VfGH B553/84

VfGHB553/8416.10.1985

Art144 Abs1; keine Beschwerdelegitimation der Eltern des mj. Bf. gegen die Verhaftung ihres Kindes - Rechtssphäre der Eltern nicht berührt

StGG Art8; MRK Art5; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; ein Kind hat den selben Schutzanspruch gegen Freiheitsberaubung wie ein Erwachsener; psychisch erzwungenes anstandloses Mitkommen eines Mj. zum Gendarmeriepostenkommando; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit

Normen

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
B-VG Art144 Abs1 / Legitimation
EMRK Art5
StGG Art8
ABGB §137
ABGB §144
PersFrSchG §4
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
B-VG Art144 Abs1 / Legitimation
EMRK Art5
StGG Art8
ABGB §137
ABGB §144
PersFrSchG §4

 

Spruch:

I. Die Beschwerden des H H und der A H werden zurückgewiesen.

II. H H ist am 23. Mai 1984 in Kufstein, Tir., dadurch, daß ihn Beamte des Gendarmeriepostenkommandos Niederndorf verhaftet und einige Zeit angehalten haben, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Mit ihren an den VfGH gerichteten - gemeinsam ausgeführten - Beschwerden nach Art144 Abs1 B-VG begehren sowohl der am 23. Dezember 1973 geborene Schüler H H, vertreten durch seine Eltern H und A H, als auch H und A H im eigenen Namen der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, sie seien dadurch, daß Organe des Gendarmeriepostenkommandos Niederndorf (Bezirk Kufstein, Tir.) den eingangs genannten Unmündigen am 23. Mai 1984 in der Sprengelsonderschule Kufstein verhafteten und einige Zeit hindurch anhielten, demnach durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden.

1.2. Die Bezirkshauptmannschaft Kufstein als bel. Beh. erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und beantragte darin die Abweisung der Beschwerden.

2. Über die Beschwerden wurde erwogen:

2.1. Zu den Beschwerden des H und der A H

2.1.1. Wie der VfGH bereits wiederholt aussprach (vgl. VfSlg. 3669/1959; ferner VfSlg. 6716/1972, 7226/1973, 9107/1981, 9354/1982 ua. mehr), setzt die Beschwerdeberechtigung nach Art144 Abs1 B-VG zwingend voraus, daß der angefochtene Bescheid den Bf. in subjektiven Rechten verletzen konnte: Das ist nach dieser Judikatur - an der festgehalten wird - stets dann der Fall, wenn die dem Verwaltungsakt innewohnende Norm die Rechtsverhältnisse des Bf. selbst zu verändern oder festzustellen vermochte. Demgemäß kann von einem Eingriff in subjektive Rechte des Bf. nicht die Rede sein, wenn ausschließlich Rechte anderer Personen gestaltet oder festgestellt werden. Warum die Eltern durch die Verhaftung des Kindes in ihrer Rechtssphäre berührt sein sollen, ist in der Beschwerdeschrift nicht näher dargelegt. Offenbar fühlen sie sich im Recht auf Sorge für die Pflege und Erziehung des Kindes (§§137, 144, 146, 146b ABGB) beeinträchtigt, weil die Anhaltung das Ende der Unterrichtszeit in der Schule überdauert habe. Der VfGH kann aber nicht finden, daß die - nach dem Beschwerdevorbringen im Einvernehmen mit dem Leiter der Schule unternommene - Fest- und Anhaltung eines Zehnjährigen "zur Befragung und Abklärung des Tatherganges" durch einige Stunden ohne Hinzutreten besonderer - hier nicht behaupteter - Umstände das Sorgerecht der Eltern berührt.

2.1.2. Daraus folgt, daß die Beschwerden des H und der A H wegen fehlender Legitimation - als unzulässig - zurückzuweisen sind (Punkt I des Spruchs).

