VfGH B1129/91

VfGHB1129/919.6.1992

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Vorschreibung von Kostenbeiträgen für die Unterbringung eines Behinderten in einer Wohngemeinschaft unter Hinzurechnung der Familienbeihilfe bei Feststellung des Einkommens des Behinderten; Unterlassen der Ermittlungstätigkeit hinsichtlich der Frage der vollständigen Sicherstellung des Lebensunterhalts durch die Maßnahme

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
Wr BehindertenG 1986 §11 Abs3
Wr BehindertenG 1986 §43 Abs3
FamilienlastenausgleichsG 1967 §12a
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
Wr BehindertenG 1986 §11 Abs3
Wr BehindertenG 1986 §43 Abs3
FamilienlastenausgleichsG 1967 §12a

 

Spruch:

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden. Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer, zuhanden des Beschwerdevertreters, die mit S 15.000 bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Dem (1967 geborenen) Beschwerdeführer wurde mit Bescheid des Magistrates der Stadt Wien vom 28. November 1988 gemäß dem §24 und dem §22 des Wiener Behindertengesetzes 1986, LGBl. 16, (in der Folge: BehindertenG) Internatsunterbringung und Beschäftigungstherapie im Rahmen des Vereines "Wiener Sozialdienste" bewilligt.

Diese Hilfe wird ihm seit 1. Jänner 1989 in der Form gewährt, daß er in einer Wohngemeinschaft des erwähnten Vereines in 1140 Wien, Linzerstraße 466, untergebracht ist und tagsüber im Rahmen der vom Verein geführten "humanisierten Werkstätten" in 1080 Wien, Pfeilgasse 37, beschäftigt wird. Die dem Verein erwachsenden Kosten werden vom Land Wien getragen.

Der Beschwerdeführer bezog zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung monatlich die erhöhte Familienbeihilfe gemäß §6 Abs2 und §8 Abs4 des Familienlastenausgleichsgesetzes (FLAG) von S 3.100, eine Waisenpension von S 1.372,60 und eine Ausgleichszulage von S 2.232,30.

2.a) Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Wiener Landesregierung vom 13. August 1991 wurde der Beschwerdeführer gemäß §43 Abs3 BehindertenG verpflichtet, beginnend mit 1. Jänner 1989 ziffernmäßig bestimmte Kostenbeträge (so ab 1. März 1991 solche in der Höhe von monatlich S 4.611,90) "für die Unterbringung im Rahmen des Vereines Wiener Sozialdienste" zu bezahlen.

b) Dieser den erwähnten Bescheid vornehmlich tragende §43 Abs3 BehindertenG steht in folgendem rechtlichen Umfeld:

Als Maßnahmen für einen Behinderten kommen dem §3 Abs1 Z3 und 4 BehindertenG zufolge die Beschäftigungstherapie (nähere Vorschriften enthält der §22) und die Hilfe zur Unterbringung (Näheres bestimmt der §24) in Betracht.

Für bestimmte Maßnahmen ist gemäß §43 ein Kostenbeitrag zu leisten:

"§43. (1) Zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach §5 Z1 bis 4, der Beschäftigungstherapie nach §22, der Hilfe zur Unterbringung nach §24 und zu den Fahrt- und Beförderungskosten nach §17 haben der Behinderte, dessen Ehegatte (auch der unterhaltspflichtige geschiedene Ehegatte) sowie die Eltern

1. Grades für minderjährige Kinder 1. Grades nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen Kostenbeiträge zu leisten.

(2) Ein Kostenbeitrag ist unbeschadet des Abs3 erst dann zu leisten, wenn und soweit das Gesamteinkommen (§11) des Beitragspflichtigen den vierfachen Richtsatz der Sozialhilfe für einen Alleinunterstützten übersteigt. Diese Einkommensgrenze erhöht sich für jeden Angehörigen, für den der Beitragspflichtige auf Grund einer gesetzlichen Verpflichtung überwiegend sorgt, um den einfachen Richtsatz der Sozialhilfe für einen Mitunterstützten.

