VfGH B256/92

VfGHB256/9215.3.1993

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Zurückweisung einer Beschwerde an den Unabhängigen Verwaltungssenat Wien gegen die Festnahme und Anhaltung eines Fremden infolge formalistischer Auslegung des Antrags auf Feststellung der Verletzung in Rechten durch den angefochtenen Verwaltungsakt

Normen

B-VG Art83 Abs2
AVG §67c Abs2 Z5
B-VG Art83 Abs2
AVG §67c Abs2 Z5

 

Spruch:

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen der Beschwerdevertreter die mit 15.000,-- S bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Am 24. November 1991 wurde der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Sri Lankas, in Wien von Sicherheitsorganen gemäß §14 e des - mit Ablauf des 31. Dezember 1992 (vgl. §86 Abs3 Fremdengesetz, BGBl. 838/1992) außer Kraft getretenen - Fremdenpolizeigesetzes (FrPolG) festgenommen und der Bundespolizeidirektion Wien vorgeführt, die gegen ihn - am selben Tag - zur Vorbereitung der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes und zur Sicherung der Abschiebung einen Schubhaftbescheid gemäß §5 Abs1 FrPolG erließ.

1.1.2. Am 13. Jänner 1992 ergriff der in der Folge in Schubhaft angehaltene Fremde gemäß §5 a FrPolG das Rechtsmittel der Beschwerde an den Unabhängigen Verwaltungssenat Wien, in dem er die Anträge stellte,

"der Unabhängige Verwaltungssenat möge

1.) eine mündliche Verhandlung anberaumen;

2.) feststellen, daß der Beschwerdeführer durch seine Festnahme und Anhaltung durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien ab 24.11.1991, in eventu ab 26.11.1991, bis zum jetzigen Zeitpunkt wegen Verstoßes gegen Art1 PersFrG und Art5 EMRK in seinen Rechten verletzt worden ist bzw. nach wie vor wird;

3.) der belangten Behörde auftragen, die Kosten zu ersetzen."

1.1.3. Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien wies diese Beschwerde mit Bescheid vom 16. Jänner 1992 als unzulässig zurück. Begründend führte er aus, gemäß §5 a Abs6 FrPolG sei im Verfahren ua. §67 c Abs2 Z5 AVG anzuwenden, wonach die Beschwerde das Begehren zu enthalten habe, den angefochtenen Verwaltungsakt für rechtswidrig zu erklären. Da sich in der Beschwerde kein solches Begehren finde, fehle es an einer wesentlichen Prozeßvoraussetzung.

1.2.1. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde des P V an den Verfassungsgerichtshof. Darin wird die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Verwaltungsaktes begehrt.

1.2.2. Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien als belangte Behörde legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der er für die Abweisung der Beschwerde eintrat.

2. Über die - zulässige - Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes wird das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) durch einen Bescheid verletzt, wenn die bescheiderlassende Verwaltungsbehörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie eine Sachentscheidung verweigert (vgl. zB VfSlg. 9051/1981, 9205/1981, 9626/1983, 11597/1988).

2.1.2. Gemäß §5 a Abs6 des - nicht mehr in Kraft stehenden (vgl. Pt. 1.1.1.) - FrPolG galten für das Verfahren über Beschwerden nach §5 a FrPolG die §§67 c bis 67 g AVG mit der Maßgabe, daß eine mündliche Verhandlung unterbleiben konnte, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage geklärt erschien, und daß die Entscheidung binnen einer Woche zu ergehen hatte, es sei denn, die Anhaltung des Fremden hätte vorher geendet.

Nach §67 c Abs2 Z5 AVG - den der UVS somit anzuwenden hatte - muß die Beschwerde ua. das Begehren enthalten, den angefochtenen Verwaltungsakt für rechtswidrig zu erklären.

2.1.3. Zu dem Erfordernis eines begründeten Berufungsantrages für eine Berufung nach §63 Abs3 AVG brachte der Verfassungsgerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung in Übereinstimmung mit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zum Ausdruck, daß einer Eingabe, die zwar als "Berufung" bezeichnet ist, aber keinen begründeten Berufungsantrag aufweist, ein wesentlicher (Berufungs-)Bestandteil und damit der Charakter einer Berufung iS des AVG fehle (vgl. VfSlg. 8738/1980, 9051/1981, 9626/1983, 11597/1988). Die beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts vertraten jedoch wiederholt die Auffassung, daß §63 Abs3 AVG nicht formalistisch ausgelegt werden darf: Es genügt, daß die Berufungsschrift erkennen läßt, was die Partei anstrebt und womit sie ihren Standpunkt stützen zu können glaubt (VfSlg. 8738/1980, 9051/1981, 9205/1981, 11597/1988, vgl. auch VfSlg. 9626/1983).

Der Verfassungsgerichtshof ist der Ansicht, daß diese Überlegungen auch für die Auslegung des §67 c Abs2 Z5 AVG anzustellen sind, wonach eine Beschwerde das Begehren zu enthalten hat, den angefochtenen Verwaltungsakt für rechtswidrig zu erklären. Einer als "Beschwerde" bezeichneten Eingabe, die einen derartigen Antrag vermissen läßt, fehlt ein wesentlicher Bestandteil, doch darf die zitierte Vorschrift nicht formalistisch ausgelegt werden. Es genügt, wenn die Beschwerdeschrift erkennen läßt, was die Partei anstrebt.

2.2.1. Die Beschwerde an den Unabhängigen Verwaltungssenat Wien enthielt den Antrag auf Feststellung, daß der Beschwerdeführer durch seine Festnahme und Anhaltung in seinen Rechten verletzt worden sei bzw. werde.

2.2.2. Der Verfassungsgerichtshof ist bei der gegebenen Sach- und Rechtslage der Meinung, daß der Beschwerdeführer mit seiner als Beschwerde bezeichneten Eingabe in noch ausreichender Weise deutlich machte, was er anstrebe: Die Feststellung, daß ein Verwaltungsakt den Beschwerdeführer in Rechten verletzt, schließt die Beurteilung dieses Aktes als rechtswidrig in sich ein. Demgemäß hätte die belangte Behörde - anstatt die Beschwerde als unzulässig zurückzuweisen - auf das Vorbringen des Beschwerdeführers eingehen und in der Sache selbst entscheiden müssen, jedenfalls soweit die Beschwerde die Anhaltung während der letzten sechs Wochen betraf (vgl. VfGH 9.6.1992 B 1200,1201/91).

2.3. Der Beschwerdeführer wurde folglich dadurch, daß die belangte Behörde seine Beschwerde - zu Unrecht - als unzulässig zurückwies, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

Der angefochtene Bescheid war darum aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953. Im Kostenzuspruch ist Umsatzsteuer in der Höhe von 2.500,-- S enthalten.

2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte