VfGH B301/84

VfGHB301/8428.11.1984

B-VG Art144 Abs1; gewaltsames Eindringen von Sicherheitsorganen in eine Wohnung; Zulässigkeit der Beschwerde; keine Hausdurchsuchung iS des Art9 StGG, aber Verletzung des Art8 MRK mangels gesetzlicher Grundlagen der Amtshandlung; Unzulässigkeit der Beschwerde gegen Vorführung und Anhaltung aufgrund eines gerichtlichen Vorführbefehls; keine exzessive Überschreitung des richterlichen Auftrages

Normen

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
EMRK Art8
StGG Art9
HausRSchG §1
HausRSchG §2
StPO §141 Abs2
V-ÜG 1929 ArtII §4 Abs2
VfGG §88
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
EMRK Art8
StGG Art9
HausRSchG §1
HausRSchG §2
StPO §141 Abs2
V-ÜG 1929 ArtII §4 Abs2
VfGG §88

 

Spruch:

I. Die Bf. ist dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien am 21. März 1984 in ihre Wohnung gewaltsam eingedrungen sind, in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art8 MRK verletzt worden.

II. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. U S beantragte mit ihrer auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerde an den VfGH der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, am 21. März 1984 dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien a) gewaltsam in ihre Wohnung ... eindrangen, und b) sie dort festnahmen und zum LG für Strafsachen Wien - zur Zeugeneinvernahme - vorführten, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Hausrecht (Art9 StGG iVm. Art8 MRK) und im Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art5 MRK), verletzt worden zu sein.

1.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und begehrte darin, die Beschwerde kostenpflichtig teils als unzulässig zurück-, teils als unbegründet abzuweisen.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Den Akten AZ 6b Vr 8762/82-Hv 640/83 des LG für Strafsachen Wien ist zu entnehmen, daß der Vorsitzende eines Schöffensenates am 19. März 1984 folgende Verfügung erließ, die der Bundespolizeidirektion Wien fernschriftlich zur Entsprechung zugeleitet wurde:

"Die Zeugin U S, geboren am ... in Wien, österreichische Staatsangehörige, Eltern: W und E, wohnhaft ..., wurde zur Hauptverhandlung am 21. März 1984, 9.00 Uhr, Saal 14, Florianigasse 8, mit Krankenstand wegen einer 'langwierigen Erkrankung' entschuldigt.

Es wird um amtsärztliche Untersuchung und im Falle der Aussagefähigkeit um sofortige Vorführung zum Termin ersucht.

Gerichtsbekannt ist auch eine zweite Adresse: ...

2.1.2. Aus den vorgelegten Administrativakten geht - von der Beschwerde im wesentlichen unbestritten - hervor, daß U S sich nachts zum 21. März 1984 in ihrer Wohnung ... aufhielt: Als nun die mit der Vollziehung der landesgerichtlichen Verfügung betrauten Bezirksinspektoren H R und J G frühmorgens auf ihr Klopfen und Rufen hin nicht eingelassen wurden, öffneten sie die versperrte Wohnungstür gewaltsam, betraten die Wohnräume und trafen dort U S an, die sogleich ihre Vernehmungstauglichkeit - aus gesundheitlichen Gründen - in Abrede stellte. Der daraufhin von den Beamten telefonisch verständigte Polizeiamtsarzt traf um 7 Uhr 45 ein und erklärte die Vorgeladene nach medizinischer Prüfung und Würdigung aller maßgebenden Umstände ausdrücklich für "vorführfähig". Dessen ungeachtet konnte die Bf. - die nach wie vor auf ihrem Standpunkt beharrte, sie sei nicht ausgehfähig - nur unter Androhung von Brachialgewalt dazu bestimmt werden, den beiden Sicherheitsorganen zu folgen, um ihrer Zeugenpflicht Genüge zu tun.

