VfGH G231/98

VfGHG231/9823.2.1999

Keine sachliche Rechtfertigung der Einschränkung von Nachbarrechten im Baubewilligungsverfahren bei gewerblichen Betriebsanlagen

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
Nö BauO 1996 §6 Abs3
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
Nö BauO 1996 §6 Abs3

 

Spruch:

§6 Abs3 der Niederösterreichischen Bauordnung 1996, LGBl. 8200-0, wird gemäß Art140 Abs1 B-VG als verfassungswidrig aufgehoben.

Der Landeshauptmann von Niederösterreich ist verpflichtet, diesen Ausspruch unverzüglich im Landesgesetzblatt kundzumachen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B1494/98 eine Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

"Mit Bescheid vom 24. April 1998 erteilte die Bezirkshauptmannschaft Baden der A A GesmbH die Baubewilligung für die Errichtung und den Betrieb einer Treibstofftankstelle samt Waschhalle, Verkaufsraum (Shop) und Nebenräumen auf dem als 'Bauland-Betriebsgebiet' gewidmeten Grundstück Nr. 306/10, EZ 1745, KG Leesdorf. Die Einwendungen des Beschwerdeführers wurden unter Hinweis auf §6 Abs3 der Niederösterreichischen Bauordnung (im folgenden: NÖ BO) 1996 als unzulässig zurückgewiesen.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die NÖ Landesregierung die Berufung des nunmehrigen Beschwerdeführers und seiner Ehefrau gemäß §66 Abs4 AVG als unzulässig zurück. Die Begründung des Bescheides geht davon aus, daß die Berufungswerber im Zuge der Bauverhandlung Einwendungen erhoben haben, diese jedoch keine Einwendungen im Sinne des §6 Abs2 Z3 der NÖ BO 1996 und sohin unzulässige Einwendungen darstellten. Aus eben diesem Grunde könnten daher die Berufungswerber im Baubewilligungsverfahren die Parteistellung nicht erlangt haben; sie könnten aufgrund ihrer mangelnden Parteistellung durch die Entscheidung der Bezirkshauptmannschaft nicht nur nicht in ihren Rechten verletzt werden, sondern es fehle ihnen darüber hinaus auch die Rechtsmittellegitimation. Zusammenfassend ergebe sich daher, daß eine Verletzung von Rechten der Berufungswerber schon deswegen nicht bestehe, weil sie im Baubewilligungsverfahren gar nicht Partei geworden seien, weshalb die Berufung mangels Parteistellung als unzulässig zurückzuweisen sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art2 StGG) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird. Die Beschwerde behauptet einerseits die Gleichheitswidrigkeit der Bestimmung des §6 Abs3 NÖ BO 1996 und andererseits, der Beschwerdeführer werde durch das Bauwerk auch in den gemäß §6 Abs2 Z3 leg. cit. gewährleisteten subjektiv-öffentlichen Rechten berührt.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Verfassungsmäßigkeit des §6 Abs3 NÖ BO 1996 mit dem Argument verteidigt, die Ungleichbehandlung resultiere aus 'einer ganz bewußten wirtschaftspolitisch(...) motivierten Differenzierung auf der Seite des Anlagenbetreibers' und die Abweisung der Beschwerde beantragt."

2. Aus Anlaß dieser Beschwerde hat der Verfassungsgerichtshof am 5. Oktober 1998 gemäß Art140 Abs1 B-VG beschlossen, die Verfassungsmäßigkeit des §6 Abs3 der Niederösterreichischen Bauordnung 1996, LGBl. 8200-0, von Amts wegen zu prüfen.

3. In seinem Einleitungsbeschluß ging der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon aus, daß die Beschwerde zulässig ist und er bei seiner Entscheidung darüber §6 Abs3 der Niederösterreichischen Bauordnung 1996, LGBl. 8200-0, anzuwenden hätte.