(3) Wird im Rahmen einer Maßnahme durch Unterbringung und Verpflegung der Lebensunterhalt des Behinderten sichergestellt, ist ein Kostenbeitrag zu leisten, wenn und soweit das Einkommen des Beitragspflichtigen den eineinhalbfachen Richtsatz der Sozialhilfe für einen Alleinunterstützten zuzüglich der Mietbeihilfe übersteigt. Diese Grenze erhöht sich für jeden Angehörigen, für den der Beitragspflichtige auf Grund einer gesetzlichen Verpflichtung überwiegend sorgt, um den eineinhalbfachen Betrag des Richtsatzes der Sozialhilfe für einen Mitunterstützten. Das Einkommen des Behinderten selbst ist in diesen Fällen bis auf einen Betrag in der Höhe des halben Richtsatzes der Sozialhilfe für einen Alleinunterstützten zur Gänze zum Kostenersatz heranzuziehen.

(4) Der die in Abs2 und 3 bezeichneten Einkommensgrenzen übersteigende Teil des Einkommens ist je nach Art und Umfang der Maßnahme unter Bedachtnahnme auf eine zumutbare Belastung des Beitragspflichtigen ganz oder teilweise zum Kostenbeitrag heranzuziehen. Für gleichartige und regelmäßig vorkommende Maßnahmen können durch Verordnung der Landesregierung nähere Vorschriften über die Höhe des Kostenbeitrages erlassen werden.

(5) In besonderen sozialen Härtefällen kann von der Verpflichtung zur Leistung eines Kostenbeitrages ganz oder teilweise abgesehen werden, wenn durch die Leistung des Kostenbeitrages der Erfolg der Maßnahme in Frage gestellt wäre."

Das im §43 erwähnte "Gesamteinkommen" wird im §11 wie folgt definiert:

"§11. (1) Gesamteinkommen ist die Summe aller Einkünfte einer Person nach Abzug des zur Erzielung dieser Einkünfte notwendigen Aufwandes. Als Einkünfte gelten alle Bezüge in Geld oder Geldeswert einschließlich des Unterhaltsanspruches nach Maßgabe des §12 Abs1.

(2) Bei Feststellung des Gesamteinkommens bleiben außer Betracht:

  1. 1. die Familienbeihilfen nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376,

  1. 2. Bezüge aus Leistungen der Sozialhilfe und der freien Wohlfahrtspflege,

  1. 3. Einkünfte, die wegen des besonderen körperlichen Zustandes gewährt werden (Hilflosenzuschüsse, Hilflosenzulagen, Blindenbeihilfen, usw.),

  1. 4. Lehrlingsentschädigungen in der Höhe des Richtsatzes der Sozialhilfe, der für den Lehrling nach seinem Familienstand anzuwenden wäre,

5. Sonderzahlungen.

(3) Die Bestimmung des Abs2 Z1 gilt nicht für die Bemessung und Leistung von Kostenbeiträgen (§43) zu Maßnahmen, mit denen die volle Unterbringung und Verpflegung der Behinderten verbunden ist."

c) Der in der vorstehenden lita) zitierte Bescheid wird im wesentlichen damit begründet, daß im vorliegenden Fall §43 Abs3 BehindertenG anzuwenden sei; das Einkommen des Behinderten selbst sei in diesen Fällen bis auf einen Betrag in der Höhe des halben Richtsatzes der Sozialhilfe für einen Alleinunterstützten zur Gänze zum Kostenersatz heranzuziehen; gemäß §11 Abs3 leg.cit. zähle hier auch die Familienbeihilfe zum Einkommen.

3. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte und die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird:

Primär wird vorgebracht, §43 Abs3 iVm §11 Abs3

BehindertenG (wonach bei Feststellung des Gesamteinkommens des Behinderten auch die Familienbeihilfe zu berücksichtigen sei und wodurch eine Kostenabwälzung vom Land auf den Bund bewirkt werde) verstoße einerseits gegen §2 F-VG 1948 und gegen die "verfassungsrechtliche Rücksichtnahmepflicht zwischen Bundes- und Landesgesetzgeber", andererseits gegen das Gleichheitsgebot; in eventu wird behauptet, die Behörde habe dem Gesetz fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt, weil die Familienbeihilfe nur dann als Bestandteil des Einkommens behandelt werden dürfe, wenn mit der Maßnahme, für die der Kostenbeitrag vorgeschrieben wird, die volle Unterbringung und Verpflegung des Behinderten verbunden ist.

