VfGH G190/91

VfGHG190/9112.10.1991

Zuständigkeit der Gemeinde zur Bewilligung einer Ausnahme von einem von der Gemeinde in Ausübung der örtlichen Straßenpolizei erlassenen Fahrverbot auf einer Rodelstraße im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde; Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Bezeichnungspflicht von Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde durch die Einschränkung auf die Erteilung von Ausnahmebewilligungen auf Halte-, Park- und Hupverbote in der Straßenverkehrsordnung; keine Aufhebung des §45 Abs2 StVO 1960 über die Erteilung von Ausnahmebewilligungen infolge Beseitigung des Mangels der Bezeichnungspflicht durch Aufhebung der Einschränkung in §94d Z6 StVO 1960

Normen

B-VG Art118 Abs2
B-VG Art118 Abs3 Z4
StVO 1960 §45 Abs2
StVO 1960 §87 Abs1
StVO 1960 §94d Z13
StVO 1960 §94d Z6
B-VG Art118 Abs2
B-VG Art118 Abs3 Z4
StVO 1960 §45 Abs2
StVO 1960 §87 Abs1
StVO 1960 §94d Z13
StVO 1960 §94d Z6

 

Spruch:

1. Die Wortfolge "nach Z. 4" in §94d Z. 6 der Straßenverkehrsordnung 1960, BGBl. Nr. 159, idF der 6. StVO-Novelle 1976, BGBl. Nr. 412, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

2. §45 Abs2 der Straßenverkehrsordnung 1960, BGBl. Nr. 159, idF der 3. StVO-Novelle 1969, BGBl. Nr. 209, der 6. StVO-Novelle 1976, BGBl. Nr. 412, und der 16. StVO-Novelle 1989, BGBl. Nr. 562, wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Aus Anlaß der zu B1031/90 beim Verfassungsgerichtshof anhängigen Beschwerde gegen die Verweigerung einer Ausnahmebewilligung von der Festlegung eines allgemeinen Fahrverbotes auf einem als "Rodelstraße" gewidmeten Gemeindeweg beschloß der Verfassungsgerichtshof von Amts wegen, §45 Abs2 sowie die Wortfolge "nach Z. 4" in §94d Z. 6 StVO 1960 gemäß Art140 Abs1 B-VG auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Er hegte das Bedenken, daß es sich bei der Bewilligung einer Ausnahme von einem Fahrverbot, das wegen der Widmung eines Gemeindeweges als Rodelstraße von einer Gemeinde in deren eigenem Wirkungsbereich festgelegt wurde, ebenfalls um eine in den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde gemäß Art118 Abs2 in Verbindung mit Art118 Abs3 Z. 4 B-VG fallende Angelegenheit handle, ohne daß der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Bezeichnungspflicht gemäß Art118 Abs2 letzter Satz B-VG diesbezüglich nachgekommen sei.

2. Die Bundesregierung beschloß von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand zu nehmen und stellte für den Fall der Aufhebung den Antrag, der Verfassungsgerichtshof wolle gemäß Art140 Abs5 B-VG für das Außerkrafttreten eine Frist von einem Jahr bestimmen, um die allenfalls erforderlichen legistischen Vorkehrungen zu ermöglichen.

II. 1. Die relevanten gesetzlichen Bestimmungen der StVO 1960 lauten:

"§45. Ausnahmen in Einzelfällen.

(1) Die Behörde kann auf Antrag durch Bescheid die Benützung von Straßen mit einem Fahrzeug oder einer Ladung mit größeren als den zulässigen Maßen und Gewichten bewilligen, wenn das Vorhaben im besonderen Interesse der österreichischen Volkswirtschaft liegt, sich anders nicht durchführen läßt und keine erheblichen Erschwerungen des Verkehrs und keine wesentlichen Überlastungen der Straße verursacht. Antragsberechtigt sind der Fahrzeugbesitzer oder die Person, für welche die Beförderung durchgeführt werden soll. Liegt bereits eine entsprechende kraftfahrrechtliche Bewilligung vor, so ist eine Bewilligung nach diesem Absatz nicht erforderlich.