§6 der Niederösterreichischen Bauordnung 1996 lautet:

"Parteien, Nachbarn und Beteiligte

(1) In Baubewilligungsverfahren und baupolizeilichen Verfahren nach §32, §33 Abs2, §34 Abs2 und §35 haben Parteistellung bzw. können erlangen:

  1. 1. der Bauwerber und/oder der Eigentümer des Bauwerks
  2. 2. der Eigentümer des Baugrundstücks
  3. 3. die Eigentümer der Grundstücke, die mit dem Baugrundstück eine gemeinsame Grenze haben oder von diesen

    durch eine öffentliche Verkehrsfläche, ein Gewässer oder einen Grüngürtel mit einer Breite bis zu 14 m getrennt sind (Nachbarn), und

  1. 4. die Eigentümer eines ober- oder unterirdischen Bauwerks auf den Grundstücken nach Z. 2 und 3, z.B. Superädifikat, Baurechtsobjekt, Keller, Kanalstrang (Nachbarn).

Nachbarn werden nur dann Parteien, wenn sie durch das Bauwerk und dessen Benützung in den in Abs2 erschöpfend festgelegten subjektiv-öffentlichen Rechten berührt werden. Im Baubewilligungsverfahren werden sie nur dann Parteien, wenn sie diese Rechte spätestens in der Bauverhandlung geltend machen. Beteiligte sind alle sonstigen Personen, die in ihren Privatrechten oder in ihren Interessen betroffen werden.

(2) Subjektiv-öffentliche Rechte werden begründet durch jene Bestimmungen dieses Gesetzes, des NÖ Raumordnungsgesetzes 1976, LGBl. 8000, der NÖ Aufzugsordnung, LGBl. 8220, sowie der Durchführungsverordnungen zu diesen Gesetzen, die

  1. 1. die Standsicherheit, die Trockenheit und den Brandschutz der Bauwerke der Nachbarn (Abs1 Z. 4) sowie
  2. 2. den Schutz vor Immissionen (§48), ausgenommen jene, die sich aus der Benützung eines Gebäudes zu Wohnzwecken oder einer Abstellanlage im gesetzlich vorgeschriebenen Ausmaß (§63) ergeben,

    gewährleisten und über

  1. 3. die Bebauungsweise, die Bebauungshöhe, den Bauwich, die Abstände zwischen Bauwerken oder deren zulässige Höhe, soweit diese Bestimmungen der Erzielung einer ausreichenden Belichtung der Hauptfenster (§4 Z. 9) der Gebäude der Nachbarn dienen.

(3) Bei gewerblichen Betriebsanlagen werden im baubehördlichen Verfahren subjektiv-öffentliche Rechte nur nach Abs2 Z. 3 begründet.

(4) Grenzt eine Straße (§1 des NÖ Landesstraßengesetzes, LGBl. 8500) an das Baugrundstück, dann hat der Straßenerhalter Parteistellung im Sinne des Abs1. Abweichend davon darf der Straßenerhalter nur jene Rechte geltend machen, die die Benützbarkeit der Straße und deren Verkehrssicherheit gewährleisten. §21 Abs6 gilt sinngemäß."

Seine Bedenken legte der Verfassungsgerichtshof wie folgt dar:

"Die Regelung des §6 Abs3 NÖ BO 1996 gleicht damit in wesentlichen Teilen der Vorgängerbestimmung des §118 Abs9 letzter Satz der NÖ BO 1976, LGBl. 8200-14, gegen deren Verfassungsmäßigkeit der Verfassungsgerichtshof in seinem Prüfungsbeschluß vom 16. Juni 1998, B1364/96-10, dessen Ausfertigung diesem Beschluß beiliegt, Bedenken im Hinblick auf den Gleichheitssatz gehegt hat.

Auch §6 Abs3 NÖ BO 1996 räumt dem Nachbarn zum Unterschied von anderen Bauwerken bei gewerblichen Betriebsanlagen nur ein beschränktes Mitspracherecht ein. Gleich wie §118 Abs9 letzter Satz der NÖ BO 1976 scheint §6 Abs3 NÖ BO 1996 dem Nachbarn die Möglichkeit zu nehmen, im Bauverfahren über eine gewerbliche Betriebsanlage einen Widerspruch zum Flächenwidmungsplan, beispielsweise hinsichtlich der Immissionslage geltend zu machen, wobei §6 Abs3 NÖ BO 1996 anders als die Vorgängerregelung das Mitspracherecht nicht nur bei gewerblichen Betriebsanlagen beschränkt, die außer der baubehördlichen auch einer gewerbebehördlichen Bewilligung bedürfen, sondern ganz allgemein bei gewerblichen Betriebsanlagen, ohne Rücksicht auf deren Genehmigungspflicht nach den gewerberechtlichen Vorschriften.