2.2.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für Hausdurchsuchungen der Sicherheitsorgane aus eigener Macht (zB VfSlg. 7943/1976, 8680/1979), aber auch für sonstiges behördliches Eindringen in eine Wohnung zutrifft, sofern es unter Gewaltanwendung vor sich geht. Doch können gerichtlichen Anordnungen entsprechende Amtshandlungen der Verwaltungsorgane niemals als Verwaltungsakte iS des Art144 B-VG qualifiziert werden (VfSlg. 6815/1972, 7203/1973, 9388/1982 uva.).

2.2.2. Bei der gerichtlichen Verfügung vom 19. März 1984 (Punkt

2.1.1.), auf die sich die bel. Bundespolizeibehörde zur

Rechtfertigung ihres Vorgehens beruft, handelt es sich um einen

Vorführbefehl, dessen Wirksamwerden - nach seinem klaren,

unmißverständlichen Wortlaut ("... amtsärztliche Untersuchung und im

Falle der Aussagefähigkeit ... Vorführung ...") - vom ungewissen

Eintritt einer Bedingung abhing, nämlich von der

polizeiamtsärztlichen Feststellung der Vernehmungsfähigkeit der

Vorzuführenden. Bis dahin war also - unabhängig von der Frage, ob das

LG überhaupt berechtigt war, sich der Beurteilung des einzuholenden

ärztlichen Gutachtens durch Delegierung dieser Aufgabe an

Polizeiorgane zu entziehen - ein rechtswirksamer (und damit zu

vollziehender) Vorführungsbefehl (noch) nicht erlassen.

Demgemäß kam die gerichtliche Anordnung vom 19. März 1984 (Punkt 2.1.1.) und damit zugleich die Bestimmung des §2 HausrechtsG, RGBl. 88/1862, - welche die Vornahme einer Hausdurchsuchung zum Zweck der Strafgerichtspflege durch Sicherheitsorgane aus eigener Macht zuläßt, wenn gegen "jemanden ein Vorführungs- oder Verhaftbefehl erlassen ... wird" (s. auch §141 Abs2 StPO) - als Rechtsgrundlage der hier erörterten ersten Phase der bekämpften Amtshandlung (= Eindringen in die Räumlichkeiten) nicht in Betracht. Denn damals stand das ärztliche Gutachten nach dem zu Punkt 2.1.2. Gesagten noch aus, die Feststellung einer - die Vorführung ausschließenden - Vernehmungsunfähigkeit der Bf. lag durchaus im Bereich des Möglichen.

2.2.3. Aus all dem folgt, daß die Beschwerde - da ein administrativer Instanzenzug fehlt und auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen - zulässig ist, soweit sie sich gegen das (durch Gerichtsbefehl ungedeckte) Eindringen der Sicherheitsorgane in die Wohnung, und zwar noch vor dem Feststehen der Vorführtauglichkeit der Betroffenen, wendet.

2.3.1.1. Unter Unverletzlichkeit des Hausrechts iS des von der Bf. relevierten Grundrechts des Art9 StGG ist (nur) der Schutz gegen willkürliche Hausdurchsuchungen zu verstehen (VfSlg. 872/1927, 3847/1960, 3967/1961 uva.).

2.3.1.2. Als "Hausdurchsuchung" definiert §1 HausrechtsG, RGBl. 88/1862, eine "Durchsuchung der Wohnung oder sonstiger zum Hauswesen gehöriger Räumlichkeiten". Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH ist für das Wesen einer Hausdurchsuchung charakteristisch, daß nach Personen oder Sachen, von denen unbekannt ist, wo sie sich befinden, gesucht wird (vgl. VfSlg. 1906/1950, 5080/1965, 5738/1968, 6528/1971, 6553/1971, 8668/1979, 9766/1983). Ein bloßes Betreten einer Wohnung, etwa um zu sehen, von wem sie bewohnt wird (VfSlg. 1906/1950, 6528/1971), oder zur Feststellung der Räume nach Größe, Zahl und Beschaffenheit (VfSlg. 2991/1956), ist nicht als Hausdurchsuchung zu beurteilen.

