OLG Wien 7Rs12/97d

OLG Wien7Rs12/97d3.3.1997

Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichtes Dr. Hellwagner (Vorsitzender), die Richter des Oberlandesgerichtes Dr. Meinhart und DDr. Huberger als beisitzende Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Manuela Hafner und Amtsdirektorin Ilse Maurer-Binder (aus dem Kreis der Arbeitgeberinnen) in der Sozialrechtssache der Klägerin K***** N*****, dzt ohne Beschäftigung, A-***** Wien, *****, vertreten durch Dr. Hannes Füreder, Rechtsanwalt, A-1010 Wien, Dominikanerbastei 10, wider die beklagte Partei SOZIALVERSICHERUNGSANSTALT DER GEWERBLICHEN WIRTSCHAFT, A-1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vertreten durch Mag. Andrea Kronberger, A-1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, wegen Waisenpension, infolge Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 3.6.1996, 3 Cgs 273/93w-59, nach mündlicher Berufungsverhandlung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Berufung wird n i c h t Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 2.9.1991 lehnte die beklagte Partei den Antrag der am 19.8.1966 geborenen Klägerin vom 30.10.1990 auf Zuerkennung einer Waisenpension gem § 138 iVm § 128 GSVG mit der Begründung ab, die Klägerin stünde weder in Schul- oder Berufsausbildung noch sei die Klägerin seit Vollendung des 18. Lebensjahres erwerbsunfähig.

Die Klägerin begehrte die Gewährung der Waisenpension dem Stichtag gestützt auf das Vorbringen, bereits vor Erreichen des 18. Lebensjahres wegen Drogenabhängigkeit mit Krankheitswert zu keiner geregelten Erwerbstätigkeit fähig zu sein. Auch nach Erreichen des 18. Lebensjahres habe die Klägerin die Erwerbsfähigkeit nicht mehr erlangt - dies zufolge der Erkrankung und mangelnder Einordenbarkeit im Arbeitsmilieu. Weiters (ON 48 [Protokoll vom 11.12.1995]) habe die Klägerin einen Rückfall erlitten. Nie sei mit ihr eine Therapie durchgeführt worden. In der Haft habe nur ein kalter Entzug stattgefunden. Nach der Haftentlassung sei die Klägerin wieder rückfällig - aber nie arbeitsfähig - geworden.

Die beklagte Partei bestritt, beantragte Klagsabweisung und wandte ein (ON 3), die Klägerin sie nicht als dauernd erwerbsunfähig anzusehen. Es sei keine körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung feststellbar gewesen, welche die Klägerin vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließe.

Das Erstgericht wies - ausgehend von nachstehenden Feststellungen - das Klagebegehren ab.

Die am 19.8.1966 geborene Klägerin ist eheliche Tochter des am 15.1.1986 verstorbenen, bei der Beklagten versichert gewesenen A***** R***** W*****. Ihr Familienname wurde mit Wirksamkeit vom 26.8.1972 mit Bescheid des Amtes der Wiener Landesregierung vom 25.8.1997, Z. MA 61/ll-W 123/72, in N***** geändert.

Laut neurologisch-psychiatrischem Teilgutachten bestand bei der Klägerin seit etwa 1981 eine Suchtgiftabhängigkeit. Der neurologische Befund war im November 1991 und im Juni 1993 normal.

Der internistische Befund der Klägerin ergab eine Schilddrüsenvergrößerung sowie eine HIV-Infektion, doch besteht keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Auch für die Zeit seit dem 18. Lebensjahr der Klägerin ist eine Behinderung der Klägerin, die dieses Kalkül unterschreitet, aus den vorliegenden Befunden nicht abzuleiten. Die Krankheitsangaben lassen gleichfalls nicht auf wesentliche Leidenszustände in dieser Zeit schließen.

Klinisch-psychologisch beurteilt, besteht bei der Klägerin eine Charakterneurose mit leichter affektiver Hemmung. Es bestehen keine Zeichen einer akuten oder abgelaufenen Psychose. Psychoorganische Persönlichkeitsveränderungen im Sinne eines organischen Psychosyndroms sind nicht nachweisbar.

Für die Arbeitsfähigkeit besteht - arbeitspsychologisch beurteilt - keine Einschränkung.

Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht ist die Klägerin für alle leichten und mittelschweren Arbeiten in jeder Körperhaltung in der üblichen Arbeitszeit mit den üblichen Unterbrechungen geeignet. Sie ist unterweisbar, nicht in Fabriksmilieu einordenbar, Akkord- und Fließbandarbeiten und Arbeiten unter besonderer Streßbelastung scheiden für sie aus.

Bei der Klägerin steht als psychiatrisches Störungsbild vorrangig eine dissoziale Persönlichkeitsstörung im Vordergrund. Im Rahmen dieser Störung kam es zu einer Drogenabhängigkeit von mehreren Suchtgiften, die vorwiegend den Opiat-Typ inkludierte. Hinweise auf psychoorganische Veränderungen durch die Drogenabhängigkeit, aber auch durch die HIV-Infektion finden sich nicht; ebenso nicht für eine Minderbegabung oder auf das Vorliegen einer Psychose.

Die bei der Klägerin faßbare Polytoxikomanie (Drogenabhängigkeit von mehreren Suchtmitteln), die vorwiegend eine Heroinabhängigkeit ist, dürfte seit dem 23. Lebensjahr der Klägerin bestehen; davor kam es zu wahlweisem und teilweise auch regelmäßigem Cannabiskonsum. Die Drogenabhängigkeit der Klägerin wurde nie behandelt; es erfolgten teilweise Selbstentzüge oder Entzüge durch Inhaftierungen. Die Entzugssymptomatik war relativ leicht - nie so ausgeprägt, daß eine stationäre Behandlung notwendig war.

Aus der Drogenabhängigkeit der Klägerin resultiert keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit.

Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit durch Drogenabhängigkeit können drei Bereiche betreffen, nämlich die psychoorganischen Veränderungen durch den akuten Drogenkonsum, chronische psychoorganische Veränderungen im Sinne einer drogenbedingten Schädigung und die soziale Beeinträchtigung durch die Beschaffungsnotwendigkeit.

Bei der Klägerin finden sich in keinem dieser Bereiche gravierende Einschränkungen.

Es können keine Phasen exzessiven Drogenkonsums mit Ausbildung eines exogenen Reaktionstyps (also psychische Störungen, die durch die Akutwirkung der Droge Arbeitsunfähigkeit bedingen würden) festgestellt werden.

Weder in den psychologischen Tests noch in den neurologischen Befunden finden sich Hinweise auf eine gravierende psychoorganische Dauerschädigung; es finden sich auch keine Hinweise darauf, daß die Klägerin einen derart massiven Drogenmißbrauch betrieben hätte, daß sie längere Zeit durch immer wieder auftretende Entzugserscheinungen und durch die Einengung auf die Beschaffung der Drogen so in ihren Aktivitäten beeinträchtigt oder fixiert gewesen sei, daß sie deshalb keine Arbeitstätigkeit hätte durchführen können.

Aus der Drogenabhängigkeit allein ist daher keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin feststellbar. Bei ihr steht im Vordergrund die dissoziale Persönlichkeitsstörung, deretwegen die Klägerin keinerlei Arbeitstätigkeit durchgeführt hat und sich auch nicht um Arbeit bemühte. Das ist eine krankheitswertige Störung, deren Wesen die Schwierigkeit der Eingliederung in den Arbeitsmarkt ergibt, und die durch die Nichterfüllung sozialer Normen charakterisiert ist. In der Störung kann eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin gesehen werden. Verstärkt wird diese auch durch die Drogenabhängigkeit der Klägerin und durch ihr Wissen um eine HIV-Infektion. Das stellt sicher ein Belastungsmoment dar und kann die im Wesen einer dissozialen Persönlichkeit bestehende Arbeitsunwilligkeit noch verstärken.

Dissoziale Persönlichkeiten weisen folgende Störungen auf: Neigung zur Kriminalität, fehlende Integration und fehlende Motivationsarbeit. Die Grenzen zwischen Krankheitswert und Charakterzug sind hier sehr fließend. Einer Krankheit nahe kommt ein derartiger Zustand dann, wenn der Leidensdruck beim Betroffenen ein derartiges Ausmaß erreicht, daß er des Leidensdruckes wegen hilfebedürftig wird und Hilfe sucht. Dies ist aber bei der Klägerin nicht der Fall.

Rechtlich folgerte das Erstgericht, daß der über 18-jährigen Klägerin keine Kindeseigenschaft im Sinn des § 128 Abs 2 Z 2 iVm § 138 GSVG mehr zukomme, weil sie sich weder in einer Berufs- oder Schulausbildung im Sinn des § 128 Abs 2 Z 1 GSVG befinde noch infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig im Sinne des § 128 Abs 2 Z 2 GSVG sei. Mangels derartige Berufsunfähigkeit der Klägerin sei das Klagebegehren abzuweisen gewesen.

Gegen dieses Urteils richtet sich die Berufung der Klägerin wegen unrichtiger und mangelhafter Tatsachenfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagestattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragte, der Berufung nicht Folge zu geben.

Die Berufung ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Tatsachenrüge der Klägerin wendet sich gegen nachstehende Feststellungen als unrichtig:

"Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht ist die Klägerin für alle leichten und mittelschweren Arbeiten in jeder Körperhaltung in der üblichen Arbeitszeit mit den üblichen Unterbrechungen geeignet. Sie ist unterweisbar, nicht in Fabriksmilieu einordenbar, Akkord- und Fließbandarbeiten und Arbeiten unter besonderer Streßbelastung scheiden für sie aus.

Die bei der Klägerin faßbare Polytoxikomanie (Drogenabhängigkeit von mehreren Suchtmitteln), die vorwiegende eine Heroinabhängigkeit ist, dürfte seit dem 23. Lebensjahr der Klägerin bestehen; davor kam es zu wahlweisem und teilweise auch regelmäßigem Cannabiskonsum.

Aus der Drogenabhängigkeit der Klägerin resultiert keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit.

Bei der Klägerin finden sich in keinem dieser Bereiche gravierende Einschränkungen. ... es finden sich auch keine Hinweise darauf, daß die Klägerin einen derart massiven Drogenmißbrauch betrieben hätte, daß sie längere Zeit durch immer wieder auftretende Entzugserscheinungen und durch die Einengung auf die Beschaffung der Drogen so in ihren Aktivitäten beeinträchtigt oder fixiert gewesen sei, daß sie deshalb keine Arbeitstätigkeit hätte durchführen können.

Es können keine Phasen exzessiven Drogenkonsums mit Ausbildung eines exogenen Reaktionstyps (also psychische Störungen, die durch die Akutwirkung der Droge Arbeitsunfähigkeit bedingen würden) festgestellt werden. ... Dies ist aber bei der Klägerin nicht der Fall (erstgerichtliches Urteil Seite 4). Stattdessen wäre festzustellen gewesen: "Bei der Klägerin liegt zumindest seit dem 18. Lebensjahr durchgehend eine krankheitsbedingte dissoziale Persönlichkeitsstörung vor, welche durch traumatische Erlebnisse, Heroinabhängigkeit und Wissen um eine HIV-Infektion noch verstärkt wurde. Die Klägerin ist in ihren Aktivitäten zumindest seit ihrem 18. Lebensjahr im wesentlichen auf die Beschaffung von Drogen eingeengt. Auch die lediglich fallweise ausgeübten Tätigkeiten der Klägerin zeigen, daß sie zur Ausübung einer halbwegs geregelten Berufstätigkeit aufgrund ihrer dissozialen Persönlichkeitsstörungen nicht in der Lage ist."

Unberücksichtigt sei geblieben, daß der Vater der Klägerin ermordet worden sei und weiters, daß der Zustand der Wohnung der Klägerin ein derartiger sei, daß sie aufgrund ihrer dissoziale Persönlichkeitsstörung arbeitsunfähig sei.

Die zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Mangelhaftigkeit des Verfahrens ausgeführte Rüge, es sei nicht berücksichtigt worden, daß der Vater der Berufungswerberin ermordet worden sei, verstößt gegen das auch in Sozialrechtssachen geltende Neuerungsverbot. In keinem der eingeholten Gutachten findet sich ein Hinweis der Klägerin auf diesen neu vorgebrachten Umstand. Diese Berufungsausführungen sind daher unbeachtlich, weil die Beweisrüge nicht vom festgestellten Sachverhalt und den erstinstanzlichen Verfahrensergebnissen ausgeht.

Im übrigen bestand Gelegenheit zur Erörterung der Sachverständigengutachten. Sie sind nicht dadurch entkräftbar, daß in der Berufung die Feststellung eines anderen medizinischen Kalküls - gestützt auf Neuerungen (nicht erörterter Einfluß des Umstandes, daß der Vater ermordet wurde) begehrt wird.

Der Berufung kommt - ausgehend von den erstgerichtlichen Feststellungen - keine Berechtigung zu. In Verbindung mit dem gesamten Akteninhalt hat das Berufungsgericht keine Bedenken gegen die schlüssige und überzeugende Beweiswürdigung des Erstgerichtes. Die im Ergebnis widerspruchsfreien Feststellungen sind daher dem für mängelfrei befundenen Verfahren auch der Berufungsentscheidung zugrunde zu legen.

Die Rechtsrüge ist nicht gesetzmäßig, weil sie nicht vom festgestellten, sondern einem erwünschten Sachverhalt ausgeht (vgl dazu Kodek in Rechberger, ZPO Rz 9 zu § 471). Denn die Berufungswerberin führt zur angestrebten Klagsstattgebung aus, "das Erstgericht wäre bei Zugrundelegung dieser (nicht festgestellten [aber gewünschten] Tatsachen) zum Schluß gelangt, daß die Klägerin noch Kindeseigenschaft gem § 128 Abs 2 Z 2 GSVG besitze, weil sie seit Vollendung des 18. Lebensjahres im Sinn des § 128 Abs 2 Z 2 GSVG infolge Krankheit erwerbsunfähig sei."

Das Erstgericht hat daher zutreffend (§ 2 ASGG, § 500a ZPO) das Klagebegehren abgewiesen.

Der gänzlich unberechtigten Berufung war daher ein Erfolg zu versagen.

Ein Kostenzuspruch gemäß § 77 ASGG kommt für die durch einen Verfahrenshelfer vertretene Klägerin nicht in Betracht, zumal es für das Berufungsverfahren für einen Zuspruch der Billigkeit unter dem Gesichtspunkt besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten mangelt (SSV-NF 1/19, 2/26 u 27 uva).

Der Ausspruch über die Revisionszulässigkeit hatte gemäß § 45 Abs 3 iVm § 46 Abs 3 Z 3 ASGG zu entfallen.

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