VfGH B746/87

VfGHB746/879.6.1988

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; die bloß theoretische Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung stellt noch nicht den Haftgrund nach §175 Abs1 Z3 StPO Verdunkelungsgefahr her nicht vor; Verletzung des Rechtes auf persönliche Freiheit durch gesetzwidrige Festnahme und Anhaltung

Art3 MRK; keine Verletzung durch die Art und Weise der polizeilichen Anhaltung

Normen

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art8
StPO §175 Abs1 Z3
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art8
StPO §175 Abs1 Z3

 

Spruch:

Der Bf. ist dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien ihn am 10. Juni 1987, um 15 Uhr 50, festnahmen und bis etwa 18 Uhr desselben Tages in Haft hielten, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Bf. zu Handen seines Vertreters die mit 11.000 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. K H beantragte mit seiner an den VfGH gerichteten Beschwerde nach Art144 (Abs1) B-VG der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, er sei am 10. Juni 1987 in Wien dadurch, daß ihn Organe der dortigen Bundespolizeidirektion festgenommen und bis zum Abend dieses Tages in (Verwaltungs-)Haft gehalten hatten, und zwar ungeachtet seiner Haftunfähigkeit, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf persönliche Freiheit nach Art8 StGG (a)) und auf Unterlassung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art3 EMRK (b)) verletzt worden. Hilfsweise wurde die Abtretung der Beschwerde an den VwGH begehrt.

1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift. Darin trat die bel. Beh. dafür ein, die Beschwerde kostenpflichtig teils als unbegründet abzuweisen (: Anfechtungspunkt a)), teils als unzulässig zurückzuweisen (: Anfechtungspunkt b)).

1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß der Bf.

- ein querschnittgelähmter Rollstuhlbenützer - am 10. Juni 1987 um 15 Uhr 50 in Wien I., Kärntnerstraße, vor dem Kaufhaus Steffl, vom Streifendienst versehenden Sicherheitswachebeamten K K - auf belastende Angaben der Kaufhausdetektivin hin - wegen des Verdachtes des Vergehens des Gesellschaftsdiebstahls nach §127 Abs1 und Abs2 Z1 StGB (begangen kurz zuvor gemeinsam mit seiner - den Rollstuhl schiebenden - Begleiterin Eva Nettel durch Aneignung von Waren (: sieben Geldbörsen, zwei Schlüsseletuis und eine Herrenhandtasche) aus dem Besitz des genannten Handelsunternehmens) aus dem Haftgrund der Verdunkelungsgefahr nach §175 Abs1 Z3 iVm §177 (Abs1 Z2) StPO ohne richterlichen Befehl festgenommen wurde.

Der nach seiner Festnahme in Polizeigewahrsam gehaltene Bf. wurde noch am späten Nachmittag des 10. Juni 1987 nach polizeiärztlicher Feststellung seiner Haftunfähigkeit aus der Haft entlassen.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 10. September 1987, GZ 3b E Vr 6257/87-24 - abgeändert mit Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 24. November 1987, AZ 25 Bs 511/87 - , wurden Kurt Hödl und Eva Nettel des Vergehens des versuchten Diebstahls nach den §§15, 127 Abs1 und Abs2 Z1 StGB schuldig erkannt und zu Geldstrafen verurteilt, weil sie am 10. Juni 1987 in Wien in Gesellschaft als Beteiligte sieben Geldbörsen, zwei Schlüsseletuis und eine Herrenhandtasche im Gesamtwert von 2.740 S Verfügungsberechtigten des Kaufhauses Steffl zu stehlen versucht hatten.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8146/1977, 9836/1983). Dabei wird unter dieser einer Beschwerdeführung zugänglichen "Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt" in der Bedeutung des Art144 Abs1 B-VG - nach herrschender Judikatur - nicht nur das "Ob", sondern auch das "Wie", d.h. also die konkrete Gestaltung des jeweiligen Verwaltungsaktes verstanden (s. zB VfSlg. 8126/1977, 8580/1979, 10321/1985, 10680/1985).

2.1.2. Da hier ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.

2.2.1. Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Gesetzliche Bestimmungen iS des §4 leg. cit. sind ua. die §§175 bis 177 StPO.