2.3.1.3. Da die beiden einschreitenden Beamten laut ihrer unbedenklichen schriftlichen Meldung von der Anwesenheit der Bf. in der in Rede stehenden Wohnung wußten und überzeugt waren, dort also keine "Suche" (nach U S) veranstalteten, wie sie nach der ständigen Judikatur des VfGH für eine "Hausdurchsuchung" unerläßlich ist, kann eine Verletzung des Art9 StGG keinesfalls vorliegen.

2.3.2.1. Allerdings greift das von der Bf. gleichfalls relevierte Grundrecht nach Art8 MRK - jedenfalls im hier allein maßgebenden Zusammenhang - über den Schutzbereich des Art9 StGG hinaus, indem es unabhängig von den Bedingungen einer behördlichen Hausdurchsuchung "jedermann ... (den) Anspruch auf Achtung ... seiner Wohnung (des Hausrechts - s. VfSlg. 8461/1978) ..." gewährleistet (Abs1 des Abs8 MRK) und den "Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts" nur unter taxativ umschriebenen Voraussetzungen gestattet (Abs2 des Art8 MRK). So muß ein derartiger Eingriff zum ersten gesetzlich vorgesehen sein und zum zweiten eine Maßnahme darstellen,

"die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."

2.3.2.2. Eine gesetzliche Grundlage für den hier beschwerdeverfangenen Eingriff schon iS der ersten Voraussetzung des Art8 Abs2 MRK besteht aber nicht.

Wohl hatte es im Bericht der Sicherheitsorgane, anscheinend im Blick auf ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929, BGBl. 393, ganz allgemein und ohne stichhältige Begründung geheißen, zur Zeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sei die Gefahr eines Unfalles (in der Wohnung) "nicht auszuschließen" gewesen. Die bel. Beh. hielt diese unbelegt gebliebene Behauptung (der Unfallsgefahr) in ihrer Gegenschrift aber gar nicht mehr deutlich aufrecht. Auch kann nach der gesamten Aktenlage von einer damals vertretbar und ernstlich anzunehmenden konkreten Gefahr für die körperliche Sicherheit der Wohnungsbenützer überhaupt nicht die Rede sein. Allein schon deshalb scheidet ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929, BGBl. 393, als Rechtsgrundlage des hier bekämpften Verwaltungsaktes von vornherein aus.

2.3.2.3. Bei all dem ist festzuhalten, daß die Bf. durch den bekämpften, nach Art und Zweckbestimmung ihr Hausrecht mißachtenden behördlichen Zwangsakt, nämlich das gewaltsame Eindringen in die versperrte Wohnung gegen den erkennbaren Willen der Wohnungsberechtigten, in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art8 MRK verletzt wurde.

Aus diesen Erwägungen war spruchgemäß (s. Abschn. I) zu erkennen.

2.4.1. Hingegen mußte die übrige - gegen weitere behördliche Zwangsakte, und zwar die Vorführung und die damit verbundene Anhaltung der Bf., gerichtete - Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen werden. Denn diese Amtshandlungen, die zeitlich der Feststellung der Aussage(Vorführ)fähigkeit der geladenen Zeugin nachfolgten, hatten einen damals schon rechtswirksamen gerichtlichen Vorführbefehl zur Grundlage (s. hiezu Punkt 2.2.2.).

Sie sind damit - einschließlich ihrer in der Beschwerdeschrift behaupteten Modalitäten - dem LG für Strafsachen Wien, von dem dieser Befehl ausging, zuzurechnen und - als ausschließlich in Vollziehung eines Aktes der Gerichtsbarkeit ergangene (Zwangs-)Maßnahmen - der Anfechtung vor dem VfGH entzogen (zB VfSlg. 8627/1979).

2.4.2. Eine exzessive Überschreitung des richterlichen Auftrages, die allerdings von der bel. Verwaltungsbehörde zu verantworten wäre, ist hier keinesfalls in Betracht zu ziehen (VfSlg. 6157/1970, 6829/1972, 8248/1978 ua.), wenn bedacht wird, daß die Anhaltung der Bf. nach der Aktenlage nur bis 9 Uhr des 21. März 1984 (Beginn der gerichtlichen Hauptverhandlung) dauerte (vgl. VfSlg. 5012/1965, 9585/1982).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte