VfGH V29/82

VfGHV29/8215.6.1984

Wahlordnung für die Durchführung der Wahlen der Kammerorgane der Kammer der Wirtschaftstreuhänder; §32 gesetzwidrig; Einspruchsmöglichkeit gegen das Wahlergebnis im Wirtschaftstreuhänder-Kammergesetz nicht eingeräumt

Normen

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art83 Abs2
B-VG Art139 Abs1 / Sachentscheidung Wirkung
B-VG Art144 Abs1 / Instanzenzugserschöpfung
VfGG §33
VfGG §82 Abs1
Wirtschaftstreuhänder-KammerG §16 Abs3
Wirtschaftstreuhänder-KammerG §17 Abs3 Wirtschaftstreuhänder-KammerwahlO §32
B-VG Art18 Abs1
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art83 Abs2
B-VG Art139 Abs1 / Sachentscheidung Wirkung
B-VG Art144 Abs1 / Instanzenzugserschöpfung
VfGG §33
VfGG §82 Abs1
Wirtschaftstreuhänder-KammerG §16 Abs3
Wirtschaftstreuhänder-KammerG §17 Abs3 Wirtschaftstreuhänder-KammerwahlO §32

 

Spruch:

§32 der Wahlordnung für die Durchführung der Wahlen der Kammerorgane der Kammer der Wirtschaftstreuhänder, beschlossen in der Sitzung des Kammertages der Kammer der Wirtschaftstreuhänder am 21. Jänner 1959, genehmigt vom Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau mit Erlaß vom 11. Mai 1959, Z 152.443-IV/20/59, idF des Kammertagsbeschlusses vom 11. Dezember 1971 (kundgemacht im Amtsblatt der Kammer der Wirtschaftstreuhänder Nr. 2/72), genehmigt mit Erlaß des Bundesministeriums für Handel, Gewerbe und Industrie vom 17. Jänner 1972, Z 143.909-II/24/71 (kundgemacht im Amtsblatt der Kammer der Wirtschaftstreuhänder Nr. 5/72), wird als gesetzwidrig aufgehoben.

Der Bundesminister für Handel, Gewerbe und Industrie ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. Am 19. April 1980 fand die Wahl des Vorstandes der Kammer der Wirtschaftstreuhänder statt, zu der die wahlwerbenden Gruppen

Liste der Österreichischen Gesellschaft der Wirtschaftstreuhänder für die Wahlkreise Wien, NÖ, Bgld., OÖ, Sbg., Ktn. und Vbg.;

Bürgerliche Liste steirischer Wirtschaftstreuhänder (in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft der Wirtschaftstreuhänder) für den Wahlkreis Stmk.;

Vereinigte Bürgerliche Liste der Wirtschaftstreuhänder Tirols für den Wahlkreis Tir.;

Vereinigung Österreichischer Wirtschaftstreuhänder für die Wahlkreise Wien, NÖ-Bgld., OÖ, Vbg. Sbg. Ktn. und Stmk;

Vereinigung Tiroler Wirtschaftstreuhänder für den Wahlkreis Tir.,

welche sich gemäß §30 Abs3 der Wahlordnung für die Durchführung der Wahlen der Kammerorgane der Kammer der Wirtschaftstreuhänder unter der Kurzbezeichnung "gemeinsamer Wahlvorschlag" zusammengeschlossen hatten, und die Interessengemeinschaft für unabhängige Standespolitik der Wirtschaftstreuhänder (künftig: Interessengemeinschaft) Wahlvorschläge erstatteten.

Aufgrund des Wahlergebnisses wurden alle 11 zu vergebenden Mandate den wahlwerbenden Gruppen mit der Kurzbezeichnung "gemeinsamer Wahlvorschlag" zugesprochen.

Gemäß §32 der Wahlordnung für die Durchführung der Wahlen der Kammerorgane der Kammer der Wirtschaftstreuhänder, beschlossen in der Sitzung des Kammertages der Kammer der Wirtschaftstreuhänder am 21. März 1959, genehmigt vom Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau mit Erlaß vom 11. Mai 1959, Z 152.443-IV/20/59, idF des Kammertagsbeschlusses vom 11. Dezember 1971, kundgemacht im Amtsblatt der Kammer der Wirtschaftstreuhänder Nr. 2/72, genehmigt mit Erlaß des Bundesministeriums für Handel, Gewerbe und Industrie vom 17. Jänner 1972, Z 143.909-II/24/71, kundgemacht im Amtsblatt der Kammer der Wirtschaftstreuhänder Nr. 5/72 (künftig: WO), erhob die Interessengemeinschaft gegen das Wahlergebnis Einspruch bei der Hauptwahlkommission. Mit Bescheid der Hauptwahlkommission für die Wahlen in die Kammer der Wirtschaftstreuhänder vom 27. Mai 1980 wurde dieser Einspruch abgewiesen. Die dagegen erhobene Administrativbeschwerde wurde mit Bescheid des Bundesministers für Handel, Gewerbe und Industrie vom 24. Juli 1980, Z 38.601/3-III/10/80, abgewiesen.

2.1. Gegen diesen Bescheid erhob die Interessengemeinschaft für unabhängige Standespolitik der Wirtschaftstreuhänder Beschwerde an den VfGH.

2.2. Aus Anlaß dieser Beschwerde leitete der VfGH ein Verfahren zur Prüfung mehrerer Bestimmungen der WO ein, hob gemäß Art139 B-VG mit Erk. V4/81 die Abs6 und 7 des §26 der WO idF des Kammertagsbeschlusses vom 11. Dezember 1971 als gesetzwidrig auf und sprach weiters aus, daß der zweite Satz des §32 WO nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird.

Mit Erk. vom 1. Juli 1981, B396/80, wurde sodann der im Anlaßverfahren bekämpfte Bescheid des Bundesministers für Handel, Gewerbe und Industrie vom 24. Juli 1980, Z 38.601/3-III/10/80, wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter aufgehoben, da die gesetzliche Grundlage, auf die die genannte Behörde ihre Zuständigkeit gestützt hatte, durch die Aufhebung der Abs6 und 7 des §26 WO weggefallen war und sich sonst keine Rechtsgrundlage fand, auf die der Bundesminister für Handel, Gewerbe und Industrie seine Zuständigkeit zur Erlassung des angefochtenen Bescheides hätte stützen können.

3. Mit Eingabe vom 15. Juli 1981 begehrte die Interessengemeinschaft beim VfGH die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Beschwerdeerhebung gegen den nun letztinstanzlich gewordenen Bescheid der Hauptwahlkommission für die Wahlen in die Kammer der Wirtschaftstreuhänder vom 27. Mai 1980 und verband damit eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde gegen diesen Bescheid wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und wegen Anwendung rechtswidriger genereller Normen, wobei sie die Aufhebung des angefochtenen Bescheides, im Falle der Abweisung der Beschwerde deren Abtretung an den VwGH begehrte.

4. Bei der Beratung über die Beschwerde sind beim VfGH gegen die Gesetzmäßigkeit des §32 WO Bedenken entstanden. Der VfGH hat daher beschlossen, die amtswegige Prüfung dieser Bestimmung gemäß Art139 Abs1 B-VG einzuleiten.

4.1. Die in Prüfung gezogene Bestimmung lautet:

"Anfechtung des Wahlergebnisses

§32.

Das Wahlergebnis kann von den bevollmächtigten Vertretern (§30 Abs2) binnen einer Woche nach Durchführung der Wahl bei der Hauptwahlkommission angefochten werden. Die Bestimmungen des §26 gelten sinngemäß."

4.2. Ausgehend von der vorläufigen Annahme, daß die Voraussetzungen eines Verordnungsprüfungsverfahrens vorliegen, hat der VfGH die gegen die Gesetzmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Bestimmung entstandenen Bedenken im Einleitungsbeschluß wie folgt umschrieben:

"§4 WO ordnet an, daß zur Durchführung und Leitung der Wahlen in den Kammertag der Kammer der Wirtschaftstreuhäner eine Hauptwahlkommission zu bestellen ist und legt fest, welche Funktionen dieser Hauptwahlkommission bei den Wahlen in den Kammertag obliegen.

Durch §32 WO wird diese Behörde funktionell auch zur Entscheidung über Einsprüche gegen das Ergebnis von Wahlen in den Vorstand der Kammer der Wirtschaftstreuhänder berufen; §32 WO scheint somit einen zuständigkeitsbegründenden Inhalt zu haben. Wie der VfGH mit Erkenntnis VfSlg. 3994/1961 ausgesagt hat, müssen Fragen der Behördenzuständigkeit entweder im Gesetz selbst geregelt sein oder sie müssen in verfassungsrechtlich zulässiger Weise auf ein Gesetz zurückgeführt werden können. Der VfGH hat nun das Bedenken, daß die Berufung der Hauptwahlkommission zur Entscheidung über Einsprüche gegen die Wahlen in den Vorstand der Kammer der Wirtschaftstreuhänder einer gesetzlichen Grundlage entbehrt. §32 WO, als Sitz dieser Regelung, scheint daher mit Gesetzwidrigkeit seines Inhaltes belastet zu sein."

4.3. Der Kammertag der Kammer der Wirtschaftstreuhänder hat folgende Äußerung erstattet:

"1.) §17 Abs1 lita) des Bundesgesetzes vom 10. Dezember 1947, BGBl. Nr. 20/1948, betreffend die Errichtung der Kammer der Wirtschaftstreuhänder (Wirtschaftstreuhänder-Kammergesetz), überträgt dem Kammertag der Kammer der Wirtschaftstreuhänder die Festsetzung verbindlicher Vorschriften, betreffend die Durchführung der Wahlen der Kammerorgane. Diesem gesetzlichen Auftrag ist der Kammertag der Kammer der Wirtschaftstreuhänder zuletzt mit der Beschlußfassung der Wahlordnung in seiner Sitzung vom 21. März 1959 nachgekommen; in der Folge hat dieser Beschluß, insbesondere in der Sitzung des Kammertages vom 11. Dezember 1971 noch Abänderungen erfahren. Diese Beschlüsse des Kammertages der Kammer der Wirtschaftstreuhänder wurden gemäß §17 Abs3 des Wirtschaftstreuhänder-Kammergesetzes dem Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau (nunmehr Bundesministerium für Handel, Gewerbe und Industrie) vorgelegt und von diesem ... ausdrücklich genehmigt.

2.) Es trifft zu, daß §30 Abs1 WO anordnet, daß die Wahl des Vorstandes vom Vorsitzenden der Hauptwahlkommission (§4 WO) geleitet wird; es trifft ferner zu, daß das Wahlergebnis der Wahl des Vorstandes von den bevollmächtigten Vertretern (§30 Abs3 WO) binnen einer Woche nach Durchführung der Wahl bei der Hauptwahlkommission (§4 WO) angefochten werden kann, wobei die Bestimmungen des §26 WO sinngemäß anzuwenden sind.

3.) Zutreffend ist, daß durch diese Bestimmung eine Behördenzuständigkeit, und zwar der Hauptwahlkommission, gegenüber dem Vorsitzenden der Hauptwahlkommission im Falle der Anfechtung der Wahl des Vorstandes begründet wird. Der Kammertag der Kammer der Wirtschaftstreuhänder weist darauf hin, daß diese Bestimmung bei Erlassung der Wahlordnung die Genehmigung der Aufsichtsbehörde gefunden hat, da sie auch der damaligen Auslegung des Art18 B-VG entsprochen hat. Es wird allerdings eingeräumt, daß in der Folgezeit vom VfGH Bedenken dagegen geäußert wurden, daß auf dem Gebiet der Selbstverwaltung ein über eine gesetzliche Regelung hinausgehender Instanzenzug geschaffen werde (VfSlg. 3994/1961, 5438/1966)."

In der Äußerung wird weiters auf den Abschn. III. der Äußerung der Kammer der Wirtschaftstreuhänder verwiesen, die am 10. April 1981 im Verordnungsprüfungsverfahren V4/81 erstattet wurde.

Im Einleitungsbeschluß ist der VfGH von der vorläufigen Annahme ausgegangen, daß die Voraussetzungen eines Verordnungsprüfungsverfahrens vorliegen, insbesondere, daß im Anlaßverfahren die Beschwerde rechtzeitig erhoben wurde. Dies trifft auch zu.

Wie der VfGH mit Erk. VfSlg. 7566/1975 ausgesprochen hat, gebietet der Grundsatz einer verfassungskonformen Auslegung des §82 Abs1 VerfGG, daß die Frist zur Beschwerdeerhebung gegen einen ursprünglich noch nicht rechtskräftigen Bescheid, der ausnahmsweise erst nach seiner Erlassung infolge einer vom Gesetzgeber verfügten Verkürzung des Instanzenzuges zu einem letztinstanzlichen wird, ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Bescheid von Gesetzes wegen zu einem letztinstanzlichen geworden ist. Einem solchen Fall ist eine Verkürzung des Instanzenzuges gleichzuhalten, die durch ein Erk. des VfGH bewirkt wird, welches zufolge Aufhebung einer gesetzlichen Regelung, die bis dahin die Einbringung eines Rechtsmittels an höhere Instanzen erlaubte, eine solche Möglichkeit ausschließt und dadurch einen Bescheid zu einem letztinstanzlichen macht. Dieser Fall liegt hier vor. Die Beschwerde wurde im Anlaßfall somit rechtzeitig erhoben; sie war auch sonst zulässig.

Der VfGH hat die in Prüfung gezogene Verordnungsbestimmung daher offenkundig anzuwenden; da auch die sonstigen Voraussetzungen vorliegen, ist das Verordnungsprüfungsverfahren zulässig.

6. In der Sache selbst hat der VfGH erwogen:

6.1. Die Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit des in Prüfung gezogenen §32 WO sind deshalb entstanden, weil die Hauptwahlkommission bei den Wahlen in den Kammertag der Kammer der Wirtschaftstreuhänder durch diese Bestimmung funktionell zur Entscheidung über Einsprüche gegen das Ergebnis von Wahlen in den Vorstand der Kammer der Wirtschaftstreuhänder berufen wird; auch im Verordnungsprüfungsverfahren ist nichts hervorgekommen, das die Annahme des Einleitungsbeschlusses, der in Prüfung gezogenen Bestimmung komme zuständigkeitsbegründender Inhalt zu, widerlegt hätte. Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 3994/1961, 5438/1966) müssen Fragen der Behördenzuständigkeit entweder im Gesetz selbst geregelt sein oder sie müssen in verfassungsrechtlich zulässiger Weise auf ein Gesetz zurückgeführt werden können. Als Rechtsgrundlage der in Prüfung gezogenen Verordnungsstelle kommt allein §16 Abs3 des Wirtschaftstreuhänder-Kammergesetzes vom 10. Dezember 1947, BGBl. 20/1948, in Betracht. Diese Gesetzesstelle besagt, daß die näheren Vorschriften über die Ausübung des Wahlrechtes sowie über die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen der Kammerorgane der Kammer der Wirtschaftstreuhänder durch die Wahlordnung zu regeln sind. Die Gesetzesstelle enthält nur eine Verordnungsermächtigung hinsichtlich der an anderer Stelle des Gesetzes (§§10, 16 Abs1 und 2, 17 Abs1 lita) getroffenen Anordnungen für die Durchführung von Wahlen. Die Möglichkeit, gegen das Wahlergebnis durchgeführter Wahlen einen Einspruch zu erheben, über den die Hauptwahlkommission zu entscheiden hat, ist weder in §16 Abs3 des Wirtschaftstreuhänder-Kammergesetzes noch - wie bereits gesagt - in einer anderen Stelle des Gesetzes eingeräumt. Die WO läßt demnach über die gesetzliche Regelung hinaus ein solches Rechtsmittel zu. Damit verstößt die in Prüfung gezogene Bestimmung jedoch gegen Art18 Abs2 B-VG. Daß §17 Abs3 des Wirtschaftstreuhänder-Kammergesetzes festlegt, daß die Wahlordnung einer aufsichtsbehördlichen Genehmigung bedarf, worauf in der Äußerung der Kammer der Wirtschaftstreuhänder verwiesen wird, vermag hieran nichts zu ändern (vgl. VfSlg. 9146/1981 und die dort zitierte Rechtsprechung).

6.2. Der Umstand, daß der letzte Satz des §32 WO bereits Gegenstand des Verordnungsprüfungsverfahrens V4/81 war und damals nicht aufgehoben wurde, hindert eine Aufhebung (auch) dieser Bestimmung nicht, weil die nun maßgebenden Bedenken anderer Art sind als die im Erk. V4/81 erörterten, sodaß einer Aufhebung Rechtskraft nicht entgegensteht (vgl. VfSlg. 6296/1970, 7748/1976).

6.3. §32 WO ist somit als gesetzwidrig aufzuheben.

Die Verpflichtung des Bundesministers für Handel, Gewerbe und Industrie zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art139 Abs5 B-VG.

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