(2) In anderen als den in Abs1 bezeichneten Fällen kann die Behörde Ausnahmen von Geboten oder Verboten, die für die Benützung der Straße gelten, auf Antrag bewilligen, wenn ein erhebliches persönliches (wie z. B. auch wegen einer schweren Körperbehinderung) oder wirtschaftliches Interesse des Antragstellers eine solche Ausnahme erfordert, oder wenn sich die ihm gesetzlich oder sonst obliegenden Aufgaben anders nicht oder nur mit besonderen Erschwernissen durchführen ließen und eine wesentliche Beeinträchtigung von Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs nicht zu erwarten ist.

(2 a) Die Behörde hat Ausnahmen von Verkehrsbeschränkungen und Verkehrsverboten (§43 Abs2 lita) nur für Fahrten zu bewilligen, die ausschließlich der Beförderung von Milch, Schlacht- und Stechvieh, leicht verderblichen Lebensmitteln, von periodischen Druckwerken, unaufschiebbaren Reparaturen an Kühlanlagen, oder dem Einsatz von Fahrzeugen des Straßenerhalters zur Aufrechterhaltung des Straßenverkehrs dienen. In allen anderen Fällen ist eine Ausnahmebewilligung nur zu erteilen, wenn daran ein erhebliches öffentliches Interesse besteht. Der Antragsteller hat in beiden Fällen glaubhaft zu machen, daß die Fahrt weder durch organisatorische Maßnahmen noch durch die Wahl eines anderen Verkehrsmittels vermieden werden kann.

(2 b) Eine Bewilligung nach Abs2 kann auch für alle Straßenbenützungen des Antragstellers von der annähernd gleichen Art für die Dauer von höchstens zwei Jahren, nach Abs2 a für die Dauer von höchstens sechs Monaten, erteilt werden, wenn für die Dauer dieser Befristung eine erhebliche Änderung der Verkehrsverhältnisse nicht zu erwarten ist.

(3) Eine Bewilligung (Abs1, 2, 2 a oder 4) ist, wenn es die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs oder der Schutz der Bevölkerung und der Umwelt erfordert, bedingt, befristet, mit Auflagen oder unter Vorschreibung der Benützung eines bestimmten Straßenzuges zu erteilen. Die Behörde hat im Falle einer Bewilligung nach Abs1 den Ersatz der dem Straßenerhalter aus Anlaß der ausnahmsweisen Straßenbenützung erwachsenden Kosten (z. B. für die Stützung von Brücken, für die spätere Beseitigung solcher Vorkehrungen und für die Wiederinstandsetzung) und, wenn nötig, eine vor der ersten ausnahmsweisen Straßenbenützung zu erlegende angemessene Sicherheitsleistung vorzuschreiben.

(4) Eine Bewilligung kann für die in der Verordnung gemäß §43 Abs2 a angegebenen Kurzparkzonen auf die Dauer von höchstens einem Jahr erteilt werden. Der Antragsteller muß in dem gemäß dieser Verordnung umschriebenen Gebiet wohnhaft und Zulassungsbesitzer eines Personen- oder Kombinationskraftwagens sein und muß ein erhebliches persönliches Interesse nachweisen, in der Nähe seines Wohnsitzes zu parken.

(5) Behördliche Erledigungen gemäß den vorstehenden Absätzen können im Wege der automationsunterstützten Datenverarbeitung ohne Unterschrift hergestellt und ausgefertigt werden."

"§87. Wintersport auf Straßen.

(1) Auf Straßen im Ortsgebiet, auf Bundes-, Landes- und Vorrangstraßen ist die Ausübung von Wintersport verboten, sofern eine solche Straße für den Fahrzeugverkehr nicht auf Grund der folgenden Bestimmung gesperrt oder auf Grund der Witterungsverhältnisse unbenützbar ist. Wenn es das öffentliche Interesse erfordert und keine erheblichen Interessen am unbehinderten Straßenverkehr entgegenstehen, kann die Behörde durch Verordnung einzelne Straßen von dem Verbot der Ausübung von Wintersport ausnehmen und für den übrigen Fahrzeugverkehr sperren.

(2) - (3) ..."

"§94 d. Eigener Wirkungsbereich der Gemeinde.

Sofern der Akt der Vollziehung nur für das Gebiet der betreffenden Gemeinde wirksam werden und sich auf Straßen, die nach den Rechtsvorschriften weder als Autobahnen, Autostraßen, Bundesstraßen oder Landesstraßen gelten noch diesen Straßen gleichzuhalten sind, beziehen soll, sind folgende Angelegenheiten von der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich zu besorgen:

1. - 3 a. ....

4. die Erlassung von Verordnungen nach §43, mit denen Beschränkungen für das Halten und Parken oder ein Hupverbot erlassen werden,

4 a. - 5. ...

6. die Bewilligung von Ausnahmen (§45) von den nach Z. 4 erlassenen Beschränkungen und Verboten,

7. - 12. ...

13. die Erlassung von Verordnungen nach §87 Abs1 (Wintersport auf Straßen),

14. - 20. ..."

2. Die in Prüfung gezogenen Bestimmungen der StVO 1960 sind für die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes über die - zulässige - Beschwerde präjudiziell.

Da auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist das Gesetzesprüfungsverfahren gemäß Art140 Abs1 B-VG zulässig.

3. Die im Gesetzesprüfungsbeschluß geäußerten Bedenken haben sich als zutreffend erwiesen. Die Bewilligung einer Ausnahme von einem im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde auf einem Gemeindeweg erlassenen Fahrverbot im Zuge der Widmung des Weges als "Rodelstraße" gemäß §45 Abs2 in Verbindung mit §87 Abs1 StVO 1960 liegt im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde, ohne daß der Gesetzgeber diesbezüglich seiner Bezeichnungspflicht nach Art118 Abs2 letzter Satz B-VG nachgekommen ist.

a. Der Verfassungsgerichtshof hat zwar in VfSlg. 6944/1972 - anders als der Verwaltungsgerichtshof in VwSlg. 7635A/1969 und 7762A/1970 (beide unter Berufung auf VwSlg. 7383A/1968) - Ausnahmen von Fahrverboten nach §45 Abs2 StVO 1960 nicht dem eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde zugeordnet. Er hat dies in jenem Erkenntnis aber ausdrücklich nur für Fahrverbote ausgesprochen, die der Regelung des fließenden Verkehrs dienen, weil dabei "örtliche und überörtliche Interessen vielfach ineinander fließen". Er ging sohin davon aus, daß die Regelung des fließenden Verkehrs nur unter Bedachtnahme auf ein überörtliches Konzept erfolgen kann.

Kein derartig überwiegendes überörtliches Interesse besteht jedoch an der Erteilung einer Ausnahmebewilligung von einem Fahrverbot gemäß §87 Abs1 zweiter Satz StVO 1960, soweit bereits die Erlassung dieses Verbots wegen des daran bestehenden mindestens überwiegenden Interesses der in der Gemeinde verkörperten örtlichen Gemeinschaft im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde liegt (vgl. §94d Z. 13 StVO 1960).

Es liegt sohin nicht nur die Sperre bestimmter Straßen für den Fahrzeugverkehr zum Zwecke der Ausübung des Wintersports gemäß §87 Abs1 zweiter Satz StVO 1960 - insoweit im Einklang mit §94d Z. 13 StVO 1960 - mit Rücksicht auf die begrenzte Reichweite einer derartigen Maßnahme sowie wegen ihrer minderen Bedeutung für den fließenden Verkehr im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde. Es muß vielmehr auch die Entscheidung über die Erteilung einer Ausnahmebewilligung von einem derartigen von der Gemeinde verhängten Fahrverbot gemäß §45 Abs2 StVO 1960 als im überwiegenden Interesse der in der Gemeinde verkörperten örtlichen Gemeinschaft liegend angesehen werden. Die Verkehrsinteressen, die gemäß §45 Abs2 StVO 1960 den persönlichen oder wirtschaftlichen Interessen des Antragstellers um eine Ausnahmebewilligung gegenüberzustellen sind, müssen nämlich vor dem Hintergrund des von der Gemeinde aufgrund ihrer Interessenlage zu Wintersportzwecken verhängten Fahrverbots beurteilt werden.