2.2. Zur Beschwerde des H H

2.2.1.1. Beweis wurde erhoben durch Einvernahme der Gendarmeriebeamten A S und H Z, des Sonderschuldirektors J L und der Sonderschullehrerin C R als Zeugen, ferner durch Einsichtnahme in die Administrativakten. Gestützt auf diese - in den entscheidenden Punkten im wesentlichen widerspruchsfreien - Aussagen und den Akteninhalt stellte der VfGH zunächst folgenden Sachverhalt als erwiesen fest:

2.2.1.2. Am 21. Mai 1984 wurde dem Gendarmeriepostenkommando Niederndorf eine Anzeige gegen unbekannte Täter wegen Tierquälerei und Sachbeschädigung (Tötung von Schafen) erstattet. Als im Zuge der daraufhin eingeleiteten Nachforschungen (ua. auch) der am 23. Dezember 1973 geborene Schüler H H in den Verdacht der Täterschaft geriet, begaben sich die Gendarmeriebeamten S und Z am 23. Mai 1984 um etwa 11.10 Uhr vormittags in das Gebäude der Sonderschule Kufstein, nahmen ihn dort - nach Absprache mit Schuldirektor J L (nicht aber auf Anordnung dieses Schulfunktionärs) - wegen Verdunkelungsgefahr (: Zeuge S) in ihre Obhut und schafften ihn zum Gendarmerieposten, wo er unter Gegenüberstellung mit anderen - mehrmals einvernommen wurde. Erst nach Stunden brachten die Beamten den Strafunmündigen heim und übergaben ihn seinen Eltern.

Der VfGH hegt nach den Umständen des Falles keinen Zweifel daran, daß der - nicht etwa vorgeladene - unmündige Bf. den Gendarmen keineswegs freiwillig folgte, sondern sich vielmehr verängstigt (: Zeugin R) der - auf seine Absonderung von der Umwelt zur Beseitigung der angenommenen Verdunkelungsgefahr abzielenden - Amtshandlung nach Lage der Dinge ohne jeden Widerstand altersgemäß zu fügen hatte, wie es auch von ihm offensichtlich erwartet und vorausgesetzt wurde (: Zeuge S).

2.2.1.3. Zusammenfassend ist das behördliche Vorgehen in seiner Gesamtheit ungeachtet der Tatsache, daß eine (strafprozessuale) Festnahme formal weder ausgesprochen wurde noch - wegen des kindlichen Alters des Betroffenen - ausgesprochen werden konnte, angesichts des (jedenfalls durch Aufforderung psychisch erzwungenen anstandslosen Mitkommens zum Gendarmeriepostenkommando - materiell gesehen und gewertet - einer "Verhaftung" (und Anhaltung) iS des Art8 StGG gleichzuhalten (vgl. VfSlg. 7829/1976, 8145/1977, 8359/1978, 8816/1980, 9114/1981, 10420/1985).

2.2.2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977).

2.2.2.1.2. Diese Bedingungen sind nach den einleitenden Sachverhaltsfeststellungen erfüllt.

2.2.2.2. Demgemäß ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, in vollem Umfang zulässig.

2.2.3.1. Nach der Vorschrift des Art8 StGG (iVm. Art5 MRK) ist die Freiheit der Person gewährleistet. Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1962, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Dabei hat, wie der VfGH schon in seinem Erk. VfSlg. 2951/1956 darlegte, ein Kind denselben Anspruch auf Schutz der persönlichen Freiheit wie ein Erwachsener, wenngleich hier der maßgebende Begriff der Freiheitsberaubung vernünftigerweise nur mit Bedachtnahme auf die Person des Angegriffenen ausgelegt und gedeutet werden kann.

2.2.3.2. Die bel. Beh. nennt keine Gesetzesvorschrift, in der die bekämpfte - die persönliche Freiheit des Bf. für Stunden (vollkommen) aufhebende - Amtshandlung Deckung fände. In der Tat war es schon deshalb unzulässig, den Bf., der im Verdacht eines gerichtlich strafbaren Vergehens stand, wegen Verabredungsgefahr zum Gendarmeriepostenkommando zu schaffen und dort anzuhalten und damit der Sache nach in Heranziehung der Vorschriften der StPO festzunehmen, weil er damals das Strafmündigkeitsalter noch nicht erreicht hatte.

Für das hier in der Beschwerde getadelte Verhalten der Behördeorgane gibt es aber auch keine anderen gesetzlichen Grundlagen.

2.2.3.3. Das bedeutet, daß der Bf. durch die angefochtenen Verwaltungsakte im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art5 MRK) verletzt wurde.

Demgemäß war - wie zu Punkt II des Spruchs - zu entscheiden.

Bei diesem Ergebnis mußte auf die übrigen Beschwerdeeinreden nicht mehr eingegangen werden.

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