

Normen

B-VG Art83 Abs2
FührerscheinG §35 Abs1, §41 Abs1, Abs1a idF VerwaltungsreformG 2001, BGBl I 65/2002
B-VG Art83 Abs2
FührerscheinG §35 Abs1, §41 Abs1, Abs1a idF VerwaltungsreformG 2001, BGBl I 65/2002

 

Spruch:

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie) ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit € 2.142,-

bestimmten Verfahrenskosten zu Handen seines Rechtsvertreters binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2002 teilte die Bundespolizeidirektion Wien dem Beschwerdeführer in Form einer "Verständigung von der Beweisaufnahme" mit, dass sie beabsichtige, ihm die Lenkberechtigung für die Dauer von sechs Monaten zu entziehen. In dem Schreiben wird ausgeführt, dass "mit Beschluss des Bezirksgerichtes Favoriten vom 12.09.2002 eine Diversion verfügt" worden sei, da der Beschwerdeführer "am 18.12.2001 den E. durch Versetzung eines Faustschlags ins Gesicht vorsätzlich leicht am Körper verletzt" habe. Darüber hinaus sei "am 15.11.2002 beim Verkehrsamt Wien eine neuerliche Anzeige wegen Verdachts der Körperverletzung und Sachbeschädigung" gegen den Beschwerdeführer eingelangt.

2. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 22. Jänner 2003 wurde dem Beschwerdeführer die Lenkberechtigung für die Dauer von 6 Monaten entzogen.

3. Die dagegen erhobene Berufung des Beschwerdeführers legte die Bundespolizeidirektion Wien dem Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (in der Folge: UVS) zur Entscheidung vor. Der UVS gab der Berufung mit Bescheid vom 17. Juli 2003 keine Folge.

4. Dagegen richtet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der ua. die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird. Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt und hiefür Kosten verzeichnet, jedoch keine Gegenschrift erstattet.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Vor Erlassung des Verwaltungsreformgesetzes 2001, BGBl. I Nr. 65/2002, lautete §35 Abs1 Führerscheingesetz (dh. in der Stammfassung BGBl. I Nr. 120/1997):

"Behörden und Organe

§35. (1) Für die in diesem Bundesgesetz vorgesehenen Amtshandlungen ist, sofern darin nichts anderes bestimmt ist, in erster Instanz die Bezirksverwaltungsbehörde, im örtlichen Wirkungsbereich einer Bundespolizeibehörde diese, und in zweiter Instanz der Landeshauptmann zuständig.

..."

Seit der Novellierung durch das Verwaltungsreformgesetz 2001, BGBl. I Nr. 65/2002, lautet §35 Abs1 Führerscheingesetz (in weiterer Folge: FSG):

"Behörden und Organe

§35. (1) Für die in diesem Bundesgesetz vorgesehenen Amtshandlungen ist, sofern darin nichts anderes bestimmt ist, in erster Instanz die Bezirksverwaltungsbehörde, im örtlichen Wirkungsbereich einer Bundespolizeibehörde diese zuständig. Über Berufungen gegen Bescheide der Bezirksverwaltungsbehörde oder Bundespolizeibehörde entscheiden die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern.

..."

Die maßgeblichen Übergangsbestimmungen in §41 Abs1 und 1a FSG lauten:

"Übergangsbestimmungen

§41. (1) Die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes anhängigen Verfahren auf Grund der §§64 bis 77 KFG 1967 sind nach der bisher geltenden Rechtslage zu Ende zu führen. Ausgenommen hiervon ist die Bestimmung des §11 Abs4.

(1a) Für die zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Verwaltungsreformgesetzes 2001, BGBl. I Nr. 65/2002, anhängigen Verfahren bleiben §35 Abs1 und §36 Abs1 in der vorher geltenden Fassung maßgeblich.

..."

Für das Inkrafttreten der durch das Verwaltungsreformgesetz 2001 eingeführten Änderungen des §35 FSG ordnet §43 Abs11 FSG an:

"Inkrafttreten und Aufhebung

§43. (1) ...