Daß die Erteilung von Ausnahmebewilligungen von Fahrverboten, welche die Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich mit Verordnung erlassen hat, im Sinne des Art118 Abs2 B-VG auch geeignet ist, "durch die Gemeinschaft innerhalb ihrer örtlichen Grenzen besorgt zu werden", ergibt sich schon daraus, daß beim individuellen Verwaltungsakt der Ausnahme vom generellen Verwaltungsakt des Fahrverbotes ähnliche gesetzliche Voraussetzungen zu prüfen sind, die durchaus vergleichbare, für die Zugehörigkeit zum eigenen Wirkungsbereich typische Anforderungen an die Verwaltung stellen.

Bei der auf §45 Abs2 StVO 1960 gestützten Bewilligung einer Ausnahme von einem Fahrverbot nach §87 Abs1 zweiter Satz StVO 1960 handelt es sich sohin insoweit um eine im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde gelegene Maßnahme als auch das Fahrverbot gemäß §87 Abs1 zweiter Satz StVO 1960 von der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich zu erlassen ist (vgl. §94d Z. 13 StVO 1960).

b. Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde sind gemäß Art118 Abs2 letzter Satz B-VG vom einfachen Gesetzgeber ausdrücklich als solche zu bezeichnen. Dieser verfassungsrechtlichen Bezeichnungspflicht ist der Gesetzgeber in §94d StVO 1960 bei der Aufzählung der in den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde fallenden, in der StVO 1960 geregelten Angelegenheiten dadurch nur ungenügend nachgekommen, daß er unter der Z. 6 des §94d die Bewilligung von Ausnahmen gemäß §45 von den von der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich erlassenen Beschränkungen und Verboten einschränkend nur unter der Voraussetzung dem eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde zuordnete, daß die Ausnahmen Beschränkungen und Verbote "nach Z. 4" und nicht auch solche nach Z. 13 betreffen. Die in Erfüllung der verfassungsrechtlichen Bezeichnungspflicht gemäß Art118 Abs2 letzter Satz B-VG vom Gesetzgeber in §94d StVO 1960 unter der Z. 6 vorgenommene Einschränkung auf Ausnahmebewilligungen von den "nach Z. 4" erlassenen Beschränkungen und Verboten ist sohin verfassungswidrig. Durch Aufhebung der Wortfolge "nach Z. 4" wird die Verfassungswidrigkeit beseitigt und der verfassungsrechtlichen Bezeichnungspflicht im Hinblick auf Ausnahmebewilligungen von den von der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich erlassenen Beschränkungen und Verboten Rechnung getragen. Die Wortfolge "nach Z. 4" in §94d Z. 6 StVO 1960 war sohin als verfassungswidrig aufzuheben.

Bei diesem Ergebnis des Gesetzesprüfungsverfahrens erübrigt es sich, §45 Abs2 StVO 1960 als verfassungswidrig aufzuheben. Durch diese Bestimmung wird die behördliche Bewilligung von Ausnahmen von Geboten oder Verboten, die für die Benützung von Straßen gelten, ganz allgemein geregelt. Nach Aufhebung der genannten Wortfolge im §94d Z. 6 StVO 1960 leidet §45 Abs2 StVO 1960 nicht länger am Mangel der verfassungsrechtlichen Bezeichnungspflicht gemäß Art118 Abs2 letzter Satz B-VG, weil danach Ausnahmebewilligungen von den von der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich erlassenen Beschränkungen und Verboten, darunter auch von Verboten nach §87 Abs1 zweiter Satz StVO 1960 als Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde durch §94d Z. 6 StVO 1960 bezeichnet sind.

III. Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Wortfolge in §94d Z. 6 StVO 1960

erwies sich schon deshalb als nicht notwendig, weil weitere legistische Vorkehrungen nicht notwendig sind und das Gesetz der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Bezeichnung gemäß Art118 Abs2 B-VG nunmehr hinsichtlich der Erteilung von Ausnahmebewilligungen ausreichend Rechnung trägt.

Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung des aufhebenden Teiles des Spruches erfließt aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VerfGG 1953.

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