VfGH B1218/86

VfGHB1218/867.12.1987

Verhängung einer Verwaltungsstrafe gem.

ArtVIII zweiter Fall EGVG (Erregung ungebührlichen störenden Lärms durch Klavierspielen einer Konzertpianistin und Klavierpädagogin); Hinweis auf VfSlg. 10401/1985; die Strafnorm des ArtVIII EGVG ist ihrer Zielsetzung nach nicht darauf gerichtet, künstlerische Betätigung zu verhindern - in verfassungskonformer Auslegung erfordert ihre Anwendung eine Abwägung zwischen der durch Art17a StGG geschützten künstlerischen Freiheit und jenen Rechtsgütern, zu deren Zweck sie besteht; Abstellen der Entscheidung ausschließlich auf die Intensität der Lärmerregung ohne Beachtung der Frage künstlerischer Betätigung - durch Unterlassen jeglicher Abwägung Verletzung im Recht auf Freiheit der Kunst

Normen

StGG Art17a
EGVG ArtVIII. 2. Fall
StGG Art17a
EGVG ArtVIII. 2. Fall

 

Spruch:

Die Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Kunst verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Wien ist schuldig, der Bf. zuhanden des Beschwerdevertreters die mit 11.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Bf. ist Konzertpianistin und Klavierpädagogin. Mit einem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Wiener Landesregierung wurde über sie gemäß ArtVIII EGVG zweiter Fall eine Verwaltungsstrafe verhängt, weil sie an vier Tagen im März 1985 jeweils am späteren Vormittag durch Klavierspielen in der Dauer von jeweils einer halben Stunde ungebührlicherweise störenden Lärm erregt hat; das Berufungsvorbringen der Bf., daß sie bloß an Werktagen und zu Zeiten gespielt habe, in denen das Klavierspielen nicht unzumutbar gewesen sei und daß die Lärmmessungen unter verschiedenen Gesichtspunkten unzureichend gewesen seien, wurde verworfen.

2.a) Gegen diesen Bescheid wendet sich die auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde an den VfGH, in dem die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Freiheit der Kunst und auf Unversehrtheit des Eigentums sowie des Rechts gemäß Art6 Abs2 MRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheids, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den VwGH beantragt wird.

b) Die belangte Landesregierung hat die Verwaltungsakten vorgelegt und in einer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Gemäß ArtVIII EGVG, der seit der B-VG-Nov. BGBl. 444/1974 als Landesrecht gilt und der nach §2 Z3 des Wiener Rechtsbereinigungsgesetzes, LGBl. 5/1985, (iVm Pkt. 17 der Anlage hiezu) zu dem für dieses Verfahren maßgeblichen Zeitpunkt in Wien in Geltung stand, begeht eine Verwaltungsübertretung, wer "ungebührlicherweise störenden Lärm erregt".

2.a) Gemäß Art17a StGG (BGBl. 262/1982) sind das künstlerische Schaffen, die Vermittlung von Kunst sowie deren Lehre frei.

Ungeachtet der Tatsache, daß die Freiheit der Kunst ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist, bleibt - wie der VfGH in VfSlg. 10401/1985 dargetan hat - auch ein Künstler in seinem Schaffen an die allgemeinen Gesetze gebunden (sog. immanente Schranken der Kunstfreiheit; vgl. dazu Neisser, Die verfassungsrechtliche Garantie der Kunstfreiheit, ÖJZ 1983, 1 ff, insb. 7 ff, auch mit Hinweisen auf die Materialien). Der Gerichtshof hat im zitierten Erkenntnis (mwH) auch ausgeführt, daß eine allgemeine Verhaltensnorm wie etwa eine baurechtliche Vorschrift, das Verbot der unnötigen Erregung störenden Lärms oder eine Abgabepflicht für sich allein nicht als Beschränkung der Freiheit der Kunst gewertet werden kann. Unter Hinweis auf Berka (Die Freiheit der Kunst und ihre Grenzen im System der Grundrechte, JBl. 1983, 281 ff, hic: 289 f) hat er den Standpunkt eingenommen, daß erst die Kriterien, nach denen eine solche Vorschrift anzuwenden ist, nach Zielsetzung oder Auswirkung allenfalls mit dem Recht auf Freiheit der Kunst in Konflikt geraten könnten.

Nun ist die Strafnorm des ArtVIII EGVG ihrer Zielsetzung nach nicht darauf gerichtet, künstlerische Betätigung zu verhindern, doch kann ihre Anwendung zu Auswirkungen führen, die einer Behinderung des künstlerischen Schaffens oder der Vermittlung von Kunst oder ihrer Lehre gleichkommt. Es erfordert daher die Anwendung dieser Bestimmung eine Abwägung zwischen der durch Art17a StGG geschützten künstlerischen Freiheit und jenen Rechtsgütern, zu deren Schutz sie besteht. Schon im Bericht des Verfassungsausschusses des Nationalrates (978 BlgNR, 15. GP) wird in diesem Zusammenhang auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hingewiesen, nach dem auftretende Konfliktsituationen zu lösen sein werden (vgl. dazu auch Neisser, ÖJZ 1983, 8 f).

Hätte ArtVIII EGVG einen Inhalt, der ein Handeln auch dann mit Strafe bedroht, wenn dadurch eine künstlerische Tätigkeit iS des Art17a StGG unmöglich gemacht wird, ohne daß dies erforderlich ist, um ein anderes von der Rechtsordnung als schutzbedürftig anerkanntes Rechtsgut zu schützen, so wäre er im Hinblick auf diese (unverhältnismäßige) Auswirkung verfassungswidrig. Der relativ vage Begriff der ungebührlichen Erregung störenden Lärms, der auch nach der Judikatur des VwGH differenzierend angewendet werden kann (vgl. etwa VwSlg. 4186/A/1956; Erk. v. 4. 4. 1962, Zl. 1482/60), erlaubt jedoch eine verfassungskonforme Auslegung, derzufolge eine Bestrafung aus Anlaß einer durch Art17a StGG geschützten Betätigung nur unter Bedachtnahme auf die Umstände des Falles und nach Abwägung mit den durch Art17a StGG geschützten Interessen zulässig ist. ArtVIII EGVG ermöglicht somit nicht nur eine Abwägung mit grundrechtlich geschützten Positionen, sondern erfordert eine solche im Lichte des Art17a StGG auch (vgl. zum analogen Problem der Anwendung des Verwaltungsstraftatbestands der Anstandsverletzung in Beziehung zur verfassungsgesetzlich gewährleisteten Meinungsäußerungsfreiheit VfSlg. 10700/1985).

b) Obwohl die Behörde - wie sich aus dem Vorgesagten ergibt - von Verfassungs wegen gehalten gewesen wäre, bei ihrer Entscheidung deren Auswirkung auf die künstlerische Betätigung zu berücksichtigen, hat sie im Verfahren Aspekten der Kunstfreiheit überhaupt keine Bedeutung zugemessen. Sie ist zwar bei der Erlassung des angefochtenen Bescheides davon ausgegangen, daß nach der Judikatur des VwGH Lärm dann als störend zu qualifizieren ist, wenn er seiner Art und/oder Intensität nach geeignet ist, das Wohlbefinden normal empfindender Menschen zu beeinträchtigen und hat hiezu auf das Erk. des VwGH vom 25. 5. 1983, Z83/10/0078, verwiesen; in der Bescheidbegründung und auch schon in dem dem Bescheid vorangegangenen Ermittlungsverfahren hat sie jedoch der Frage der Art der Lärmerregung keine Bedeutung beigemessen und ihre Entscheidung ausschließlich auf die Intensität der Lärmerregung abgestellt. Sie hat damit insbesondere der Frage keine Beachtung geschenkt, ob das inkriminierte Verhalten im Zusammenhang mit einer künstlerischen Betätigung steht.

Nun dispensiert freilich auch eine künstlerische Betätigung nicht schlechthin von der Einhaltung der Vorschriften des ArtVIII EGVG, doch ist die Behörde bei Anwendung dieser Verwaltungsstrafnorm - wie dargetan - aus verfassungsrechtlichen Gründen gehalten, die Tatsache, daß es sich bei der inkriminierten Tätigkeit um eine im Schutzbereich des Art17a StGG liegende Betätigung handelt, abwägend zu berücksichtigen.

Der VfGH hätte unter dem Gesichtspunkt der von ihm wahrzunehmenden Prüfungskompetenz nicht zu beurteilen, ob die bel. Beh. das Gesetz rechtsrichtig angewendet hat. Da die Wiener Landesregierung aber die bei verfassungskonformer Gesetzesauslegung notwendige Abwägung überhaupt nicht vorgenommen hat, hat sie der angewendeten Rechtsvorschrift einen Inhalt unterstellt, der sie - hätte sie ihn - als verfassungswidrig erscheinen lassen würde. Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH (vgl. VfSlg. 10386/1985, 10615/1985, 10700/1985 und 10720/1985) hat sie damit den Bescheid mit Verfassungswidrigkeit belastet, weshalb spruchgemäß zu entscheiden war.

3. Diese Entscheidung konnte, da von einer mündlichen Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten war, gemäß §19 Abs4 VerfGG ohne mündliche Verhandlung getroffen werden.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG. Im zugesprochenen Betrag sind 1.000 S an Umsatzsteuer enthalten.

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