Andererseits scheint die Geltendmachung eines derartigen Widerspruches zum Flächenwidmungsplan im gewerbebehördlichen Verfahren nicht zum Erfolg führen zu können, weil ein solcher Widerspruch mangels Anwendbarkeit der raumordnungsrechtlichen Vorschriften im Betriebsanlagengenehmigungsverfahren (gemäß §§74 ff. Gewerbeordnung) nicht zur Versagung der Bewilligung führt.

Es scheint also eine sachliche Rechtfertigung dafür zu fehlen, daß der Nachbar einer gewerblichen Betriebsanlage - im Gegensatz zum Anrainer einer anderen baubewilligungspflichtigen Anlage - den durch den Flächenwidmungsplan gewährleisteten Immissionsschutz nicht geltend machen kann."

4. Die Niederösterreichische Landesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie beantragt, §6 Abs3 NÖ BauO 1996, LGBl. 8200-0, nicht als verfassungswidrig aufzuheben.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Die vorläufigen Annahmen des Verfassungsgerichtshofes, daß das Beschwerdeverfahren, das Anlaß zur Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens gegeben hat, zulässig ist, und daß er bei seiner Entscheidung über die Beschwerde §6 Abs3 der Niederösterreichischen Bauordnung (im folgenden: NÖ BO) 1996, LGBl. 8200-0, anzuwenden hätte, haben sich als zutreffend erwiesen.

2. Auch die im Prüfungsbeschluß formulierten Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung stehenden Bestimmung treffen zu:

2.1. Die Regelung des §6 Abs3 NÖ BO 1996 gleicht in wesentlichen Teilen der Vorgängerbestimmung des §118 Abs9 letzter Satz der NÖ BO 1976, LGBl. 8200-14, bezüglich welcher der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 9. Dezember 1998, G134/98 und G237/98, ausgesprochen hat, daß sie verfassungswidrig war.

2.2. Der Verfassungsgerichtshof ist in seinem Prüfungsbeschluß davon ausgegangen, daß §6 Abs3 NÖ BO 1996 dem Nachbarn die Möglichkeit nehme, im Bauverfahren über eine gewerbliche Betriebsanlage einen Widerspruch zum Flächenwidmungsplan, beispielsweise hinsichtlich der Immissionslage geltend zu machen. Gerade im Verfahren zur Bewilligung einer gewerblichen Betriebsanlage kommt jedoch dem nachbarrechtlichen Schutz eine besondere Bedeutung zu.

Der Verfassungsgerichtshof kann daher nicht erkennen, daß die Schutzbedürftigkeit des Nachbarn vor Immissionen gewerblicher Betriebsanlagen im Baubewilligungsverfahren geringer einzuschätzen ist als jene des Nachbarn einer nicht gewerblichen Betriebsanlage. Dies vor allem deshalb, weil der Nachbar im gewerbebehördlichen Betriebsanlagengenehmigungsverfahren mangels Anwendbarkeit der raumordnungsrechtlichen Vorschriften einen Widerspruch zum Flächenwidmungsplan, beispielsweise hinsichtlich der Immissionslage, nicht geltend machen kann (vgl. §§74 ff Gewerbeordnung).

2.3. Im Gegensatz zur Vorgängerbestimmung beschränkt §6 Abs3 NÖ BO 1996 das Mitspracherecht nicht nur bei gewerblichen Betriebsanlagen, die außer der baubehördlichen auch einer gewerbebehördlichen Bewilligung bedürfen, sondern ganz allgemein bei gewerblichen Betriebsanlagen, ohne Rücksicht auf deren Genehmigungspflicht nach den gewerberechtlichen Vorschriften.

Der Verfassungsgerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, daß infolge Fehlens eines Mitspracherechtes des Nachbarn im gewerbebehördlichen Betriebsanlagengenehmigungsverfahren das Mitspracherecht des Nachbarn im Baubewilligungsverfahren im Vergleich zur verfassungswidrigen Vorgängerbestimmung noch weiter eingeschränkt wird, wofür es an einer sachlichen Rechtfertigung fehlt.

3. §6 Abs3 NÖ BO 1996 war daher als verfassungswidrig aufzuheben.

4. Die Verpflichtung des Landeshauptmannes von Niederösterreich zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung ergibt sich aus Art140 Abs5 zweiter Satz B-VG.

5. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 abgesehen werden.

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