VfGH B1368/90

VfGHB1368/9013.6.1992

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Verweigerung der Einsichtnahme in Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes nach Aufhebung der die Beschränkung der Einsichtnahme auf bestimmte Personengruppen normierenden Regelung des OGHG durch den Verfassungsgerichtshof; keine Anwendbarkeit von Bestimmungen über die Akteneinsicht

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
OGHG §15 Abs2
StPO §82
ZPO §219
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
OGHG §15 Abs2
StPO §82
ZPO §219

 

Spruch:

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Justiz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit 15.000,-- S bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Präsident des Obersten Gerichtshofes teilte dem Beschwerdeführer auf dessen Antrag, ihm und seinen juristischen Mitarbeitern zum Zweck der Lösung mehrerer Probleme, die er im Rahmen seiner Rechtsanwaltskanzlei zu behandeln habe, in sämtliche seit dem 1. Jänner 1986 ergangene Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes Einsicht zu gewähren und ihm von solchen - noch zu bezeichnenden - Entscheidungen Vervielfältigungen zu überlassen, mit, daß ihm eine Einsichtnahme in nicht veröffentlichte Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes und die Herstellung von Ablichtungen hievon "mangels gesetzlicher Grundlagen (vgl. §§15 Abs2, 23 Abs3 OGHG) nicht genehmigt werden" könne.

Der Bundesminister für Justiz wies die gegen diese Erledigung gerichtete Berufung mit Bescheid als unzulässig zurück, wobei er zur Begründung ausführte, daß dem Schreiben des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes nicht Bescheidqualität zukomme. Ergänzend wurde bemerkt, daß selbst dann, wenn dieses Schreiben einen Bescheid darstelle, der Berufung ein Erfolg versagt bleiben müßte, weil die Vorschrift des §15 Abs2 des Bundesgesetzes über den Obersten Gerichtshof, BGBl. 328/1968 (im folgenden: OGHG), über die Gewährung von Einsicht in Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes nur für eine bestimmte Kategorie von Universitätsprofessoren gelte und daher auf Rechtsanwälte (auch im Wege der Analogie) keine Anwendung finden könne.

2.a) Aus Anlaß der gegen diesen Bescheid gerichteten, auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerde beschloß der Verfassungsgerichtshof, die Verfassungsmäßigkeit des §15 Abs2 OGHG von Amts wegen zu prüfen und hob mit Erkenntnis vom 28. Juni 1990 G315/89, G67/90, diese Gesetzesbestimmung als verfassungswidrig auf, wobei er für das Außerkrafttreten eine Frist bis zum Ablauf des 31. Mai 1991 bestimmte.

b) In der Folge hob der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 27. September 1990 B1438/88, den Bescheid des Bundesministers für Justiz auf, weil der Beschwerdeführer durch diesen Bescheid wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt worden war.

c) Der Bundesminister für Justiz gab daraufhin mit (Ersatz-)Bescheid vom 20. November 1990 der Berufung des Beschwerdeführers nicht Folge und bestätigte die (als Bescheid gewertete) Erledigung des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes.

Begründend wurde der Sache nach im wesentlichen ausgeführt: Durch die Aufhebung des im ersten Rechtsgang erlassenen Berufungsbescheides sei das Berufungsverfahren in jenen Stand zurückgetreten, in dem es sich vor der Erlassung dieses Bescheides befunden habe. Die Aufhebung des §15 Abs2 OGHG durch das (unter I.2.a zitierte) Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes sei für den vorliegenden Fall wirksam, weil dieser den Anlaß für die Aufhebung dieser Gesetzesbestimmung gebildet habe. Bei der Erlassung des Ersatzbescheides habe die Behörde auf dieses Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes Bedacht zu nehmen. Nach den Ausführungen unter Punkt III.B.3.e (S 14) dieses Erkenntnisses sei mit der Aufhebung des §15 Abs2 OGHG die darin normierte Beschränkung der Gewährung von Einsicht in Erkenntnisse des Obersten Gerichtshofes auf den dort umschriebenen Personenkreis beseitigt worden und somit das Hindernis weggefallen, das - unbeschadet der allenfalls durch sonstige Rechtsvorschriften gezogenen Grenzen - der von Verfassungs wegen gebotenen Zugänglichkeit der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes entgegenstehe. Demnach sei die Einsicht in Gerichtsakten und somit auch in gerichtliche Entscheidungen nur in dem durch §219 ZPO bzw. §82 StPO umschriebenen Umfang und nur für den in diesen Bestimmungen umschriebenen Personenkreis möglich. Daß die Einsichtnahme - entgegen diesen Bestimmungen - grundsätzlich jedermann zustünde, könne mangels einer dies gegenwärtig vorsehenden Rechtsvorschrift nicht angenommen werden.

3. Gegen den Ersatzbescheid des Bundesministers für Justiz richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, mit der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

4. Der Bundesminister für Justiz als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt. Eine Gegenschrift wurde nicht erstattet.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Nach Aufhebung des im ersten Rechtsgang bekämpften Bescheides durch den Verfassungsgerichtshof hatte die belangte Behörde den Ersatzbescheid gemäß Art140 Abs7 zweiter Satz B-VG unter Außerachtlassung des als verfassungswidrig aufgehobenen §15 Abs2 OGHG zu erlassen (vgl. etwa VfSlg. 3674/1960, 3961/1961, 8934/1980, 11057/1986). §15a OGHG, der die "Zugänglichkeit der Entscheidungen" des Obersten Gerichthofes neu regelt, ist erst mit 1. Jänner 1991 in Kraft getreten (s. dazu ArtIV §1 des Bundesgesetzes, mit dem das Bundesgesetz über den Obersten Gerichtshof, das Gerichtsorganisationsgesetz und das Gerichtsgebührengesetz geändert werden, BGBl. 20/1991) und war daher von der belangten Behörde bei der Erlassung des Ersatzbescheides nicht anzuwenden. Da somit im Zeitpunkt der Erlassung des Ersatzbescheides eine Änderung der Rechtslage (vgl. dazu etwa VfSlg. 6043/1969, 7597/1975, 569, 8397/1978) nicht eingetreten war, hatte die belangte Behörde im Sinne der Ausführungen in der Begründung des im Gesetzesprüfungsverfahren ergangenen Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes davon auszugehen, daß die in §15 Abs2 OGHG normiert gewesene Beschränkung der vom Beschwerdeführer begehrten Gewährung von Einsicht in Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes nicht mehr entgegensteht.

Der Antrag des Beschwerdeführers war auf Gewährung von Einsicht in Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes (wie sie in §15 Abs2 OGHG - einschränkend - geregelt war), und zwar nicht im Rahmen der Gewährung von Akteneinsicht iS der §§219 ZPO bzw. 82 StPO, gerichtet. Auch die Erstbehörde hat, wie die Zitierung der §§15 Abs2 und 23 Abs3 OGHG in ihrer Erledigung zeigt, den Antrag keineswegs als auf die Gewährung von Akteneinsicht iS der §§219 ZPO bzw. 82 StPO gerichtet verstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 28. Juni 1990 G315/89, G67/90 (Pkt. III.B.3.e) ausdrücklich hervorgehoben, daß mit der Aufhebung des §15 Abs2 OGHG die darin normierte Beschränkung der Gewährung von Einsicht in Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes auf den in dieser Bestimmung umschriebenen Personenkreis beseitigt und somit das Hindernis weggefallen ist, das - unbeschadet der allenfalls durch sonstige Rechtsvorschriften gezogenen Grenzen - der von Verfassungs wegen gebotenen Zugänglichkeit der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes entgegensteht. In Übereinstimmung damit hat der Verfassungsgerichtshof ferner im Erkenntnis vom 27. September 1990 B1438/88, mit dem er den im ersten Rechtsgang erlassenen Bescheid der belangten Behörde aufhob, ausdrücklich festgestellt, daß die Anwendung des als verfassungswidrig aufgehobenen §15 Abs2 OGHG offenkundig für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war. Unter diesen Umständen hatte die belangte Behörde bei der Erlassung des Ersatzbescheides davon auszugehen, daß der vom Beschwerdeführer begehrten Gewährung von Einsicht in Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes weder §15 Abs2 OGHG noch eine andere Vorschrift dieses Gesetzes (aber auch keine sonstige Rechtsvorschrift) entgegenstand. Sie konnte daher den Ersatzbescheid nicht in vertretbarer Weise auf die §§219 ZPO und 82 StPO stützen. Der Beschwerdeführer wurde somit durch diesen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt.

2. Der Bescheid war daher aufzuheben, ohne daß zu prüfen war, ob der Beschwerdeführer auch in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt wurde.

3. Dies konnte gemäß §19 Abs4 Z2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer von 2.500,-- S enthalten.

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