2.2.2.1. Der VfGH geht bei der rechtlichen Beurteilung der Sache unter dem Blickwinkel der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit davon aus, daß der Bf. - der nach Behauptung der bel. Beh. im Verdacht einer mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedrohten strafbaren Handlung stand - im Dienste der Strafjustiz ohne richterlichen Haftbefehl festgenommen und verwahrt wurde. Gemäß §177 Abs1 (§10 Z1) StPO dürfen ausnahmsweise auch Organe der Sicherheitsbehörden die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in dem hier vom einschreitenden Sicherheitswachebeamten (so auch die bel. Beh. (S 9 der Gegenschrift)) ausdrücklich herangezogenen und damit allein in Betracht kommenden und maßgebenden (s. VfSlg. 5232/1966, 10229/1984;

VfGH 8.6.1984 B288/80 (teilveröffentlicht unter VfSlg. 10019/1984);

VfSlg.10547/1985, 11335/1987, 11526/1987; vgl. auch VfSlg. 9393/1982 und 10975/1986) Fall des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr nach §175 Abs1 Z3 StPO zum Zweck der Vorführung vor den Untersuchungsrichter auch ohne schriftliche Anordnung verfügen.

2.2.2.2. Doch lag Kollusionsgefahr schon nach dem Inhalt der im Akt befindlichen Anzeige damals keinesfalls vor:

Denn nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH ist Verdunkelungsgefahr dann zu bejahen, wenn es wirklich zu einem Verdunkelungsversuch kam oder konkrete Anhaltspunkte darauf hinweisen, daß ein Versuch, die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen, unternommen werden würde

(vgl. VfSlg. 3770/1960, 6560/1971, 6910/1972, 9836/1983, 11526/1987).

Daß der Bf. bereits versucht habe, die Wahrheitsfindung zu stören, behauptet die bel. Beh. selbst nicht. Bestimmte Umstände, die darauf hindeuteten, daß ein solcher Versuch bevorstand, lagen - der Auffassung der belangten Polizeidirektion zuwider - gleichfalls nicht vor.

Die Kaufhausdetektivin hatte alle Waren, deren Diebstahl den beiden Verdächtigten zur Last gelegt wurde, im Zeitpunkt des Einschreitens des Wachebeamten (laut schriftlicher Meldung vom 10. Juni 1987) bereits sichergestellt. Die Behauptung der bel. Beh., es habe damals die Gefahr einer Verabredung (der Verdächtigten (nur) untereinander) bestanden, findet in der polizeilichen Meldung keine hinreichende Stütze. Die Verdächtigten stellten nicht etwa den von der Detektivin (und einer weiteren Zeugin) beobachteten tatsächlichen Geschehensablauf in Abrede, sondern leugneten bloß übereinstimmend - jeglichen Diebstahlsvorsatz; ihre Verantwortung ging dahin, daß sie die in Rede stehenden Sachen kaufen oder lediglich - vor dem Kaufhaus - besichtigen wollten. Unter diesen Umständen fehlte es ganz offensichtlich an konkreten Anhaltspunkten dafür, daß sich die Verdächtigten in einer die Sachverhaltsermittlung erschwerenden Weise wechselseitig beeinflussen wollten.

Die bloße theoretische Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung aber stellt noch nicht den Haftgrund nach §175 Abs1 Z3 StPO her (vgl. VfSlg. 3770/1960, 3780/1960, 9836/1983, 11526/1987).

Der VfGH vermag hier, wie zusammenfassend festzuhalten bleibt, das Vorliegen des - nach dem bereits Gesagten allein relevierten - Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr nicht zu erkennen.

2.2.3. Schon daraus folgt, daß die Festnahme und die Anhaltung des Bf. gesetzwidrig waren, ohne daß es der Prüfung der Frage bedurfte, ob alle übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die bekämpfte Amtshandlung erfüllt sind.

2.2.4. Demgemäß wurde der Bf. - durch seine Festnahme und Anhaltung - im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

2.3. Hingegen kann der VfGH nach Lage des konkreten Falls nicht finden, daß die (schon an sich verfassungswidrige) polizeiliche Anhaltung des Bf. (überdies) erwiesenermaßen in einer Art und Weise - die Beschwerde rügt im gegebenen Zusammenhang (Beschwerdeschrift S 6) nur die damaligen Haftbedingungen - vor sich ging, die gegen Art3 EMRK verstoßen hätte:

Aus den Administrativakten erhellt, daß der Bf. nach der Festnahme nicht in einer Gefängniszelle verwahrt wurde, sondern im Parteienraum des zuständigen Kommissariats zu verweilen hatte. Ein Amtsarzt wurde - als der Bf. laut eigener Einlassung erst im Wachzimmer um ärztlichen Beistand bat - mit der gebotenen Beschleunigung angefordert und herbeigerufen; daß aber die Haft auch noch nach der amtsärztlichen Feststellung der Haftunfähigkeit des Häftlings aufrecht blieb, ist nicht mit Sicherheit feststellbar.

3.1. Die Kostenentscheidung (Punkt II. des Spruches) fußt auf §88 VerfGG 1953.

In dem zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1.000 S enthalten.

3.2. Diese Entscheidungen konnte der Verfassungsgerichtshof gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in einer der Norm des §7 Abs2 litc VerfGG 1953 genügenden Zusammensetzung treffen.

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