Spruch:
Der vierte Satz des §90 Abs1 des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 605/1987, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 1993 in Kraft.
Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Bundeskanzler ist verpflichtet, diese Aussprüche unverzüglich im Bundesgesetzblatt kundzumachen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B1852/92 ein Verfahren über eine Beschwerde anhängig, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt:
Der Beschwerdeführer, er befindet sich derzeit in der Justizanstalt Mittersteig in Strafhaft, stellte am 28. Februar 1992 das Ansuchen, künftig die ein- und ausgehende Korrespondenz mit bevollmächtigten Rechtsanwälten von jeder wie immer gearteten Zensur auszunehmen. Nachdem diesem Ansuchen mit einer Entscheidung der Leiterin der Justizanstalt Mittersteig vom 3. September 1992 nicht stattgegeben worden war, erhob der Beschwerdeführer dagegen Beschwerde an den Bundesminister für Justiz, der mit Bescheid vom 20. November 1992, Z418.392/127-V7/92, keine Folge gegeben wurde.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die eingangs erwähnte, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verfassungswidrigkeit des dritten und vierten Satzes des §90 Abs1 StVG, idF BGBl. Nr. 424/1974 und BGBl. Nr. 605/1987, sowie ein Verstoß gegen das Behinderungsverbot des Art25 Abs1 letzter Satz EMRK geltend gemacht und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.
2. Bei der Beratung über diese Beschwerde sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des vierten Satzes des §90 Abs1 StVG, idF BGBl. Nr. 605/1987, entstanden, sodaß er beschlossen hat, gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung einzuleiten.
Er ging hiebei vorläufig davon aus, daß diese bundesgesetzliche Bestimmung im Beschwerdeverfahren präjudiziell sei und daß er sie bei der Entscheidung über die Beschwerde anzuwenden haben werde.
3. §90 StVG, idF BGBl. Nr. 605/1987, - die in Prüfung gezogene Bestimmung ist hervorgehoben - hat, auszugsweise wiedergegeben, folgenden Wortlaut:
"Überwachung des Briefverkehrs
§90. (1) Briefe und Eingaben, die ein Strafgefangener unter zutreffender Angabe des Absenders an den Bundespräsidenten, an den Nationalrat, an den Bundesrat, an das Bundesministerium für Justiz oder an die Volksanwaltschaft oder unter der Anschrift dieser Stellen an ein Mitglied des Nationalrates oder des Bundesrates, an den Bundesminister für Justiz oder an einen Volksanwalt richtet, ferner Briefe und Eingaben an die Europäische Kommission und an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dürfen in einem verschlossenen Umschlag zur Absendung gegeben werden; sie sind nicht zu überwachen. Strafgefangene, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen wollen, sind darauf hinzuweisen, daß im Fall einer Beschwerdeführung die davon betroffene Person vom Inhalt der gegen sie erhobenen Anschuldigungen in Kenntnis gesetzt werden kann. Im übrigen ist der gesamte Briefverkehr der Strafgefangenen insoweit zu überwachen, als dies notwendig ist, um unerlaubte Sendungen von Geld oder anderen Gegenständen in Briefen zurückzuhalten. Außerdem sind die von den Strafgefangenen verfaßten Briefe und Eingaben vor ihrer Absendung und die für sie eingehenden Briefe vor ihrer Aushändigung vom Anstaltsleiter oder einem von ihm besonders bestellten Strafvollzugsbediensteten stichprobenweise und ansonsten insoweit zu lesen, als dies mit Rücksicht auf die psychiatrische oder psychologische Betreuung des Strafgefangenen oder deswegen erforderlich ist, weil der Verdacht besteht, daß der Brief nach Abs2 zurückzuhalten sein werde. Erforderlichenfalls ist zuvor die Herstellung einer Übersetzung zu veranlassen. Es ist dafür zu sorgen, daß der Inhalt anderen Personen nicht bekannt wird, es sei denn, daß der Brief nach Abs2 zurückzuhalten oder die Kenntnisnahme durch andere Personen für die psychiatrische oder psychologische Betreuung des Strafgefangenen erforderlich ist.
(2) Briefe, die Strafgefangene entgegen den Vorschriften dieses Bundesgesetzes abzusenden versuchen oder die für sie einlangen, ihnen aber nach diesen Vorschriften nicht ausgefolgt werden, sind zurückzuhalten. Dasselbe gilt unbeschadet der Vorschrift des Abs4 für Schreiben, die aus anderen Gründen gegen die Zwecke des Strafvollzuges verstoßen, den Tatbestand einer mit Strafe bedrohten Handlung oder des Versuches einer solchen betreffen, den Anstand verletzen oder offenbar grob entstellende Tatsachenmitteilungen über die Verhältnisse in der Anstalt oder anhängige Rechtsangelegenheiten enthalten.