...

(11) §35 Abs1 und §36 Abs1 in der Fassung des Verwaltungsreformgesetzes 2001, BGBl. I Nr. 65/2002, treten mit 1. Juli 2002, jedoch nicht vor dem vierten der Kundmachung des Verwaltungsreformgesetzes 2001 folgenden Monatsersten in Kraft. Die zu diesem Zeitpunkt anhängigen Verfahren sind nach der vorher geltenden Rechtslage weiterzuführen.

..."

1.2. Das Verwaltungsreformgesetz 2001 wurde am 19. April 2002 im Bundesgesetzblatt I Nr. 65 kundgemacht. Nach §43 Abs11 FSG folgt daraus, dass die durch das Verwaltungsreformgesetz 2001 eingeführte Zuständigkeit des UVS zur Entscheidung über Berufungen gemäß §35 Abs1 FSG mit 1. August 2002 in Kraft getreten ist. Aufgrund der Übergangsbestimmung für "anhängige Verfahren" gemäß §41 Abs1a FSG ist daher in Verfahren, die vor dem 1. August 2002 "anhängig" waren - nach der früheren Rechtslage - der Landeshauptmann in zweiter Instanz zuständig.

2.1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10374/1985, 11405/1987, 13280/1992).

Für die Frage, ob der UVS die Zuständigkeit zu einer Sachentscheidung über die Berufung zu Recht in Anspruch genommen hat, ist nach dem Vorgesagten ausschlaggebend, ob das Verfahren, das dem Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 22. Jänner 2003 zugrunde liegt, bereits vor dem 1. August 2002 "anhängig" war.

Der Verfassungsgerichtshof teilt die vom Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 9. November 1999, Zl. 99/11/0245, vertretene Auslegung des Begriffs "anhängige Verfahren" in §41 Abs1 FSG. Nichts anderes gilt für die Auslegung des §41 Abs1a FSG. "Anhängig" ist ein Verfahren zur Entziehung der Lenkberechtigung nach dieser Bestimmung bereits dann, wenn die Führerscheinbehörde - mit Blick auf eine mögliche Entziehungsmaßnahme - konkrete Ermittlungen zu der den Anlass der Entziehung bildenden Tat eingeleitet hat.

2.2. Aus dem Verwaltungsakt ergibt sich, dass die Bundespolizeidirektion Wien infolge einer Mitteilung des Bezirkspolizeikommissariats Favoriten vom 12. Februar 2002 mit dem Betreff "Aggressionsdelikt im Straßenverkehr §7 FSG Überprüfung der Verkehrszuverlässigkeit" tätig geworden ist. Seite 18 des Akts der Behörde erster Instanz enthält eine mit 21. März 2002 datierte handschriftliche Eintragung "Soll Ermittlungsverfahren eingeleitet werden?", sowie das darunter vermerkte Wort "Ja" (datiert mit 22. März 2002). Mit Schreiben vom 25. März 2002 und vom 2. April 2002 an das Bezirkspolizeikommissariat Favoriten ersuchte das Verkehrsamt der Bundespolizeidirektion Wien jeweils "um Bekanntgabe der gerichtlichen Anzeigedaten ..., da ha. ein Verfahren anhängig ist".

Es besteht daher kein Zweifel, dass das Verfahren zur Entziehung der Lenkberechtigung des Beschwerdeführers bereits vor dem 1. August 2002 "anhängig" im Sinne des §41 Abs1a FSG war. Zur Entscheidung in zweiter Instanz war daher nicht die belangte Behörde, sondern der Landeshauptmann zuständig.

3. Die belangte Behörde hat daher eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch genommen. Der angefochtene Bescheid verletzt den Beschwerdeführer sohin in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter.

4. Der Bescheid war schon aus diesem Grund aufzuheben.

5. Der Kostenspruch beruht auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,- enthalten.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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