4. Die Wiener Landesregierung erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde begehrt.

§43 Abs3 iVm §11 Abs3 des BehindertenG sei verfassungskonform.

Den den Gesetzesvollzug betreffenden Vorwürfen des Beschwerdeführers hält die Behörde entgegen:

"Im vorliegenden Fall ist der Beschwerdeführer in einer Wohngemeinschaft des Vereines 'Wiener Sozialdienste' untergebracht und ist mit dieser Maßnahme die volle Unterbringung und Verpflegung des Behinderten verbunden. Daran ändert nichts, daß dem Beschwerdeführer tagsüber im Rahmen der humanisierten Werkstätten Beschäftigungstherapie gewährt und dieser dort auch betreut wird, wird doch durch die aus öffentlichen Mitteln finanzierte Unterbringung und Verpflegung in der Wohngemeinschaft der Behinderte der Sorgen um seinen Lebensunterhalt enthoben. Zudem wird die Gewährung der Beschäftigungstherapie im Rahmen der humanisierten Werkstätten ebenfalls aus öffentlichen Mitteln bestritten, ohne daß hiefür dem Beschwerdeführer eigens ein Kostenersatz vorgeschrieben wurde."

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10413/1985, 11682/1988) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt ua. in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 und die dort angeführte Rechtsprechung; VfSlg. 10338/1985, 11213/1987).

2. Hier hat die Behörde das Ermittlungsverfahren in einem wesentlichen Punkt unterlassen:

Sie hat bei Feststellung des vom Beschwerdeführer bezogenen Gesamteinkommens, das der Bemessung des Kostenbeitrages zugrundegelegt wurde, auch die Familienbeihilfe hinzugerechnet. Dies ist aber nach §43 Abs3 iVm §11 Abs3 BehindertenG nur dann zulässig, wenn "im Rahmen dieser Maßnahme durch Unterbringung und Verpflegung der Lebensunterhalt des Behinderten sichergestellt" wird. Der Verfassungsgerichtshof hegt gegen eine die Heranziehung der Familienbeihilfe für Sozialhilfemaßnahmen, durch die der Lebensunterhalt (einschließlich Unterbringung und Verpflegung) vollends gesichert ist, vorsehende Bestimmung keine verfassungsrechtlichen Bedenken; die Intention des Bundesgesetzgebers, der §12a FLAG erlassen hat, schließt eine solche Heranziehung nicht aus; die Familienbeihilfe ist als Betreuungshilfe gedacht, die ausschließlich für jene Person, für die sie bezahlt wird, zu verwenden ist (vgl. OGH 10.7.1991 Zl. 1 Ob 565/91). Dieser Verwendungszweck wird durch eine sozialhilferechtliche Kostenbeitragsregelung jedenfalls dann nicht unterlaufen, wenn sie den geschilderten Inhalt hat.

Dem angefochtenen Bescheid zufolge wurde der Kostenbeitrag "für die Unterbringung im Rahmen des Vereines Wiener Sozialdienste" vorgeschrieben. Die Behörde hat sich nun im Bescheid nicht damit auseinandergesetzt (sie hat auch in dieser Hinsicht keinerlei Ermittlungsverfahren durchgeführt), ob durch diese Maßnahme dem Beschwerdeführer der Lebensunterhalt (der nicht bloß Unterkunft und Verpflegung, sondern auch andere Bedürfnisse, etwa Kleidung und weitere Anliegen umfassen kann) vollends gesichert wird. Der Beschwerdeführer "pendelt" nämlich zur Beschäftigungstherapie tagsüber aus, sodaß nicht von vornherein feststeht, daß das erwähnte Ziel durch die Unterbringung in der Wohngemeinschaft zu erreichen ist.

Daraus folgt, daß der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt wurde. Der Bescheid war daher aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.500 enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

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