(3) ...
(4) Schreiben an die im §88 Abs1 Z. 1 und 2 sowie Abs2 genannten Stellen und Personen und Schreiben dieser Stellen und Personen dürfen nicht zurückgehalten werden."
4. Seine Bedenken gegen die in Prüfung gezogene Bestimmung umschrieb der Verfassungsgerichtshof in seinem Einleitungsbeschluß wie folgt:
"Der Verfassungsgerichtshof nimmt vorläufig an, daß die Anwaltskorrespondenz von der im vierten Satz des §90 Abs1 StVG angeordneten stichprobenweise vorzunehmenden Zensur nicht ausgenommen ist. Dafür scheint zu sprechen, daß im Abs4 des §90 StVG iVm §88 leg.cit. Anwälte nicht zu den Personen gezählt werden, hinsichtlich derer ein Zurückhalten von Schreiben verboten ist. In die gleiche Richtung deutet, daß - andererseits - §96 Abs2 StVG auf Anwälte ausdrücklich Bedacht nimmt, woraus zu schließen sein dürfte, daß der Gesetzgeber genau differenziert hat, inwieweit für Anwälte besondere Regeln zu gelten haben.
Der Verfassungsgerichtshof geht aufgrund dieser Überlegung somit vorläufig davon aus, daß auch die Anwaltskorrespondenz einer Überwachung, wie sie im vierten Satz des §90 Abs1 StVG angeordnet ist, unterliegt.
Während der dritte Satz des §90 Abs1 leg.cit. es nicht erforderlich macht, zwecks Überwachung, ob unerlaubterweise Geld oder Gegenstände einer Briefsendung beigeschlossen sind, den Brief selbst zu lesen, ordnet der vierte Satz ein Lesen von Briefen, wenn auch nur stichprobenweise und zwecks psychiatrischer und psychologischer Betreuung von Strafgefangenen, allgemein - also ohne die Anwaltskorrespondenz auszunehmen - ausdrücklich an; daß damit der gesamte Inhalt des Briefverkehrs eines Strafgefangenen auch mit seinem Anwalt der Behörde zur Kenntnis gelangt, scheint unvermeidbar.
Dies dürfte aber gegen Art8 EMRK verstoßen. Nach dieser Konventionsbestimmung hat jedermann insbesondere Anspruch auf Achtung seines Briefverkehrs. Nach Abs2 leg.cit. ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Dem Verfassungsgerichtshof scheint es, daß ein gewisses Ausmaß der Kontrolle des Briefverkehrs von Häftlingen mit Art8 EMRK angesichts der notwendigen Bedachtnahme auf die normalen und angemessenen Erfordernisse einer Haft vereinbar ist. Im Lichte der Rechtsprechung des EGMR - insbesondere des Urteiles vom 25. März 1992 in der Rechtssache Campbell gegen Vereinigtes Königreich - dürfte jedoch das Öffnen von Briefen, die Gegenstand des Briefverkehrs eines Strafgefangenen mit seinem Anwalt bilden, Art8 Abs1 EMRK verletzen; dies jedenfalls dann, wenn keine konkreten Umstände vorliegen, die dies aus einem der in Abs2 genannten Gründe rechtfertigen. Jedenfalls für den Fall, daß solche nicht vorliegen, ist der Verfassungsgerichtshof vorläufig der Ansicht, daß bei Beurteilung der Notwendigkeit eines Eingriffes in das durch Art8 Abs1 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Briefverkehrs die bloße Möglichkeit des Mißbrauches des Briefverkehrs eines Strafgefangenen mit seinem Rechtsvertreter von der Notwendigkeit überwogen wird, die Vertraulichkeit zu achten, die der Beziehung zwischen einem Anwalt und seinem Klienten zukommt. Die Gefahr eines Mißbrauches dürfte beim Briefverkehr zwischen Anwälten und Strafgefangenen in einer demokratischen Gesellschaft im Hinblick auf die Bedeutung, die dem Rechtsgut der Vertraulichkeit für die Beziehung zwischen einem Anwalt und einem Klienten in einer demokratischen Gesellschaft zukommt, als so gering zu erachten sein, daß sie vernachlässigt werden muß."
5. Die Bundesregierung hat von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand genommen und lediglich für den Fall der Aufhebung der in Prüfung gezogenen Bestimmung den Antrag gestellt, für deren Außerkrafttreten eine Frist von einem Jahr zu bestimmen, um die erforderlichen legistischen Vorkehrungen treffen zu können.
6. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:
6.1. Der Verfassungsgerichtshof ist im Einleitungsbeschluß davon ausgegangen, daß die in Prüfung gezogene Regelung von ihm bei der zu fällenden Entscheidung anzuwenden sein wird. Das Verfahren hat nichts Gegenteiliges ergeben. Der angefochtene Bescheid stützt sich implizit auf den vierten Satz des §90 Abs1 StVG idF BGBl. Nr. 605/1987. Die in Prüfung gezogene Regelung ist somit präjudiziell im Sinne des Art140 Abs1 B-VG.
Da auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist das Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.
6.2. Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes sind auch begründet. Die Bundesregierung ist ihnen nicht entgegengetreten. Auch das Verfahren hat sie nicht zerstreut.
Daß die Korrespondenz zwischen einem Häftling und seinem Rechtsbeistand einer Überwachung - wie sie im vierten Satz des §90 Abs1 StVG für die Häftlingspost allgemein angeordnet ist - unterliegt, ergibt sich - wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Prüfungsbeschluß zutreffend angenommen hat - aus einer Gegenüberstellung dieser Regelung mit den Bestimmungen des §90 Abs4 iVm §88 StVG und des §96 iVm §88 leg.cit. Während sich aus §90 Abs4 iVm §88 StVG im Wege eines Umkehrschlusses (§88 Abs1 Z5 wird in §90 Abs4 StVG nicht genannt) zweifelsfrei ergibt, daß Rechtsanwälte - obschon es ihnen gestattet ist, ohne zeitliche Beschränkung mit Strafgefangenen schriftlich zu verkehren - zu den Personen zählen, deren Schreiben zurückgehalten werden dürfen, und während in §96 iVm §88 leg.cit. sogar ausdrücklich normiert ist, daß der Inhalt der zwischen Strafgefangenen und den sie besuchenden Rechtsbeiständen geführten Gespräche nicht zu überwachen ist, wird in der in Prüfung gezogenen Regelung die Anwaltskorrespondenz von einem stichprobenweisen Lesen durch besonders bestellte Strafvollzugsbedienstete nicht ausgenommen.
Ein Eingriff in das jedermann zustehende Recht auf Achtung seines Briefverkehrs durch eine öffentliche Behörde ist nur zulässig, insoweit er gesetzlich vorgesehen ist und darüber hinaus zur Erreichung eines der in Art8 Abs2 EMRK genannten Zwecke notwendig ist. In seinem Urteil im Fall Campbell gegen Vereinigtes Königreich hat der EGMR im Zusammenhang mit der Beurteilung der Beschwerde eines Inhaftierten über das Öffnen und Lesen seiner Korrespondenz mit seinem Anwalt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zwischen der Notwendigkeit der Überwachung der Korrespondenz zwischen einem Häftling und seinem Anwalt zur Erreichung des legitimen Zieles der Verteidigung der Ordnung und der Verhinderung von strafbaren Handlungen iSd Art8 Abs2 leg.cit. und der der Anwalt-Klient-Beziehung zukommenden Vertraulichkeit vorgenommen. Er ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß - wenn aufgrund konkreter Umstände nicht anders geboten - das Risiko eines bloß möglichen Mißbrauches von der Notwendigkeit überwogen werde, die Vertraulichkeit des Verhältnisses zwischen einem Anwalt und seinem Klienten zu achten (EGMR vom 25. März 1992, Z52/1990/243/314; vgl. ÖJZ 1992, 595 ff.). Der Verfassungsgerichtshof tritt dieser Auffassung bei. Das Öffnen und Lesen der Korrespondenz eines Häftlings mit seinem Anwalt ohne konkrete Verdachtsmomente ist somit im Sinne des Art8 Abs2 EMRK nicht gerechtfertigt.
Die in Prüfung gezogene Bestimmung steht daher im Widerspruch zu Art8 EMRK.
Der vierte Satz des §90 Abs1 des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 605/1987, war daher als verfassungswidrig aufzuheben.
7. Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle gründet sich auf Art140 Abs5 dritter und vierter Satz B-VG. Mit der gesetzten Frist wird dem Umstand Rechnung getragen, daß mit dem Bundesgesetz BGBl. Nr. 799/1993 mit Wirkung vom 1. Jänner 1994 eine Neuregelung vorgenommen wird.
Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz B-VG.
Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VerfGG.
8. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
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